Die experimentellen Bedingungen zwischen den vier Probandengruppen unterschieden sich und bildeten jeweils verschiedene Aspekte der Fragestellung ab und wen die Details interessieren, möge sie in der Originalarbeit [1] nachlesen. Folgende Tabelle faßt jedoch die Ergebnisse der vier Teilstudien zusammen:
Man sieht, daß in allen Teilstudien im Vergleich zur Normalgeschwindigkeit bei der Zeitlupenbetrachtung sowohl die wahrgenommene Dauer der Handlung als auch deren wahrgenommene Absichtlichkeit (gleich ob skaliert oder dichotom) teils deutlich und sogar signifikant höher liegt.
Man beachte auch, daß in Studie 4, in der die Probanden wie eine Jury entscheiden sollten, ihnen das Video in beiden Geschwindigkeiten vorgeführt wurde. Um zu prüfen, ob dadurch der zeitlupenverursachte Bias in Richtung einer Absichtswahrnehmung verringert wurde, führten die Autoren getrennte Metaanalysen auf Normalgeschwindigkeit vs. Zeitlupe und auf Normalgeschwindigkeit vs. beide Geschwindigkeiten durch. Eine Bootstrap-Analyse zeigte dann, daß im Vergleich zu simulierten Jurys, die nur das Video in Normalgeschwindigkeit sahen, Jurys, die nur die Zeitlupenversion bzw. beide Versionen sahen, 3,42 bzw. 1,55 wahrscheinlicher (odds) auf Mord ersten Grades (also Absichtlichkeit) erkannten. Der Bias wurde also tatsächlich verringert aber nicht eliminiert!
Videoaufnahmen als Beweismittel sind also problematisch. Aber nicht aus technischen Gründen, sondern wegen der leidigen Neigung des menschlichen Geistes zu Fehlannahmen und verzerrter Wahrnehmung. Im Falle von John Lewis könnte das bedeuten, daß, obwohl der Jury bewußt war, daß die Zeitlupengeschwindigkeit ihre Urteilsbildung verzerren würde und obwohl sie die Aufnahme auch in normaler Geschwindigkeit zu sehen bekommen hatte, die Annahme gerechtfertigt ist, daß sie wahrscheinlich mehr Absicht in Lewis’ Verhalten hineininterpretiert hat, als tatsächlich vorhanden war. Man kann nur hoffen, daß diese Ergebnisse dazu beitragen, das Urteil und die Tat noch einmal in anderem Licht zu betrachten.
Denn wenn die Beurteilung der Absichtlichkeit einer Handlung anhand von Videomaterial über Leben und Tod entscheiden kann, sollte man, so ein Fazit, das wohl aus dieser Studie zu ziehen ist, den Nutzen, den dieses Beweismittel bringen kann, sehr sorgfältig gegen eine mögliche Beeinflussung des Urteilsvermögens derer, die es betrachten, abwägen.
____
Referenzen:
[1] Caruso, E. M., Burns, Z. C., & Converse, B. A. (2016). Slow motion increases perceived intent. Proceedings of the National Academy of Sciences, 113(33), 9250-9255.
[2] Kahneman, D. (2012). Schnelles Denken, langsames denken. Aus dem amerikanischen Englisch von Thorsten Schmidt. Siedler Verlag.
[3] Passarella G (2011) Pa. Justices Mull Showing Jury Slow-Motion Video of Murder. The Legal Intelligencer. Siehe: www.thelegalintelligencer.com/id=1202514497888&slreturn=1. Eingesehen am 8. Juli 2016.
Kommentare (80)