Nein, ich möchte keine neue Serie eröffnen, aber ich fühle mich genötigt, hier mitzuteilen und zugleich zu beklagen, daß zur Zeit und noch bis Samstag in Kiel der neunte „Internationale Kongress zur traditionellen asiatischen Medizin“ (ICTAM IX) stattfindet, wo mit Unterstützung der Philosophischen Fakultät im Audimax der Uni Kiel über die zunehmende Bedeutung traditioneller asiatischer Medizinformen und deren Anwendung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft diskutiert wird. Ich bin zwar ein bißchen erleichtert, daß sich diese Blöße weder die mathematisch-naturwissenschaftliche noch die medizinische Fakultät (letzterer gehöre ich ja inzwischen auch an) gibt, fühle mich aber dennoch zunehmend irritiert von der offenen Esoterik-Affinität der CAU: erst Homöopathie und jetzt DAS.
Im “Vision Statement” zum Kongreß heißt es (übersetzt von mir):
Die asiatische Medizin ist heute eine millardenschwere Industrie. Die asiatischen Medizinen sind eingebunden in komplexe weltweite Netzwerke von Akteuren: Konservatoren, die die veränderlichen Bestände von Wildpflanzen in den asiatischen Bergen beobachten, medizinische Botaniker, die die Substitutionspraktiken von Sammlern und Vermarktern in Asien studieren, politische Akteure, die den Transport von Drogen in europäische Länder kontrollieren oder verhindern, Konzerne, die auf asiatischer Medizin basierende Wirkstoffe ausnutzen wollen, professionelle Gesellschaften, die die asiatisch-medizinische Praxis regulieren wollen. ICTAM VII und VIII fanden in Asien statt (2009 in Bhutan, 2013 in Korea). Der europäische Veranstaltungsort von ICTAM IX wird es uns ermöglichen, eine Bilanz zur asiatischen Medizin zu ziehen und den globalen Fluß medizinischen Wissens, Praktiken und Materialien von einem unterschiedlichen aber gleich wichtigen Standpunkt aus zu untersuchen.
Besonders wichtig dürfte wohl der allererste Satz sein, der ja mit der Wirksamkeit der diversen Praktiken in keinem nennenswerten Zusammanhang steht. Bewiesen ist die (schädliche) Wirkung traditioneller “Medizinen” höchstens auf die Umgebungen, denen die mehr oder weniger arbiträr bestimmten Komponenten für die jeweiligen Prozeduren entrissen werden, sowie auf diverse ihrer Patienten. In einem Artikel der Kieler Nachrichten steht weiters:
Prof. Detlev Ganten, amtierender Präsident des World Health Summit und früher an der Spitze der Charité-Universitätsmedizin, erklärte, er sei ein Verfechter der wissenschaftlichen westlichen Hochleistungsmedizin. “Das sind wichtige Sachen, aber nicht in allen Teilen der Welt.” Medizin müsse die Umwelt eines Menschen erfassen, deren andere Kulturen und Werte, “die genauso richtig sind wie unsere” (Hervorhebung CC)
Das ist freilich unverfälschter Kulturrelativismus und, mit Verlaub, Schwachsinn. Medizin beruht auf den Erkenntnissen der Naturwissenschaften und wenn Medizin aus welchen kulturellen oder traditionellen Gründen oder Werten auch immer nicht mit maximaler Effizienz und Wirksamkeit und also auf Grundlage der besten verfügbaren Belege, Daten und Theorien betrieben wird, dann leiden und sterben Menschen völlig vermeidbarerweise und das ist in meinen Augen grundsätzlich von Übel und moralisch verwerflich! Ich möchte Maître Ganten auch mal hören, wenn er sich auf einer Asienreise eine bakterielle Infektion zuzieht und dann vom dort aufgesuchten „traditionellen Mediziner“, nachdem dieser einen dämoneninduzierten Leber-Chi-Stau „diagnostiziert“ hat, statt Antibiotika Akupunkturnadeln in den Ellenbogen, den Nasenflügel und neben den Bauchnabel und dazu ein Gläschen Bärengalle bekommt. Mal sehen, ob er das dann immer noch „genauso richtig“ findet, wie „westliche Hochleistungsmedizin“.
Um eine Vorstellung vom Ausmaß des dort offenbar zu verhandelnden Irrsinns zu bekommen, habe ich hier einen (von mir übersetzten) Auszug aus dem Tagungsprogramm, Sitzung P 7a/b “Würmer, Dämonen und Götter: Unordnung und Gesundheit im Körper“:
Die indischen und ostasiatischen medizinischen Traditionen verbildlichten die innere Landschaft des menschlichen Körpers als Wohnstätte zahlreicher lebender Wesen. Einige dieser Wesen waren wurmartige Kreaturen, andere dämonischer, noch andere göttlicher Natur. Einige waren gefährliche ätiologische Agenten, wieder andere schutzspendende Wächter. […] In einigen Fällen werden diese eingebildeten Bewohner des Körpers auch von heutigen Praktikern der traditionellen asiatischen Medizin noch diagnostiziert und behandelt. Einige japanische Akupunkteure setzen beispielsweise Behandlungsprotokolle für Kinder ein, die unter leichter Erregbarkeit und exzessivem Weinen leiden, ein Syndrom, das noch immer nach dem (eingebildeten) „kan“-Wurm benannt ist, der nach traditioneller Vorstellung diese Symptome hervorruft. Dieses Panel begrüßt besonders Paper, die sich mit visuellen Repräsentationen von Würmern, Krankheitsdämonen und anderen Wesen, die den Körper bewohnen, befassen sowie Artikel über aktuell verwendete Diagnose- und Behandlungsweisen bei traditionellen Würmern oder Dämonen
Was soll man dazu noch sagen?! Gut, daß angesichts der echten medizinischen Probleme dieser Welt Leute (Wissenschaftler?) offenbar Zeit und Geld haben, sich mit zusammenphantasierten und wirkungslosen aber immerhin traditionellen Behandlungsmethoden für ausgedachte Krankheitserreger zu befassen. Da wirkt auch die Sitzung P8 mit dem Titel „Politisch Korrekt: Bestimmung von wissenschaftlicher Wahrheit und Legitimität“ eher wie ein Alibi. Insbesondere, wenn gleich der erste Satz der Beschreibung lautet (Übersetzung von mir):
„Die Frage, was “echte” Wissenschaft ist und wer das Recht hat, zu entscheiden, was legitime und was illegitime wissenschaftliche Praxis ist, ist eingebettet in die politischen Ökonomien von (Post-)Kolonialismus und Krieg“
Klar, wenn man Wahrheit als kontingentes, fakultatives und der gerade genehmen Ideologie in jedem Fall unterzuordnendes Konzept auffaßt, dann kann man das so sehen. Wenn man aber tatsächlich an Wissenschaft (und ihrem Einsatz zum Wohle aller) interessiert ist, dann gilt notwendig das als legitim, was funktioniert, das, was belegt ist, wofür es Evidenz (≠ Anekdoten) gibt und zwar egal, ob es ideologiekonform oder politisch korrekt ist. Für TCM & Co. gibt es keine haltbaren Belege. Null. Nada. Zilch. Und das ist nicht die Schuld der Kolonial-, Imperial- und sonstiger –isten, sondern hat damit zu tun, daß die Grundannahmen (Chi, Meridiane, Dämonen, Götter etc.) für diesen Mumpitz von vorneherein und schon immer, äh, sagen wir sehr viel mit den exkretorischen Produkten männlicher Kühe gemein haben.
Weiter heißt es (übersetzt von mir):
Dieses Panel legt viele verschiedene Bedeutungen von Wissenschaft und Medizin frei, während es sich die Frage stellt, wie verschiedene politische Bedingungen das Werden und Vergehen von Legitimität und Wahrheit verzeichnet haben und noch verzeichnen. 1 Modi (sic) sprach darüber in seinem Vortrag für die UN Generalversammlung am 27. September 2014 im Rahmen seiner Petition für die Einrichtung eines Internationalen Tages des Yoga, den die UN im Dezember beschloß. (gibt es wirklich, Anm. CC)
1 Modi? Ja, genau dieser eine Modi, dessen Regierung mit ihrer Anpreisung von Kuhstuhl-Slushies gerade einer anderen Form von Bullshit das Wort redet.
Das Tagungsprogramm enthält darüber hinaus noch viele weitere überaus fragwürdige Punkte (“Onkologie und chinesische Medizin: Unterstützung von Krebspatienten während Chemo und Radiatio”, “Schädelakupunktur nach Yamamoto” etc.) und ist so gar nicht geeignet, den Eindruck zu erwecken, als könne die laut Vision Statement zu ziehende Bilanz zur asiatischen Medizin auch lauten, daß sie nutz- und wertlos ist, in dem Maße, in dem sie auf Evidenzbasiertheit, klinische Studien, Wirknachweise und auf naturwissenschaftlichen Prinzipien und Naturgesetzen aufbauende Theorien zu Gesundheit und Krankheit verzichtet. Und daß sie gefährlich und schädlich ist, wenn sie anstelle von erwiesenermaßen wirksamen Verfahren bei Patienten zur Anwendung kommt und wenn für ihre “Wirkstoffe” Pflanzen und Tiere gewildert, gequält oder bis an den Rand der Ausrottung (oder darüber hinaus) getrieben werden.
Ich glaube auch nicht, daß man das Wort “traditionell” in “traditioneller asiatischer Medizin” kritisch hinterfragen wird, obwohl es synonym mit dem Verzicht auf moderne, zeitgemäße Erkenntnisse zu Gunster mythologischer, “althergebrachter” (oder, im Falle von TCM, “pseudoalthergebrachter”) Konzepte zu sein scheint. Dabei ist es doch gleichgültig, wie lange schon man/mensch etwas Falsches, Dummes tut, es bleibt doch falsch und dumm; sei es das Rauchen getrockneter Pflanzenteile, das Opfern von Menschen um den jeweils angesagten Sonnengott gnädig zu stimmen oder die Einnahme geriebenen Nashornhorns gegen Potenzprobleme. So ist “Tradition” als Antithese von Fortschritt zu verstehen, der gerade in der Medizin, die sich in rasantem Tempo an immer neue Forschungsergebnisse anpassen muß, von zentraler Bedeutung ist. Bezeichnenderweise taucht das Wort “progress” (Fortschritt) auch in keinem einzigen der über 50 Veranstaltungstitel des Kongresses auf.
Mir scheint diese ganze wohlfeile Bauchpinselei der “traditionellen Medizinen” auch antiemanzipatorisch zu sein, indem ihr dadurch eine Legitimation suggeriert und jeglicher Impuls, sich zu hinterfragen, sich als verbesserbar wahrzunehmen, verhindert wird. Durch einen dadurch ausbleibenden Entschluß zur Modernisierung, zur Adaptierung evidenzbasierter Verfahren, zur Verwerfung mythologischer / religiös erklärter Krankheitsauffassungen wird aber einer extrem großen Anzahl an (kranken) Menschen, die sich, meist mangels Alternative auf diese traditionellen “Medizinen” verlassen müssen, die Chance genommen, irgendwann einmal Zugang zur für ihr Leiden bestgeeigneten Behandlungsmethode zu erhalten.
Ich weiß, ich weiß, Traditionen sind vielen Menschen sehr wichtig und auch ich kenne schöne Traditionen und mag das Gefühl von Vertrautheit und Geborgenheit, das sie vermitteln können. Doch ich kann es nur immer wieder wiederholen: Tradition ist kein Wert an und für sich, verdient keinen staatlichen Schutz, hat kein Anrecht auf Respekt derer, die diese Tradition nicht teilen. Nichts ist nur deshalb besser (oder schlechter), weil es traditionell ist und Sätze zur Verteidigung von Tradition wie “das haben wir immer/noch nie so gemacht” sollten keinerlei Gewicht haben, schon gar nicht in der Medizin.
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