Im ersten Teil dieser Serie hatte ich ein paar zentrale Konzepte der Begutachtung auf Aktivitätenebene (BAE), darunter die Hierarchie der Interpretationsebenen eingeführt, in diesem Teil soll es um die Rolle des Sachverständigen und die Anforderungen, die an ihn und eine BAE zu stellen sind.

Wir hatten gesehen, daß eine BAE hilfreich ist, wenn sich

„die Frage [stellt], wie, durch welche Aktivität und welchen Akteur ist die Spur entstanden, ist das analysierte Material dorthin gelangt, von wo es gesichert wurde?

wenn sich also die Frage nach dem Kontext der Spurenentstehung stellt. Wer aber kann und soll diese Frage beantworten? Das Gericht? Die Polizei? Ein Rechtsmediziner? Obwohl es immer noch Kollegen aus meinem Fachbereich gibt, die sich mit diesen Fragen nicht befassen können oder wollen (sie teilweise sogar für unsinnig oder a priori unbeantwortbar halten), besteht inzwischen weitestgehender Konsens, daß diese Aufgabe den Sachverständigen für forensische Molekularbiologie (SVfMB), uns, zufällt. Die gesamte Forschung (z.B. in meinem Labor – aber auch inzwischen Empfehlungen und Richtlinien, s. Folge 3) zur Begutachtung biologischer Spurenbilder auf Aktivitätenebene (engl. „activity level evaluation“) und zum in diesem Kontext so wichtigen Phänomen DNA-Transfer, -Prävalenz, -Persistenz und -Wiedergewinnung (engl. TPPR), seinen Voraussetzungen, Limitationen, Mechanismen, Permutationen, Abhängigkeiten und Bedingungen, stammt aus unserem wissenschaftlichen Feld. Eine (nicht mehr aktuelle aber gerade aktualisiert werdende) detaillierte Übersicht über die verfügbaren relevanten Studien zu TPPR in Form einer Datenbank heißt „DNA-TrAC“ und wurde und wird von (meiner damaligen Doktorandin) Annica Gosch und mir weltweit frei zur Verfügung gestellt. Sie wird von der International Society for Forensic Genetics zur Nutzung empfohlen:

The following scientific projects are endorsed by the ISFG Quelle – https://www.isfg.org/Links

Es ist also plausibel und auch ich bin überzeugt, daß die Aufgabe zur BAE den SVfMB zufällt und daß wir uns nicht “davor drücken” sollten, weil die Durchführung einer BAE lege artis einen wichtigen Beitrag zur Wahrheitsfindung darstellen und helfen kann, Fehlurteile zu vermeiden. Wenn wir es aber tun, müssen wir es richtig tun!

Was der SVfMB leisten kann

Wenn eine BAE beauftragt wird oder, was oft passiert, sich in einer Gerichtssituation ad hoc die Notwendigkeit ergibt, den Enstehungskontext eines biologischen Spurenbilds zu diskutieren, kommt dem SVfMB eine entscheidende Rolle zu.

Besonders wichtig ist, das Gericht und andere Prozessbeteiligte dafür zu sensibilisieren, daß eine BAE anderen Regeln und Zwängen unterliegt, als eine Begutachtung auf Quellenebene und daß es insbesondere absolut unzulässig ist und zu schweren Beurteilungsfehlern führen kann (so wie hier), wenn auf Sub-Quellenebene berichtete konkrete Zahlen, z.B. die bekannten Wahrscheinlichkeitsquotienten („likelihood ratios“ (LR)), die den Beweiswert einer Spur hinsichtlich ihrer Zuordenbarkeit zu einer bestimmten Person angeben, auf die Aktivitätenebene verschleppt werden. Selbst extrem hohe LR-Werte auf Sub-Quellenebene erlauben keine Aussagen darüber, wie die Spur, aus der das DNA-haltige Material stammt, entstanden ist.

Eine typische Situation liegt vor, wenn beide streitigen Parteien sich darüber einig sind, von welcher Person, z.B. dem Angeklagten, das biologische Material in einer bestimmten Spur stammt, die Verteidigung aber eine alternative Erklärung hat, wie es, statt durch Tatbegehung, an die Stelle, von der es gesichert wurde, gelangt ist. Regelmäßig umfasst eine solche Erklärung eine Übertragung des Materials etwa durch indirekte Kontakte. Die alternative Erklärung wird als „Hypothese der Verteidigung“ bezeichnet. Wenn sie im laufenden Prozess vorgebracht wird, werden vom Gericht häufig folgende zwei Fragen an den SVfMB gestellt:

  1. Ist die Erklärung der Verteidigung überhaupt möglich?
  2. Wenn sie möglich ist, wie wahrscheinlich ist diese Erklärung?

Frage 1 ist durch den SVfMB fast immer zu bejahen bzw. er wird in den seltensten Fällen die Erklärung der Verteidigung kategorisch als unmöglich ausschließen können (wie könnte er auch?).

Frage 2 birgt die Gefahr, einen schweren aber häufig gemachten Fehler zu begehen: den sog. Fehlschluß der Anklage, der in diesem Kontext darin besteht, daß sich der SVfMB nicht zur Wahrscheinlichkeit der Hypothesen (von Anklage oder Verteidigung), nach der das Gericht hier fragt, sondern nur zur Wahrscheinlichkeit des Zustandekommens des gerade diskutierte Spurenbildes unter bestimmten Annahmen äußern darf. Warum das so ist und die Grundlagen des Bayes’schen Theorems, die dieser Unterscheidung zugrunde liegt, werden Thema einer späteren Folge sein. Für heute begnügen wir uns mit der Feststellung, daß der SVfMB das Gericht in diesem Gebiet leiten und vor Fehlschlüssen bewahren kann und sollte, dabei aber die Grenzen seiner eigenen Rolle unbedingt einhalten muß.

flattr this!

1 / 2 / 3 / Auf einer Seite lesen