Bevor es mich zum
Studium in schöne Sachsen-Anhalt verschlagen hat, durfte ich
viele Jahre im hessischen Darmstadt
verbringen, einer Stadt, deren Name bei mir immer noch Heimatgefühle
hervorruft. Eine der eindringlichsten Erinnerungen, die ich an meine
alte Heimat habe, ist das inzwischen sicher nicht mehr existente
Schild einer Umweltgruppe vor dem Stadteingang, welches jeden
Besucher daran erinnerte, dass man mit dem Schritt über die
Stadtgrenze auch in die so genannte „Todeszone“ des Kernreaktors
Biblis eintrat – die Zone, in der im Falle eines atomaren GAUs ein
Großteil der Bevölkerung mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit dem Tode geweiht wäre.

Als Jugendlicher
rationalisiert man solche Eindrücke natürlich irgendwie –
und als langjähriger Kritiker der westlichen Abhängigkeit
von den immer knapper werdenden Ölvorräten habe ich lange
Zeit die Auffassung vertreten, dass Kernkraftwerke wie Biblis für
die Energieversorgung dieses Landes langfristig unverzichtbar sind.
Das nicht auszuschließende, so genannte „Restrisiko“ eines
atomaren Unfalls, so argumentierte ich, könne von der
Gesellschaft in Kauf genommen werden, da deutsche Atomkraftwerke
aufgrund ihrer hohen Sicherheitsstandards generell den Reaktoren aus
damals noch sowjetischer Bauart um ein vielfaches überlegen
seien und das reale Risiko einer mit dem Tschernobyl-GAU
vergleichbaren Katastrophe daher praktisch bei Null liege.

Sicher ist diese
Argumentation auch heute noch stimmig, da deutsche Atomkraftwerke
nach wie vor zu den sichersten der Welt gehören. Aber die „Mär“
vom ultrasicheren deutschen KKW, in dem ein Unfall so gut wie
ausgeschlossen ist, kann ich heute nicht mehr vertreten. Dazu
beigetragen haben eine Reihe von Ereignissen (man denke nur an
Krümmel
und Forsmark)
und Studien (wie die im letzten Jahr erschienene Untersuchung zur
Leukämierate
bei Kindern
) – vor allem aber die gemeinsame Aufklärungsarbeit
von IPPNW und EUROSOLAR gerade zum Thema „Biblis“.

Für alle,
denen diese Abkürzungen nichts sagen, sei kurz erwähnt, dass
es sich beim IPPNW
um eine internationale Ärztevereinigung handelt, deren Ziel die
Aufklärung der Öffentlichkeit über das
Gefahrenpotenzial von Kernenergie und Kernwaffen ist (IPPNW =
International Physicians for the Prevention of Nuclear War).
EUROSOLAR ist
eine europaweit agierende Lobby der regenerativen Energiewirtschaft,
die sich insbesondere für kleine Anlagenbetreiber stark macht.

Beide
Organisationen unterstützen seit Jahren die lauter werdenden
Forderungen nach einer vorzeitigen Abschaltung von Biblis B. Im
Rahmen ihrer Recherchen sind die Experten von IPPNW und EUROSOLAR
immer wieder auf eine Vielzahl an Sicherheitsmängeln gestoßen,
die einem glatt die Haare zu Berge stehen lassen. Viele dieser Mängel
sind in einem neuen, hervorragend gemachten Filmbeitrag mit dem Titel
Biblis
angeklagt
“ im Detail dokumentiert. Einige der wichtigsten
Punkte dieses Filmbeitrags möchte ich nachfolgend kurz anreißen:

1) Obwohl sich der
geschäftige Rhein-Main-Flughafen in unmittelbarer Nähe von
Biblis befindet, ist das Atomkraftwerk nicht ausreichend auf den
Absturz einer großen Passagiermaschine oder eines
Militärtransporters vorbereitet. Neben einer gewissen
Wahrscheinlichkeit für einen fehlerbedingten Absturz muss vor
dem Hintergrund der Terroranschläge vom 11. September auch damit
gerechnet werden, dass ein Absturz in das Reaktorgelände
absichtlich herbeigeführt werden könnte. Gerade Biblis
liegt hier in einer besonders exponierten Stellung, da die
Flugstrecke vom Rhein-Main-Flughafen zum Reaktor so kurz ist, dass
militärische Gegenmaßnahmen im Ernstfall
realistischerweise nicht mehr eingeleitet werden könnten. Auf
den Einschlag eines Flugzeugs in die Reaktorkuppel ist das Kraftwerk
– im Gegensatz zu anderen deutschen KKWs – jedoch nicht
ausreichend vorbereitet, weshalb ein hohes Restrisiko eines daraus
resultierenden Atomunfalls bleibt.

2) Zwei Fachleute,
die selbst jahrelang in Biblis tätig waren, bestätigeten
der IPPNW gegenüber, dass es bei sicherheitskritischen Arbeiten
im Kraftwerk vielfach zu „Schlampereien“ gekommen sei. Einige
dieser abenteuerlichen Geschichten (so sollen in Biblis B unter
anderem komplexe Rohrleitungssysteme mangels passender Ausstattung
mit einem einfachen Zollstock aus dem Baumarkt vermessen worden sein)
wurden inzwischen von offizieller Seite bestätigt. So behauptete
einer der beiden Fachleute, dass viele so genannte „Stempelfelder“
an den Rohrleitungen des Notkühlsystems einfach fehlen würden.
Diese Stempelfelder sind aber enorm wichtig, da an ihnen die Güte
des verwendeten Stahls und damit die Belastungsfähigkeit der
Rohrleitungen abgelesen werden kann. Zu demselben Schluss kam auch
der TÜV Süd nach einer Untersuchung: Etwa 25% aller
Stempelfelder konnten bei einer Kontrolle nicht aufgefunden werden.
Im Ernstfall könnte schon ein einziges durch Überlastung
platzendes Kühlwasserrohr zu einem Unglück führen
– und insgesamt wurden offenbar hunderte Kühlwasserrohre ohne
die erforderlichen Stempelfelder verbaut.

3) Einer der
beiden Fachleute will zudem anhand von Salzablagerungen in den
Kellerräumen des KKW erkannt haben, dass dort schon mehrfach
Wasser gestanden haben muss. Auch dies haben inzwischen sowohl der
TÜV Süd als auch die Betreibergesellschaft RWE indirekt
bestätigt, als sie bekannt gaben, dass in insgesamt drei
tiefliegenden Rohrleitungskanälen Wasseransammlungen
festgestellt werden mussten. Neben jedem dieser Kanäle stehen
aber wichtige Pumpen des Notkühlsystems, die bei einer
Überflutung nicht mehr funktionstüchtig wären. Anonyme
Informanten aus dem Mitarbeiterstab des Kraftwerks haben dem als
Informaten agierendem Fachmann gegenüber ausgesagt, dass der
Rhein bei Hochwasser regelmäßig in die unteren Etagen des
Kraftwerkes eindringen würde – eine Aussage, die RWE bislang
jedoch vehement bestreitet.

4)
Einer der gefährlichsten Vorfälle, die sich in einem
Kernkraftwerk ereignen können, ist der so genannte „Station
Blackout“, ein vollständiger Stromausfall im Kraftwerk. In
einem solchen Fall kann der Reaktor nur noch über den Notstrom
aus den Batterien gesteuert werden. Bereits die Vorstufe eines
“Station Blackout”, der so genannte „Notstromfall“,
soll im Grunde nie eintreten – in Biblis war es jedoch bereits
mindestens einmal soweit: Am 8. Februar 2004 setzte ein schweres
Gewitter die Stromzufuhr zum Kraftwerk außer Gefecht und die
Notgeneratoren sprangen an. Zwei Stunden – so lange kann der
Biblis-Reaktor mit Hilfe des Notstroms „über Wasser gehalten
werden“ bevor es zum gefürchteten „Station Blackout“
kommt. Zum Vergleich: In anderen Kraftwerken liefern die Notsysteme
für bis zu zehn Stunden Strom. Und in Biblis ist selbst das
minimale Notstromsystem offenbar fehlerbehaftet – die IPPNW listet
in ihrem Bericht acht bekanntgewordene Teil- oder Totalausfälle
des Notsystems auf, die sich zwischen 1998 und 2006 ereigneten. Wäre
eines dieser Ausfallereignisse zusammen mit dem Abriss der
Stromversorgung im Februar 2004 eingetreten, hätte das Gewitter
vielleicht schlimmere Konsequenzen nach sich gezogen als die damals
erfolgte Schnellabschaltung.

Dutzende
vergleichbarer Mängel, Gefahrenquellen und Schwachstellen listen
die Experten von IPPNW und EUROSOLAR in ihrem exzellenten Filmbeitrag
Biblis
angeklagt
“ auf. So gilt das Kraftwerk beispielsweise als
unzureichend erdbebensicher – obwohl gerade im Rhein-Main-Gebiet
mit Erdstößen durchaus gerechnet werden muss. Auch soll
der Betreiber gemäß dem Motto „Geiz ist geil“ in den
auf 10 Stunden begrenzten Schichten gering qualifizierte Leiharbeiter
auch für sicherheitskritische Tätigkeiten eingesetzt haben
– eine Praxis, die offenbar in mehreren deutschen Atomkraftwerken
existiert, und die von der Atomaufsicht bereits offiziell kritisiert
wurde.

Wer eine
dreiviertelstunde Zeit erübrigen kann und sich selbst ein Bild
davon machen will, wie es mit der vielzitierten Sicherheit in
deutschen KKWs bestellt ist, dem sei „Biblis angeklagt“ von IPPNW
und EUROSOLAR wärmstens ans Herz gelegt. Die kostenfrei
erhältliche Langfassung des Filmbeitrags – übrigens
musikalisch untermalt von „Altmeister“ Konstantin Wecker –
findet sich auf https://www.ippnw.de/biblis/
und kann dort direkt im Browser angesehen werden.

Nehmen Sie sich
ruhig die Zeit und surfen Sie vorbei – denn dieser Blick hinter die
Kulissen der deutschen Atomwirtschaft rüttelt auf und macht
nachdenklich.

Kommentare (1)

  1. #1 Monika
    4. Februar 2008

    Danke für die interessanten Hintergründe…. und schon treffen wir uns wieder mit der Frage: Wer trägt und wer übernimmt hier Verantwortung? Wer ist verantwortlich wenn tatsächlich etwas passiert? ;-)) Ist die Politik dafür verantwortlich, wenn Menschen unkalkulierbaren Gefahren ausgesetzt werden? Gewinnstreben kontra Moral ??