Doch zurück nach Majak. Am 29. September 1957 – fast 10 Jahre nach der Inbetriebnahme der Anlage – kam es zu einer folgenschweren Explosion. In einem riesigen Tank mit flüssigen radioaktiven Abfällen war das Kühlsystem ausgefallen und nur ein kleiner Funke reichte aus, um die große Katastrophe in Gang zu setzen. Viele Meter hoch soll die Explosionswolke gewesen sein, radioaktive Flüssigkeit regnete auf Tscheljabinsk und seine Bewohner hinab. Ähnlich wie bei der Katastrophe in Tschernobyl sorgten Probleme in der Befehlskette dafür, dass wichtige Entscheidungen erst Stunden zu spät erfolgten und unzählige Menschen der Strahlung viel zu lange Zeit ausgesetzt waren.

Doch die Entscheidungen, welche die sowjetische Führung in den darauffolgenden Tagen traf, gingen weit über das Verschleppen von Evakuierungen oder das Beschönigen der Tatsachen hinaus: Damit das Ausland nichts von dem Zwischenfall in Majak erfuhr, sollte die Explosion verschwiegen, ihre Folgen unkenntlich gemacht werden. Zu diesem Zweck wurden Menschen, denen nichts über die Gefahren des radioaktiven Materials gesagt wurde, in die verstrahlte Zone geschickt um Felder umzugraben, Fahrzeuge und Gebäude abzuwaschen und um die kostbaren Nuklearanlagen zu bewachen. Die Behörden gingen sogar so weit, die schwere Explosion, die noch in mehreren hundert Kilometern zu sehen gewesen sein soll, als “Wetterleuchten” und “Nordlicht” zu verharmlosen.

Quiring zitiert in seinem bewegenden Artikel mehrere überlebende Opfer dieser verbrecherischen Vertuschungsaktion, unter ihren auch Gulschara Ismagilowa aus dem Dorf Tatarisches Karabolka, die als neunjähriges Mädchen zusammen mit ihren Klassenkameraden die verseuchte Ernte im Boden eingraben musste – Kinderarbeiter, bewacht von russischen Soldaten. Die meisten ihrer Freunde von damals, so erinnert sich Ismagilova, starben recht bald an Krebs, die Mädchen, die überlebten, wurden unfruchtbar.

Wäre nicht Schores Medwedjew gewesen – ein russischer Wissenschaftler, der vor Verfolgung durch seine Regierung nach Großbritannien flüchtete – hätte die Welt vermutlich heute noch nicht von der Katastrophe in Tscheljabinsk erfahren, bei der etwa halb so viel radioaktives Material freigesetzt wurde wie beim GAU in Tschernobyl. Trotz dieser erschütternden Erkenntnisse ist Majak heute – unter anderem Namen – noch immer in Betrieb und noch heute werden dort Unmengen von radioaktiven Abfällen unter angeblich höchst unsicheren Umständen gelagert. Interessierte können die Liste mit allen bisher bekanntgewordenen Unfällen rund um Majak auf dem Server der Uni Oldenburg einsehen.

Die Katastrophe von Tscheljabinsk, deren genaue Opferzahlen bis heute noch nicht feststehen, sollten wir aus zwei Gründen nicht vergessen. Zum einen erinnert uns das Unglück an die großen Gefahren des Umgangs mit der Atomkraft. Natürlich wurde in Majak nicht für die zivile Atomkraft gearbeitet, der Unfall ereignete sich jedoch in einer Lagerstätte für atomaren Abfall – und die werden auch für den friedlichen Umgang mit der Kernenergie benötigt. Zum anderen ist der Umgang der sowjetischen Führung mit den Soldaten, Arbeitern und Familien in Tscheljabinsk ein Lehrstück dafür, wie totalitäre Regime mit den Menschen in ihrem Machtbereich umgehen und zu welchen Opfern die Machthaber bereit sind, wenn es ihren eigenen Zwecken dient.

In diesem Sinne kann man sich wohl nur wünschen, dass die “vergessene Stadt” Tscheljabinsk-40, die heute übrigens den Namen Orjosk trägt, möglichst nie wieder in Vergessenheit gerät.

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Kommentare (2)

  1. #1 Marc | Wissenswerkstatt
    18. Februar 2008

    Es ist natürlich wieder ein interessantes Beispiel dafür, wie selektiv unser kollektives Gedächtnis funktioniert. Tschernobyl hat sich uns allen als Chiffre für die Risiken der Kernenergie eingebrannt. Über andere Vorfälle weiß man üblicherweise sehr wenig.

    Insofern: Danke für deinen Beitrag und es ist auch jedesmal wieder wichtig, daran zu erinnern, daß militärische und zivile Nutzung der Kernenergie eng miteinander verzahnt sind.

    Kleine Anmerkung:

    Zitat: “Weniger bekannt ist dagegen die Tatsache, dass sich vor Tschernobyl bereits einmal ein großer Atomunfall in der sowjetischen Machtsphäre ereignet hat…”

    Das ist richtig, allerdings weiß hierzulande heute auch kaum einer, daß bspw. im März 1979 im US-Kraftwerk “Three Mile Island” (Harrisburg) ebenfalls eine (partielle) Kernschmelze stattfand, Radioaktivität entwich und man wirklich um Haaresbreite an einem Unfall der Tschernobyl-Größenordnung vorbeischrammte.

    Nach 1986 konnte man (fast erleichtert?) auf die maroden russischen und kommunistischen (!) AKWs zeigen und täuschte sich nur zu gern darüber hinweg, daß in den USA, Frankreich, Deutschland etc. Reaktoren anderer Bauart (aber mit ähnlichen Risiken!) im Betrieb sind…

  2. #2 Christian Reinboth
    19. Februar 2008

    @Marc: Stimmt, über Three Mile Island könnte man ebenfalls viel schreiben. Ebenso natürlich auch über Frosmark 2006 oder Brunsbüttel 2007. Oder über die vielen Probleme im KKW Biblis, die ich hier schon mal angerissen hatte:

    https://www.scienceblogs.de/frischer-wind/2008/02/willkommen-in-der-todeszone.php

    Insgesamt ist die Liste “kleinerer” Störfälle und potenzieller Großunfälle sehr lang, daher reicht es natürlich nicht immer auf Tschernobyl zu verweisen und zu resümieren, dass die sowjetische Technik halt schlechter war… Ein Grund mehr, ab und zu auch mal an weniger bekannte Zwischenfälle zu erinnern und zu hoffen, dass man den einen oder anderen Leser davon überzeugen kann, dass es in der Geschichte der Nutzung der Atomkraft mehr als nur einen einzigen Störfall gegeben hat…