Manfred Quiring
hat für die WELT vor einiger Zeit einen Blick
zurück ins Jahr 1957
geworfen und über die Hintergründe
des ersten schweren atomaren Unglücks berichtet – einer
Katastrophe, die hierzulande fast unbekannt ist: Der Apokalypse von Tscheljabinsk-40.


Die Kernschmelze im KKW Tschernobyl im Jahr 1986 gilt heute als bislang größter atomarer Unfall in der Geschichte der Kernenergie. Wer alt genug ist, sich an die Tschernobyl-Katastrophe zu erinnern wird wissen, wie scharf damals Umweltschützer, Journalisten und westliche Politiker das Verhalten der sowjetischen Machthaber verurteilten, die alles versuchten, um das Unglück in ihrem Sattelitenstaat geheim zu halten und viele Menschenleben durch eine Politik der Verschleierung und Beschwichtigung aufs Spiel setzten.

Weniger bekannt ist dagegen die Tatsache, dass sich vor Tschernobyl bereits einmal ein großer Atomunfall in der sowjetischen Machtsphäre ereignet hat – ein Unfall, bei dem eine Fläche von der Größe Mecklenburg-Vorpommerns radioaktiv verseucht wurde. Viele Menschen starben, noch mehr Menschen wurden schwerkrank und sind es teilweise heute noch. Heute, viele Jahre nach der Katastrophe von Tscheljabinsk-40, ist es an der Zeit, dass man auch ihre Geschichte erfährt.

Die Kette der Ereignisse, die zu Tscheljabinsk führte, wurde 1945 mit dem US-amerikanischen Atombombenabwurf über den japanischen Städten Hiroschima und Nagasaki angestoßen, die das Zeitalter der atomaren Bewaffnung einläuteten. Dem sowjetischen Machthaber Stalin und seinen Generälen war zu diesem Zeitpunkt bereits klar, dass die Ideologien der beiden sich abzeichnenden Supermächte viel zu unterschiedlich waren, als dass sie in Übereinstimmung gebracht werden könnten. Auch die Amerikaner wussten dies – nicht ohne Grund vermuten viele Historiker heute, dass die amerikanischen Atombombenabwürfe nicht nur ein schnelles Ende des Krieges im Pazifik herbeiführen sollten, sondern auch als Signal an die in Europa immer weiter westwärts vorrückenden russischen Truppen gedacht waren – bis hierher, und nicht weiter.

Stalin war klar, dass sich das strategische Gleichgewicht zwischen den ehemaligen Aliierten nur wiederherstellen lassen würde, wenn auch die Sowjetunion über die Atombombe verfügt. Aus diesem Grund machte der Diktator Druck – und ließ in Rekordzeit die Atomanlage „Majak“ (Leuchtturm) bauen, in der waffenfähiges Plutonium hergestellt werden sollte. Um die Anlage schnell in Betrieb nehmen zu können, errichteten Sklavenarbeiter aus russischen Gulags die Reaktoranlagen sowie Tscheljabinsk-40 – eine ganze Stadt, die den 20.000 Arbeitern von Majak Unterkunft bot, und auf keiner offiziellen Landkarte zu finden war. Ähnlich wie in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern wurden während der Errichtung von Majak und Tscheljabinsk unzählige dieser Sklavenarbeiter durch harte Arbeit und mangelhafte Ernährung bewusst in den Tod geschickt – die ersten Todesopfer des Kalten Krieges, der die Geschichte der Welt in den darauffolgenden 50 Jahren bestimmen sollte.

Die Anlage konnte 1948 in Betrieb genommen werden, 1949 erfolgte die erste Testzündung einer russischen Atombombe, durch die wiederum das atomare Wettrüsten angestoßen wurde. Dabei sorgten die Machthaber in ihrer Gier nach weiteren Bomben immer wieder dafür, dass die notwendigen Sicherheitsvorkehrungen nicht eingehalten wurden, so dass es zu zahlreichen Unfällen mit Freisetzung radioaktivem Materials kam. Atomare Abfälle wurden in Flüsse gekippt oder verbrannt und die Menschen in der Umgebung mussten damit rechnen, nicht viel älter als 40 oder 50 Jahre zu werden, bevor sie an Krebs oder anderen Krankheiten starben.

Auch in Deutschland gab und gibt es übrigens solche Opfer des atomaren Wettrüstens. Um den ständig wachsenden Bedarf des sowjetischen Bruderstaates nach Uran zu decken, ließ die DDR vor allem im Osten Sachsens das begehrte Gestein abbauen. Der radioaktive Staub aus den Bergwerken machte nicht nur viele Arbeiter lungenkrank, auch die Menschen in der Umgebung solcher Bergwerke oder Abraumhalden wurden gesundheitlichen Gefahren ausgesetzt, über die sie von ihrer Regierung bewusst im Dunkeln gelassen wurden (Stichwort: Wismut). Ein wichtiges Thema, das es nicht verdient hat, in einem Nebenabschnitt nur kurz angerissen zu werden, und zu dem ich aus diesem Grund irgendwann sicher noch einen längeren Blogpost verfassen werde.

Doch zurück nach Majak. Am 29. September 1957 – fast 10 Jahre nach der Inbetriebnahme der Anlage – kam es zu einer folgenschweren Explosion. In einem riesigen Tank mit flüssigen radioaktiven Abfällen war das Kühlsystem ausgefallen und nur ein kleiner Funke reichte aus, um die große Katastrophe in Gang zu setzen. Viele Meter hoch soll die Explosionswolke gewesen sein, radioaktive Flüssigkeit regnete auf Tscheljabinsk und seine Bewohner hinab. Ähnlich wie bei der Katastrophe in Tschernobyl sorgten Probleme in der Befehlskette dafür, dass wichtige Entscheidungen erst Stunden zu spät erfolgten und unzählige Menschen der Strahlung viel zu lange Zeit ausgesetzt waren.

Doch die Entscheidungen, welche die sowjetische Führung in den darauffolgenden Tagen traf, gingen weit über das Verschleppen von Evakuierungen oder das Beschönigen der Tatsachen hinaus: Damit das Ausland nichts von dem Zwischenfall in Majak erfuhr, sollte die Explosion verschwiegen, ihre Folgen unkenntlich gemacht werden. Zu diesem Zweck wurden Menschen, denen nichts über die Gefahren des radioaktiven Materials gesagt wurde, in die verstrahlte Zone geschickt um Felder umzugraben, Fahrzeuge und Gebäude abzuwaschen und um die kostbaren Nuklearanlagen zu bewachen. Die Behörden gingen sogar so weit, die schwere Explosion, die noch in mehreren hundert Kilometern zu sehen gewesen sein soll, als “Wetterleuchten” und “Nordlicht” zu verharmlosen.

Quiring zitiert in seinem bewegenden Artikel mehrere überlebende Opfer dieser verbrecherischen Vertuschungsaktion, unter ihren auch Gulschara Ismagilowa aus dem Dorf Tatarisches Karabolka, die als neunjähriges Mädchen zusammen mit ihren Klassenkameraden die verseuchte Ernte im Boden eingraben musste – Kinderarbeiter, bewacht von russischen Soldaten. Die meisten ihrer Freunde von damals, so erinnert sich Ismagilova, starben recht bald an Krebs, die Mädchen, die überlebten, wurden unfruchtbar.

Wäre nicht Schores Medwedjew gewesen – ein russischer Wissenschaftler, der vor Verfolgung durch seine Regierung nach Großbritannien flüchtete – hätte die Welt vermutlich heute noch nicht von der Katastrophe in Tscheljabinsk erfahren, bei der etwa halb so viel radioaktives Material freigesetzt wurde wie beim GAU in Tschernobyl. Trotz dieser erschütternden Erkenntnisse ist Majak heute – unter anderem Namen – noch immer in Betrieb und noch heute werden dort Unmengen von radioaktiven Abfällen unter angeblich höchst unsicheren Umständen gelagert. Interessierte können die Liste mit allen bisher bekanntgewordenen Unfällen rund um Majak auf dem Server der Uni Oldenburg einsehen.

Die Katastrophe von Tscheljabinsk, deren genaue Opferzahlen bis heute noch nicht feststehen, sollten wir aus zwei Gründen nicht vergessen. Zum einen erinnert uns das Unglück an die großen Gefahren des Umgangs mit der Atomkraft. Natürlich wurde in Majak nicht für die zivile Atomkraft gearbeitet, der Unfall ereignete sich jedoch in einer Lagerstätte für atomaren Abfall – und die werden auch für den friedlichen Umgang mit der Kernenergie benötigt. Zum anderen ist der Umgang der sowjetischen Führung mit den Soldaten, Arbeitern und Familien in Tscheljabinsk ein Lehrstück dafür, wie totalitäre Regime mit den Menschen in ihrem Machtbereich umgehen und zu welchen Opfern die Machthaber bereit sind, wenn es ihren eigenen Zwecken dient.

In diesem Sinne kann man sich wohl nur wünschen, dass die “vergessene Stadt” Tscheljabinsk-40, die heute übrigens den Namen Orjosk trägt, möglichst nie wieder in Vergessenheit gerät.

Kommentare (2)

  1. #1 Marc | Wissenswerkstatt
    18. Februar 2008

    Es ist natürlich wieder ein interessantes Beispiel dafür, wie selektiv unser kollektives Gedächtnis funktioniert. Tschernobyl hat sich uns allen als Chiffre für die Risiken der Kernenergie eingebrannt. Über andere Vorfälle weiß man üblicherweise sehr wenig.

    Insofern: Danke für deinen Beitrag und es ist auch jedesmal wieder wichtig, daran zu erinnern, daß militärische und zivile Nutzung der Kernenergie eng miteinander verzahnt sind.

    Kleine Anmerkung:

    Zitat: “Weniger bekannt ist dagegen die Tatsache, dass sich vor Tschernobyl bereits einmal ein großer Atomunfall in der sowjetischen Machtsphäre ereignet hat…”

    Das ist richtig, allerdings weiß hierzulande heute auch kaum einer, daß bspw. im März 1979 im US-Kraftwerk “Three Mile Island” (Harrisburg) ebenfalls eine (partielle) Kernschmelze stattfand, Radioaktivität entwich und man wirklich um Haaresbreite an einem Unfall der Tschernobyl-Größenordnung vorbeischrammte.

    Nach 1986 konnte man (fast erleichtert?) auf die maroden russischen und kommunistischen (!) AKWs zeigen und täuschte sich nur zu gern darüber hinweg, daß in den USA, Frankreich, Deutschland etc. Reaktoren anderer Bauart (aber mit ähnlichen Risiken!) im Betrieb sind…

  2. #2 Christian Reinboth
    19. Februar 2008

    @Marc: Stimmt, über Three Mile Island könnte man ebenfalls viel schreiben. Ebenso natürlich auch über Frosmark 2006 oder Brunsbüttel 2007. Oder über die vielen Probleme im KKW Biblis, die ich hier schon mal angerissen hatte:

    https://www.scienceblogs.de/frischer-wind/2008/02/willkommen-in-der-todeszone.php

    Insgesamt ist die Liste “kleinerer” Störfälle und potenzieller Großunfälle sehr lang, daher reicht es natürlich nicht immer auf Tschernobyl zu verweisen und zu resümieren, dass die sowjetische Technik halt schlechter war… Ein Grund mehr, ab und zu auch mal an weniger bekannte Zwischenfälle zu erinnern und zu hoffen, dass man den einen oder anderen Leser davon überzeugen kann, dass es in der Geschichte der Nutzung der Atomkraft mehr als nur einen einzigen Störfall gegeben hat…