Was muss in einer Gesellschaft eigentlich falsch laufen, wenn ersthaft darüber diskutiert wird, ob man Eltern dafür bezahlen sollte, dass sie ihre Kinder in die Schule schicken?
Was muss ich heute auf Spiegel Online lesen?
Erst war er sich selbst nicht sicher, wie gut die Idee wirklich ist. Michael Hess, Jugendpfleger im nordrhein-westfälischen Oer-Erkenschwick, saß mit einem Schuldirektor zusammen und diskutierte, was man tun kann, wenn Eltern ihre Kinder nicht pünktlich zur Schule schicken. Wenn sie ihnen kein Pausenbrot mitgeben, wenn sie sich jedem Angebot von Schule, Jugendamt und Behörden verweigern – wenn sie sich einfach nicht kümmern.
Hess, der Pragmatiker, fragte: “Wie würde es die Wirtschaft machen?”
Wer seine Kunden nicht erreicht, der muss Anreize schaffen, dachte sich Hess. Mit Kollegen und Freunden diskutierte er die Idee, überzeugte sie und schrieb einen Antrag. Hess nennt es eine “Art Rabattmarkenheft für vernünftiges Verhalten” – die Elternbonuskarte.
Und es geht nicht allein ums Schulschwänzen: Bonusstempel kann es auch geben zum Beispiel für den Gang zur Schuldnerberatung, die Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen oder an Elternsprechtagen. Als Belohnung locken Einkaufsgutscheine in Wert von bis zu 100 Euro.
Auf den ersten Blick eine ziemlich seltsame Idee, denn natürlich würde es “die Wirtschaft” eben nicht so machen. Sicher gibt es Unternehmen, die vorbildliches Verhalten und exzellente Arbeit mit Prämien belohnen, mir ist jedoch kein Betrieb bekannt, in dem Mitarbeiter allein dafür beschenkt werden, dass sie sich nicht destruktiv oder gar kriminell verhalten. Auch die Schaffung wirtschaftlicher Anreize für Kunden ist im Einzelhandel an der Tagesordnung – nicht aber Belohnungen für den Verzicht auf Ladendiebstahl.
Da eine Verletzung der Schulpflicht in Abhängigkeit von Umständen und Landesrecht als Ordnungswidrigkeit oder sogar als Straftat geahndet werden kann, kann von einer Prämie für vorbildliches Verhalten keine Rede sein, einmal ganz abgesehen davon, dass ökonomische Anreize nicht immer angebracht sind. Mit der gleichen Begründung könnte schließlich auch das Jugendamt in den Monaten Geld an gewalttätige Eltern auszahlen, in denen die Kinder ohne blaue Flecken herumlaufen.
Entsetzt hat mich jedoch weniger die Idee an sich als mehr die Frage, was um Himmels Willen allein dieser Vorschlag über den Stellenwert der Bildung in diesem Land aussagt? Ist es wirklich schon soweit, dass die allgemeine Schulpflicht nur noch mit monetären Incentives durchgesetzt werden kann? Wie ist es möglich, dass immer mehr Eltern sich tatsächlich so wenig für die Bildung ihrer eigenen Kinder interessieren, dass sie nur durch Geldgeschenke dazu bewogen werden können, ihren elterlichen Pflichten nachzukommen?
Ich muss bei diesem Vorschlag unwillkürlich daran denken, wie sich wohl die alleinerziehende Mutter fühlen wird, die als Verkäuferin oder Friseuse bei jeder Klassenfahrt oder bei jedem Bücherkauf tief in die Geldbörse schauen muss und trotzdem ihre Kinder jeden Tag aufweckt, versorgt und in die Schule schickt. Ist es gesellschaftlich vertretbar, wenn die Leistung dieser Mutter als selbstverständlich angenommen wird, während andere Eltern, denen die Zukunft ihrer Kinder augenscheinlich ziemlich egal ist, künftig dafür belohnt werden, dass sie grundlegende elterliche Pflichten zumindest ansatzweise ernstnehmen? Wird nicht unverantwortliches Verhalten durch solche Maßnahmen nachträglich belohnt?
Bin ich ein hoffnungsloser Träumer, wenn ich mit wünsche, dass Bildung – ganz ohne Belohnung oder ohne Strafe – wieder von mehr Familien als Chance wahrgenommen wird – und nicht als lästige Pflicht? Wenn ich der Ansicht bin, dass kostenlose und umfassende Bildung für jedes Kind und jeden Jugendlichen – wie sie unser Schulsystem offeriert – ein Angebot sein müsste, dass gerne und mit Freunden angenommen wird – und das gerade von den Familien, deren Kindern ein sozialer Aufstieg nur durch Bildung möglich sein wird?
Ein Blogpost der fast nur aus Fragen besteht, denn endgültige Antworten habe ich natürlich auch keine, selbst wenn ich die vorgeschlagene „Bildungsbelohnung” für vollkommen falsch halte. Was aber müsste geschehen, damit Bildung von Eltern und Kindern wieder als das gesehen wird, was sie wirklich ist – als eine großartige (und oft die einzige) Chance, die eigene Zukunft aktiv zu gestalten, als die beste Möglichkeit, die Wunder dieses Lebens zu begreifen und mit anderen Augen zu sehen sowie natürlich als die „Eintrittskarte” in eine faszinierende Welt des Wissens und der Erkenntnis?
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