– Erinnerungen von Victoria, die in Pruitt-Igoe aufwuchs
Der ortsansässige Dozent Oscar Newman – von dem später noch ausführlich die Rede sein wird – beschreibt den desolaten Zustand des Wohnviertels: Im Erdgeschoss der Gebäude waren so gut wie sämtliche Briefkästen zerstört, die Korridore waren ebenso mit Abfall und Grafitti übersät wie die Wege zwischen den Wohnblöcken. Sämtliche Gemeinschaftsräume wie Waschküchen und Aufenthaltsräume waren dem Vandalismus anheim gefallen, Fenster waren eingeschlagen, Rohrleitungen zerstört. Drogendealer und Gangs beherrschten die Szenerie, so dass die Frauen von Pruitt-Igoe sich nur noch in größeren Gruppen über das Gelände bewegten, um zur Arbeit oder zum Einkaufen zu gelangen.
Im “Architectural Forum” vom Dezember 1965 – 14 Jahre, nachdem die Zeitschrift den Entwurf Yamasakis zum besten des Jahres kürte – findet sich folgende Beschreibung der Zustände in Pruitt-Igoe:
Today, ten years after its completion, Pruitt-Igoe bears little resemblance to the architects’ early sketches. […] Its buildings loom formidably over broad expanses of scrubby grass, broken glass and litter, and they contain hundreds of shattered windows. The undersized elevators are brutally battered, and they reek of urine from children who judge the time it takes to reach their apartments. By stopping only on every third floor, elevators offer convenient settings for crime.
Ever so often assailants will jam the elevators while they rob, mug and rape victims, then stop at one of the floors and send the elevator on with the victims inside. The stairwells, the only means of access to almost the apartments, are scrawled with obscenities; their meager lighting fixtures and fire hoses are ripped out; and they provide handy sites for predators.
In den Folgejahren scheiterten sämtliche Versuche, dem Problem Herr zu werden. So hatte zum Beispiel die Installation einer helleren Beleuchtung keine erkennbaren Auswirkungen auf die Verbrechensrate – was wenig überrascht wenn man bedenkt, dass der Zusammenhang zwischen Beleuchtung und öffentlicher Sicherheit eher ein gefühlsmäßiger ist.
Auch die Sozialarbeiter und zwei Mietstreiks, mit denen gegen die menschenunwürdigen Zustände protestiert werden sollte, konnten das Ruder nicht mehr herumreißen. 1968 rief die Stadtverwaltung die noch in Pruitt-Igoe verbliebenen Mieter dazu auf, den Komplex zu verlassen, damit ein Teil der Gebäude abgerissen werden konnte, da man sich von einer Verringerung der Siedlungsdichte einen letzten Umschwung erhoffte.
“I never thought people were that destructive. As an architect, I doubt if I would think about it now. I suppose we should have quit the job. It’s a job I wish I hadn’t done.”
– Architekt Minoru Yamasaki, 1965
Dieser blieb jedoch aus, und so folgten auf die erste Sprengung im Jahre 1972 bald weitere, bis 1976 das letzte Gebäude des einstigen Musterviertels abgerissen wurde. Der bekannte Autor Charles Jencks verewigte das Ende des Projekts in seinem 1976 erschienenen Buch “Die Sprache der postmodernen Architektur”, in dem er ein Bild einer Sprengung mit dem Satz versah: “This is the day, Modern Architecture died”. Jencks hatte zuvor vergeblich versucht, die Ruinen unter Denkmalschutz stellen zu lassen. Der Regisseur Godfrey Reggio griff die Abrissbilder in seinem gemeinsam mit dem Komponisten Phillip Glass produzierten Film “Koyaanisqatsi” auf, der 1982 in die Kinos kam.
Damit war Pruitt-Igoe endgültig zum Sinnbild des Scheiterns geworden, wobei jedoch die Frage offen blieb, was genau denn eigentlich gescheitert war? Die Politik, die Architektur, die Bewohner selbst oder gar der Modernismus? Hat das Projekt die These wiederlegt, dass Menschen sich positiv verhalten, wenn man nur für gute Rahmenbedingungen sorgt? Eine Frage, die noch heute Gegenstand kontroverser Diskussionen ist…
Die Aufarbeitung: Warum scheiterte Pruitt-Igoe?
Wer nach den Gründen für das Scheitern des Pruitt-Igoe-Projekts sucht, stößt schnell auf eine große Vielzahl von Erklärungsansätzen – von denkbar simplistischen (“Das hat man davon, wenn man Asozialen einen millionenteuren Bau zur Verfügung stellt”) bis hin zu komplexen soziologischen und architektonischen Ansätzen. Noch heute wird in Fachkreisen über die Ursachen des Desasters diskutiert, wobei ein Großteil der Kommentatoren die Schuld bei den Architekten sieht – ein eher einseitiger Erklärungsansatz, den Autoren wie Mary Comerio zugunsten einer multikausalen Ursachenforschung klar ablehnen.
Unstrittig ist, dass Fehler im architektonischen Entwurf ihren Teil zu den Problemen beigetragen haben. Aufgrund der modernistischen Bauweise hoben sich die Gebäude visuell überdeutlich von ihrer Umgebung ab, wie das untenstehende Foto zeigt. Dies führte zu einer sozialen Stigmatisierung der Bewohner von Pruitt-Igoe, die sich wiederum negativ auf deren Einstellung gegenüber ihrem eigenen Wohnviertel auswirkte und eine stärkere Identifikation mit selbigem verhinderte [Schlüter].
Einer der Kardinalfehler des Designs war, dass man versuchte, die soziale Funktion von Bürgersteigen und Höfen in den oberen Etagen nachzubilden, indem man begrünte Korridore schuf und die Bewohner durch die Anlage von Treppen und Aufzügen dazu zwang, sich in diesen zu bewegen. Man folgte damit der Idee von Le Crobusier und anderen Architekten des frühen 20. Jahrhunderts, dass sich Strukturen “am Boden” (Höfe, Spielplätze etc.) in hohen Gebäuden auf höheren Ebenen replizieren lassen (“vertical neighborhoods”).
Die “skip-stop elevators” hielten deshalb – sozusagen aus erzieherischen Gründen – nur auf bestimmten Stockwerken, so dass die Bewohner die Treppen verwenden mussten. Man hoffte, es würden sich auf diese Weise stabilisierende nachbarschaftliche Beziehungen entwickeln [von Hoffmann].
Tatsächlich wurden solche “open spaces” jedoch schnell zum gefährlichen Niemandsland und boten ein ideales Betätigungsfeld für Kriminelle, denen sich die Bewohner nicht entziehen konnten. Da sich zudem niemand für die Gemeinschaftsareale zuständig fühlte, setzte bald der “Broken Windows”-Effekt ein. Hinzu kommt, dass derartige Hochhäuser nicht zu den damaligen Lebens- und Wertevorstellungen der Amerikaner an sich passten – vor dem II. Weltkrieg waren Sozialwohnungen typischerweise höchstens drei Stockwerke hoch.
Solche Gebäude waren zwar im Sinne der Flächennutzung weniger effizient und boten auch architektonisch weniger Gestaltungsspielraum, die Bewohner waren jedoch weniger anonym und hatten häufiger Kontakt untereinander [von Hoffmann]. So kann man aus dem dritten Stock noch den Hof gut überblicken und seine Kinder beaufsichtigen. In Pruitt-Igoe dagegen spielten die Kinder in den Gängen, wobei es zu mindestens drei Stürzen mit Todesfolge kam. Die daraufhin eingebauten Gitter hatten jedoch eher Gefängnischarakter und verstärkten die angesprochene Stigmatisierung der Bewohner noch weiter [Schlüter].
Neben diesen und weiteren planerischen Fehlern dürfen bei der Ursachenforschung jedoch auch die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen nicht vergessen werden. So sorgte der Rückgang der Bevölkerung von St. Louis um mehr als 200.000 Menschen während der 50er und 60er Jahre für eine erhebliche Erosion der Steuerbasis und wirkte sich negativ auf die Möglichkeiten der Stadt aus, die 33 Gebäude vernünftig bewirtschaften und vor allem instandhalten zu können.
Dort hatte man zwar nicht mit großen Gewinnen aus dem Pruitt-Igoe-Projekt gerechnet, wohl aber mit einer Kostendeckung durch Mieteinahmen, die jedoch wegen der sinkenden Belegung nicht realisiert werden konnte. Als Folge der ausbleibenden Einnahmen begann die Stadt, an allen Ecken und Enden zu sparen, was sich erheblich auf die Lebensqualität der Bewohner auswirkte, wie dieser Bericht des Senders KMOX-TV aus dem Jahr 1968 über die Reparatur geplatzer Wasserleitungen in Pruitt-Igoe verdeutlicht.
Eine weitere Sparmaßnahme der Stadtverwaltung bestand darin, die Wege zwischen den Gebäuden zu Privatwegen zu erklären, um nicht mehr für die Beseitigung des Abfalls zuständig zu sein, womit die Gegend quasi zur Vermüllung freigegeben war [Schlüter].
Hinzu kamen problematische Interventionen auf Bundesebene wie das Brooke Amendment zum Public Housing Act von 1968, mit dem eine Deckelung der maximalen Mietpreise für mindestens 25% der Bewohner pro Block erfolgte, wodurch die Einnahmen weiter sanken und Ausgaben für Sicherheit, Sauberkeit und Instandhaltung gekürzt werden mussten.
Konservative Kräfte im Kongress setzen zudem durch, dass Bewohner von Sozialwohnungen diese zu verlassen hatten, sobald ihr Einkommen minimal oberhalb der Armutsgrenze lag. Die Maßnahme, die eigentlich dafür sorgen sollte, dass Sozialleistungen nicht unberechtigt in Anspruch genommen werden, führte im Endeffekt dazu, dass stabilisierende, arbeitende Personen aus den Siedlungen verschwanden und mittel- bis langfristig der Anteil an sozial schwer integrierbaren Personen pro Block stieg [von Hoffmann].
Das Spektrum der Erklärungsmodelle ist damit noch lange nicht ausgeschöpft: Folgt man
den Ausführungen von Sabine Horlitz, sind zahlreiche Aspekte des Desasters noch immer unerforscht. So wurden die historischen Planungsunterlagen von Pruitt-Igoe nie wirklich wissenschaftlich ausgewertet, der Lebensalltag der Bewohner und deren Sicht auf das Wohnviertel nie systematisch untersucht. Auch Professor Joseph Heathcott von der Saint Louis University sieht in Sachen Pruitt-Igoe noch Forschungsbedarf:
“The shocking thing is that much of what we think we know about Pruitt-Igoe is based on materials written by pundits and interested parties over 30 years ago and subsequently repeated as truth. Nobody has ever gone back actually to do primary research, look at the archival records, talk to former tenants and try to untangle myth from reality.”
Obwohl die Geschichte von Pruitt-Igoe also nach wie vor Fragen aufwirft, führte das Scheitern des Musterprojekts zu einer Reihe interessanter Erkenntnisse, die heute im Bereich der Stadtplanung und -entwicklung breite Anwendung finden.
Zu verdanken ist dies unter anderem einem jungen Dozenten von der Washington University in St. Loius, der in den 60er Jahren ganz in der Nähe von Pruitt-Igoe und einem weiteren Sozialprojekt namens Carr Square wohnte. Während Pruitt-Igoe zusehends verfiel, gedieh Carr Square gut – und das, obwohl dort das gleiche Klientel lebte und die Gelder für die Instandhaltung ähnlich knapp waren. Dieses auf den ersten Blick nur schwer erklärbare Phänomen inspirierte den Dozenten – den bereits erwähnten Oscar Newman – dazu, einer spannenden Frage nachzugehen: Kann Architektur Vebrechen und Verwahrlosung verhindern?
Defensible Space: Wo endet mein Lebensbereich?
Im Gegensatz zu anderen Wissenschaftlern, die sich mit dem Niedergang von Pruitt-Igoe befasst haben, war Newman während der Hochzeit des Verbrechens tatsächlich vor Ort – und machte auf einem seiner zahlreichen Gänge durch Pruitt-Igoe eine erstaunliche Entdeckung. Während nämlich die Wege, Flure und Gemeinschaftsareale vollkommen heruntergekommen waren, war es in den eigentlichen Wohnungen sauber und ordentlich. Newman konnte sich das zunächst nicht erklären – wieso ließen Menschen, die doch ganz offenbar Wert auf ihre persönliche Umgebung legten, ihr Viertel so dermaßen herunterkommen?
Offenbar kümmerten sich die Leute nur um die Bereiche, die sie als “ihr Territorium” wahrnehmen. So waren Korridore, in denen nur zwei oder drei Familien wohnten, relativ gut gepflegt, während Korridore mit 20 Familien deutlich heruntergekommener waren. Aufzüge und Hauseingänge, die von mehreren 100 Familien gleichzeitig genutzt wurden, befanden sich in einem noch erbärmlicheren Zustand.
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