Mit einem der ersten großangelegten staatlichen Wohnbauprojekte der USA sollten in den 60er Jahren bezahlbare Wohnungen für Arbeitslose und Geringverdiener bereitgestellt werden. Die Mustersiedlung Puitt-Igoe in St. Louis versank jedoch nach kurzer Zeit in Gewalt und Vandalismus. Noch 40 Jahre später wird über die Ursachen diskutiert…
In einem Skript zum Thema “Nachhaltige Stadtplanung”, durch dass ich mich derzeit im Rahmen meines Fernstudiums arbeite, bin ich in einem Nebensatz über das Pruitt-Igoe-Projekt als eine Art Paradebeispiel für städtebauliche Fehlplanung gestolpert. Aus reiner Neugier habe ich mich mit der Geschichte hinter dem Projekt befasst, die mich enorm fasziniert hat – und da ich im “Frischen Wind” neben der Umwelt öfter schon historische Themen wie Neuschwabenland und den Great Smog of London behandelt habe, hoffe ich heute, den einen oder anderen Leser mit viel Zeit zu einem Ausflug ins St. Louis der 60er überreden zu können…
Die Vorgeschichte: Schwarze Slums und weiße Vorstädte
Als der Demokrat Joseph Darst 1949 zum Bürgermeister der US-Großstadt St. Louis im Bundesstaat Missouri gewählt wurde, hatte die Stadtverwaltung mit zahlreichen Problemen zu kämpfen: Viele der traditionellen Industriebetriebe gingen in Konkurs und mehr und mehr Einwohner aus der Mittelschicht kehrten St. Louis den Rücken oder verzogen sich zumindest in die Vorstädte, während die Innenstädte nach und nach verkamen. Als die allerschlimmste Wohngegend im St. Louis der Nachkriegszeit galt das Armenviertel DeSoto-Carr – und genau hier wollte Darst ansetzen, um das Ruder wieder herumzureißen.
Seine Vorgehensweise unterschied sich dabei kaum von dem, was in anderen US-Städten geschah, die mit ähnlichen Problemen zu kämpfen hatten: Das Gelände, auf dem sich die Quasi-Slums befinden, wird von der Stadt aufgekauft (notfalls enteignet), geräumt und hinterher verbilligt auf den Markt geworfen, um Industrielle und Wohnbauunternehmer anzulocken. Parallel dazu errichtet man günstige Sozialwohnungen (public housing), um die ehemaligen Bewohner des Armenviertels aufzufangen und ihnen verbesserte Wohn- und Lebensmöglichkeiten zu bieten. Die US-Regierung unterstützte seit der Verabschiedung des American Housing Acts von 1949 den Bau derartiger Wohnungen mit finanziellen Mitteln, wodurch solche Vorhaben auch für weniger wohlhabende Städte bezahlbar wurden.
Darst selbst war kurz nach seiner Wahl bei seinem Amtskollegen William O’Dwyer in New York City vorstellig geworden, und hatte dort neue, vielstöckige Sozialbauten besichtigt – ein Wohnkonzept, das nach der Überzeugung Darsts auch in St. Louis aufgehen würde. Beflügelt von dem Gedanken an ein “Manhattan am Missisippi”, erging im Jahr 1951 der Planungsauftrag an Minoru Yamasaki – der erste Großauftrag für einen jungen Architekten, der viele Jahre später das World Trade Center in New York entwerfen sollte.
Dessen Entwurf orientierte sich an den Vorstellungen des Schweizer Architekten Le Corbusier, der die Zukunft des Städtebaus in hohen Wohngebäuden inmitten grüner Parkanlagen sah. Yamasakis Entwurf für insgesamt 33 elfstöckige Gebäude mit 2.870 Wohneinheiten, deren Bau 36 Millionen US-Dollar kosten sollte, wurde 1951 durch die Fachzeitschrift “Architectural Forum” als “bester Gebäudeentwurf des Jahres” geadelt.
Benannt werden sollte das neue Wohnviertel nach Wendell O. Pruitt – einem (schwarzen) Kampfpiloten des zweiten Weltkriegs – und William L. Igoe – einem langjährigen (weißen) Kongressabgeordneten des Staates Missouri. Diese Benennung erfolgte nicht ohne Grund, denn tatsächlich hatten die Stadtväter geplant, in Pruitt ausschließlich schwarze, in Igoe dagegen weiße Familien anzusiedeln. Nachdem der US Supreme Court noch während der Planungsphase im berühmten Fall “Brown vs. Board of Education” die unmenschliche Rassentrennung für verfassungswidrig erklärt hatte, rückte man von der Idee ab.
Obwohl Pruitt-Igoe 1955 also als “integriertes” Wohnviertel eröffnet wurde, verschwanden die wenigen weißen Familien innheralb weniger Jahre, nachdem sich die Lebensverhältnisse bereits nach kürzester Zeit rapide verschlechtert hatten.
Hellbrück und Fischer fassen die Entwicklung so zusammen:
Binnen weniger Jahre war sie (die Siedlung) von ihren Bewohnern in einen menschenunwürdigen Zustand versetzt worden. Zersplitterte Fensterschei- ben, als Toiletten benutzte Aufzüge, Spielplätze voller Müll und demolierte Kraftfahrzeuge beherrschten das Bild. Immer mehr Mieter zogen aus, so
dass die Häuser schließlich leer standen und zu Beginn der siebziger Jahre abgerissen wurden.
Der Niedergang: “Wir haben dort jeden Tag Leichen gesehen”
Der Niedergang von Pruitt-Igoe begann schleichend, nahm aber schnell immer mehr an Fahrt auf. Bereits 1963 – acht Jahre nach der Einweihung des Viertels – hatten Verwahrlosung und Verbrechen derartige Ausmaße angenommen, dass man 45 Sozialarbeiter dauerhaft nach Pruitt-Igoe entsandte, zudem nahmen sich Soziologen der Universität von St. Louis der Untersuchung der extremen Zustände an.
Ende der 60er waren alle Familien, die einen Umzug bezahlen konnten, aus der Gegend geflohen, 1971 lebten nur noch 600 Menschen in 17 Gebäuden, während 16 völlig leerstanden [Schlüter]. Pruitt-Igoe wurde zum Schauplatz zahlreicher Morde und Bandenkriege, wobei die Opfer nicht selten in den Aufzugsschächten der Gebäude “entsorgt” wurden.
“I saw my first murdered person when I was 10 or 11. I actually saw her. She had been decaying at the bottom of the elavator shaft of the third or fourth building on Ofallon, we lived in the second one. I remember seeing people carrying a stretcher, covered with a white sheet. Just as they were passing me the wind blew the sheet. I saw her. I had already known of a lot of us dieing but the vision of what was under that sheet still haunts me.”
– Erinnerungen von Victoria, die in Pruitt-Igoe aufwuchs
Der ortsansässige Dozent Oscar Newman – von dem später noch ausführlich die Rede sein wird – beschreibt den desolaten Zustand des Wohnviertels: Im Erdgeschoss der Gebäude waren so gut wie sämtliche Briefkästen zerstört, die Korridore waren ebenso mit Abfall und Grafitti übersät wie die Wege zwischen den Wohnblöcken. Sämtliche Gemeinschaftsräume wie Waschküchen und Aufenthaltsräume waren dem Vandalismus anheim gefallen, Fenster waren eingeschlagen, Rohrleitungen zerstört. Drogendealer und Gangs beherrschten die Szenerie, so dass die Frauen von Pruitt-Igoe sich nur noch in größeren Gruppen über das Gelände bewegten, um zur Arbeit oder zum Einkaufen zu gelangen.
Im “Architectural Forum” vom Dezember 1965 – 14 Jahre, nachdem die Zeitschrift den Entwurf Yamasakis zum besten des Jahres kürte – findet sich folgende Beschreibung der Zustände in Pruitt-Igoe:
Today, ten years after its completion, Pruitt-Igoe bears little resemblance to the architects’ early sketches. […] Its buildings loom formidably over broad expanses of scrubby grass, broken glass and litter, and they contain hundreds of shattered windows. The undersized elevators are brutally battered, and they reek of urine from children who judge the time it takes to reach their apartments. By stopping only on every third floor, elevators offer convenient settings for crime.
Ever so often assailants will jam the elevators while they rob, mug and rape victims, then stop at one of the floors and send the elevator on with the victims inside. The stairwells, the only means of access to almost the apartments, are scrawled with obscenities; their meager lighting fixtures and fire hoses are ripped out; and they provide handy sites for predators.
In den Folgejahren scheiterten sämtliche Versuche, dem Problem Herr zu werden. So hatte zum Beispiel die Installation einer helleren Beleuchtung keine erkennbaren Auswirkungen auf die Verbrechensrate – was wenig überrascht wenn man bedenkt, dass der Zusammenhang zwischen Beleuchtung und öffentlicher Sicherheit eher ein gefühlsmäßiger ist.
Auch die Sozialarbeiter und zwei Mietstreiks, mit denen gegen die menschenunwürdigen Zustände protestiert werden sollte, konnten das Ruder nicht mehr herumreißen. 1968 rief die Stadtverwaltung die noch in Pruitt-Igoe verbliebenen Mieter dazu auf, den Komplex zu verlassen, damit ein Teil der Gebäude abgerissen werden konnte, da man sich von einer Verringerung der Siedlungsdichte einen letzten Umschwung erhoffte.
“I never thought people were that destructive. As an architect, I doubt if I would think about it now. I suppose we should have quit the job. It’s a job I wish I hadn’t done.”
– Architekt Minoru Yamasaki, 1965
Dieser blieb jedoch aus, und so folgten auf die erste Sprengung im Jahre 1972 bald weitere, bis 1976 das letzte Gebäude des einstigen Musterviertels abgerissen wurde. Der bekannte Autor Charles Jencks verewigte das Ende des Projekts in seinem 1976 erschienenen Buch “Die Sprache der postmodernen Architektur”, in dem er ein Bild einer Sprengung mit dem Satz versah: “This is the day, Modern Architecture died”. Jencks hatte zuvor vergeblich versucht, die Ruinen unter Denkmalschutz stellen zu lassen. Der Regisseur Godfrey Reggio griff die Abrissbilder in seinem gemeinsam mit dem Komponisten Phillip Glass produzierten Film “Koyaanisqatsi” auf, der 1982 in die Kinos kam.
Damit war Pruitt-Igoe endgültig zum Sinnbild des Scheiterns geworden, wobei jedoch die Frage offen blieb, was genau denn eigentlich gescheitert war? Die Politik, die Architektur, die Bewohner selbst oder gar der Modernismus? Hat das Projekt die These wiederlegt, dass Menschen sich positiv verhalten, wenn man nur für gute Rahmenbedingungen sorgt? Eine Frage, die noch heute Gegenstand kontroverser Diskussionen ist…
Die Aufarbeitung: Warum scheiterte Pruitt-Igoe?
Wer nach den Gründen für das Scheitern des Pruitt-Igoe-Projekts sucht, stößt schnell auf eine große Vielzahl von Erklärungsansätzen – von denkbar simplistischen (“Das hat man davon, wenn man Asozialen einen millionenteuren Bau zur Verfügung stellt”) bis hin zu komplexen soziologischen und architektonischen Ansätzen. Noch heute wird in Fachkreisen über die Ursachen des Desasters diskutiert, wobei ein Großteil der Kommentatoren die Schuld bei den Architekten sieht – ein eher einseitiger Erklärungsansatz, den Autoren wie Mary Comerio zugunsten einer multikausalen Ursachenforschung klar ablehnen.
Unstrittig ist, dass Fehler im architektonischen Entwurf ihren Teil zu den Problemen beigetragen haben. Aufgrund der modernistischen Bauweise hoben sich die Gebäude visuell überdeutlich von ihrer Umgebung ab, wie das untenstehende Foto zeigt. Dies führte zu einer sozialen Stigmatisierung der Bewohner von Pruitt-Igoe, die sich wiederum negativ auf deren Einstellung gegenüber ihrem eigenen Wohnviertel auswirkte und eine stärkere Identifikation mit selbigem verhinderte [Schlüter].
Einer der Kardinalfehler des Designs war, dass man versuchte, die soziale Funktion von Bürgersteigen und Höfen in den oberen Etagen nachzubilden, indem man begrünte Korridore schuf und die Bewohner durch die Anlage von Treppen und Aufzügen dazu zwang, sich in diesen zu bewegen. Man folgte damit der Idee von Le Crobusier und anderen Architekten des frühen 20. Jahrhunderts, dass sich Strukturen “am Boden” (Höfe, Spielplätze etc.) in hohen Gebäuden auf höheren Ebenen replizieren lassen (“vertical neighborhoods”).
Die “skip-stop elevators” hielten deshalb – sozusagen aus erzieherischen Gründen – nur auf bestimmten Stockwerken, so dass die Bewohner die Treppen verwenden mussten. Man hoffte, es würden sich auf diese Weise stabilisierende nachbarschaftliche Beziehungen entwickeln [von Hoffmann].
Tatsächlich wurden solche “open spaces” jedoch schnell zum gefährlichen Niemandsland und boten ein ideales Betätigungsfeld für Kriminelle, denen sich die Bewohner nicht entziehen konnten. Da sich zudem niemand für die Gemeinschaftsareale zuständig fühlte, setzte bald der “Broken Windows”-Effekt ein. Hinzu kommt, dass derartige Hochhäuser nicht zu den damaligen Lebens- und Wertevorstellungen der Amerikaner an sich passten – vor dem II. Weltkrieg waren Sozialwohnungen typischerweise höchstens drei Stockwerke hoch.
Solche Gebäude waren zwar im Sinne der Flächennutzung weniger effizient und boten auch architektonisch weniger Gestaltungsspielraum, die Bewohner waren jedoch weniger anonym und hatten häufiger Kontakt untereinander [von Hoffmann]. So kann man aus dem dritten Stock noch den Hof gut überblicken und seine Kinder beaufsichtigen. In Pruitt-Igoe dagegen spielten die Kinder in den Gängen, wobei es zu mindestens drei Stürzen mit Todesfolge kam. Die daraufhin eingebauten Gitter hatten jedoch eher Gefängnischarakter und verstärkten die angesprochene Stigmatisierung der Bewohner noch weiter [Schlüter].
Neben diesen und weiteren planerischen Fehlern dürfen bei der Ursachenforschung jedoch auch die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen nicht vergessen werden. So sorgte der Rückgang der Bevölkerung von St. Louis um mehr als 200.000 Menschen während der 50er und 60er Jahre für eine erhebliche Erosion der Steuerbasis und wirkte sich negativ auf die Möglichkeiten der Stadt aus, die 33 Gebäude vernünftig bewirtschaften und vor allem instandhalten zu können.
Dort hatte man zwar nicht mit großen Gewinnen aus dem Pruitt-Igoe-Projekt gerechnet, wohl aber mit einer Kostendeckung durch Mieteinahmen, die jedoch wegen der sinkenden Belegung nicht realisiert werden konnte. Als Folge der ausbleibenden Einnahmen begann die Stadt, an allen Ecken und Enden zu sparen, was sich erheblich auf die Lebensqualität der Bewohner auswirkte, wie dieser Bericht des Senders KMOX-TV aus dem Jahr 1968 über die Reparatur geplatzer Wasserleitungen in Pruitt-Igoe verdeutlicht.
Eine weitere Sparmaßnahme der Stadtverwaltung bestand darin, die Wege zwischen den Gebäuden zu Privatwegen zu erklären, um nicht mehr für die Beseitigung des Abfalls zuständig zu sein, womit die Gegend quasi zur Vermüllung freigegeben war [Schlüter].
Hinzu kamen problematische Interventionen auf Bundesebene wie das Brooke Amendment zum Public Housing Act von 1968, mit dem eine Deckelung der maximalen Mietpreise für mindestens 25% der Bewohner pro Block erfolgte, wodurch die Einnahmen weiter sanken und Ausgaben für Sicherheit, Sauberkeit und Instandhaltung gekürzt werden mussten.
Konservative Kräfte im Kongress setzen zudem durch, dass Bewohner von Sozialwohnungen diese zu verlassen hatten, sobald ihr Einkommen minimal oberhalb der Armutsgrenze lag. Die Maßnahme, die eigentlich dafür sorgen sollte, dass Sozialleistungen nicht unberechtigt in Anspruch genommen werden, führte im Endeffekt dazu, dass stabilisierende, arbeitende Personen aus den Siedlungen verschwanden und mittel- bis langfristig der Anteil an sozial schwer integrierbaren Personen pro Block stieg [von Hoffmann].
Das Spektrum der Erklärungsmodelle ist damit noch lange nicht ausgeschöpft: Folgt man
den Ausführungen von Sabine Horlitz, sind zahlreiche Aspekte des Desasters noch immer unerforscht. So wurden die historischen Planungsunterlagen von Pruitt-Igoe nie wirklich wissenschaftlich ausgewertet, der Lebensalltag der Bewohner und deren Sicht auf das Wohnviertel nie systematisch untersucht. Auch Professor Joseph Heathcott von der Saint Louis University sieht in Sachen Pruitt-Igoe noch Forschungsbedarf:
“The shocking thing is that much of what we think we know about Pruitt-Igoe is based on materials written by pundits and interested parties over 30 years ago and subsequently repeated as truth. Nobody has ever gone back actually to do primary research, look at the archival records, talk to former tenants and try to untangle myth from reality.”
Obwohl die Geschichte von Pruitt-Igoe also nach wie vor Fragen aufwirft, führte das Scheitern des Musterprojekts zu einer Reihe interessanter Erkenntnisse, die heute im Bereich der Stadtplanung und -entwicklung breite Anwendung finden.
Zu verdanken ist dies unter anderem einem jungen Dozenten von der Washington University in St. Loius, der in den 60er Jahren ganz in der Nähe von Pruitt-Igoe und einem weiteren Sozialprojekt namens Carr Square wohnte. Während Pruitt-Igoe zusehends verfiel, gedieh Carr Square gut – und das, obwohl dort das gleiche Klientel lebte und die Gelder für die Instandhaltung ähnlich knapp waren. Dieses auf den ersten Blick nur schwer erklärbare Phänomen inspirierte den Dozenten – den bereits erwähnten Oscar Newman – dazu, einer spannenden Frage nachzugehen: Kann Architektur Vebrechen und Verwahrlosung verhindern?
Defensible Space: Wo endet mein Lebensbereich?
Im Gegensatz zu anderen Wissenschaftlern, die sich mit dem Niedergang von Pruitt-Igoe befasst haben, war Newman während der Hochzeit des Verbrechens tatsächlich vor Ort – und machte auf einem seiner zahlreichen Gänge durch Pruitt-Igoe eine erstaunliche Entdeckung. Während nämlich die Wege, Flure und Gemeinschaftsareale vollkommen heruntergekommen waren, war es in den eigentlichen Wohnungen sauber und ordentlich. Newman konnte sich das zunächst nicht erklären – wieso ließen Menschen, die doch ganz offenbar Wert auf ihre persönliche Umgebung legten, ihr Viertel so dermaßen herunterkommen?
Offenbar kümmerten sich die Leute nur um die Bereiche, die sie als “ihr Territorium” wahrnehmen. So waren Korridore, in denen nur zwei oder drei Familien wohnten, relativ gut gepflegt, während Korridore mit 20 Familien deutlich heruntergekommener waren. Aufzüge und Hauseingänge, die von mehreren 100 Familien gleichzeitig genutzt wurden, befanden sich in einem noch erbärmlicheren Zustand.
Newman fragte sich, wie dieses Modell (“This is my turf”) angewandt werden könnte, um soziale Wohnbauprojekte vor dem Verfall zu bewahren, womit die Idee des “Defensible Space” geboren war, auf die sich noch heute Stadtplaner und Architekten stützen: Die Einwohner sollen in die Lage versetzt werden, das Gelände um ihren Wohnort als “ihr Territorium” zu begreifen und zu kontrollieren, was dort geschieht.
So konnte Newman beispielsweise statistisch belegen, dass die Verbrechensrate umso größer ist, je mehr Familien einen gemeinsamen Eingang verwenden müssen und schlug als Abhilfe vor, Wohngebäude mit mehreren Eingängen zu versehen, die exklusiv in bestimmte Trakte führen. Auch der Austausch von großen Müllcontainern gegen kleinere Mülltonnen für jede Familie bewirkt einen besseren Umgang mit Abfällen – schließlich ist es mir wichtiger, wie “meine” Mülltonne ausschaut als “der” Müllcontainer, für den ich nicht zuständig bin…
Verallgemeinernd ausgedrückt nehmen Verbrechen und Vandalismus in einer Gegend in dem Maße ab, in dem Einzelpersonen oder Familien sich für bestimmte, eigentlich öffentliche Lebensbereiche verantwortlich fühlen. Wer sich für die Erkenntnisse Newmans interessiert (die im Detail vorzustellen den Rahmen dieses ohnehin schon viel zu langen Blogposts sprengen würde), kann sich “Creating Defensible Space” hier kostenfrei herunterladen.
Epilog: Ein Wald mitten in St. Louis
Obwohl Pruitt-Igoe noch heute als Paradebeispiel für die Fehlplanung von Sozialbauten gilt, ist es bei weitem nicht das einzige derart gescheiterte Projekt. Ähnliche Erfahrungen machte man unter anderem in Chicago im US-Bundesstaat Illinois, wo das Viertel Cabrini-Green lange Zeit als Hort von Verbrechen und Gewalt galt.
1981 bezog die damalige Bürgermeisterin Jane Byrne ein Appartment in Cabrini-Green, um ein Zeichen gegen die ausufernde Gang-Kriminalität zu setzen. Obwohl sie Tag und Nacht von Polizisten bewacht wurde, brach sie das Experiment nach nur drei Wochen ab. Um ihre Sicherheit zu gewährleisten, verschweißte die Polizei alle bis auf eine Eingangstüren des Wohnkomplexes. Eine Strategie mit Spätfolgen – wegen der verschweißten Türen wurde das Gebäude nach ihrem Auszug zum Hauptquartier einer Gang – und bereits wenige Jahre später wiesen zahlreiche Gebäude in Cabrini-Green verschweißte Türen auf.
Cabrini-Green ist übrigens ein wunderbares Beispiel dafür, wie radikal sich die öffentliche und mediale Wahrnehmung eines Stadtviertels in kurzer Zeit ändern kann: Während in den 70ern die fröhliche Familien-Sitcom “Good Times” in den netten, sauberen Appartments von Cabrini-Green spielte, wurden die abgewirtschafteten Wohnblocks in den frühen 90ern zum Schauplatz der Slasher-Serie “Candyman”.
Viele der ehemaligen Bewohner von Pruitt-Igoe sind heute übrigens überraschenderweise voll des Lobes für ihr ehemaliges Wohnquartier – eine Tatsache, die die von vielen Autoren zum Thema geäußerte Vermutung unterstreicht, dass die Vorgänge in Pruitt-Igoe insbesondere soziologisch noch längst nicht ausreichend erforscht wurden. Noch heute treffen sich über 1000 ehemalige Bewohner von Pruitt-Igoe jährlich in St. Louis, um gemeinsam zu feiern
und sich an gute Zeiten zu erinnern.
“I loved it. There was something very unique and special about the relationships we had. Even though there were many, many fights,
there is still something unique. It was like a very huge family.”– Barbara West, ehemalige Einwohnerin von Pruitt-Igoe
Das Gelände, auf dem sich Pruitt-Igoe befand, ist noch heute zum Großteil unbebaut, sieht man von der dort errichteten Gateway Middle School for Science and Technology ab. Über die Jahre hat sich dort – mitten im Herzen der Stadt – ein wildwachsender Wald entwickelt, den man sogar aus der Luft klar erkennen kann.
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Ende der 90er Jahre sollte auf dem Gelände eine Luxus-Golfanlage errichtet werden. Das Vorhaben wurde aufgrund massiver öffentlicher Proteste nicht umgesetzt.
Die Fundamente der 33 Wohngebäude wurden nie entfernt.
Wer sich näher mit der Geschichte von Pruitt-Igoe befassen möchte, findet neben einiger Literatur (siehe weiter unten) im Web noch diesen interessanten Flickr-Account sowie die Webseite eines Dokumentarfilm-Projekts, dessen Macher unter @PruittIgoe auch twittern…
Hauptquelle
Newman, Oscar (1996). Creating Defensible Spac Center for Urban Policy Research, Rutgers University
https://www.huduser.org/publications/pdf/def.pdf
Weitere verwendete Quellen
Comerio, Mary: Pruitt Igoe and Other Stories, JAE, Vol. 34, No. 4, pp. 26-31, 1981
https://www.jstor.org/stable/1424663
Fischer, Manfred: Nachhaltige Stadtentwicklung. Skript zum Studienfach “Lokale Agenda 21” an der FernUni Hagen, Hagen, 2008
Hellbrück, Jürgen. & Fischer, Manfred.: Umweltpsychologie. Ein Lehrbuch. Göttingen: Hogrefe-Verlag, 1999
Horlitz, Sabine: Pruitt-Igoe: Ikone des Scheiterns, Vortrag beim Transatlantischen Graduiertenkolleg, 2008
https://userpage.fu-berlin.de/~jfkpolhk/mm/Teaching/PastCourses/SS08/Horlitz.Expose%20Pruitt-Igoe.kolloq.pdf
von Hoffmann, Alexander: Why They Built the Pruitt-Igoe Project, Joint Center for Housing Studies, Harvard University
https://www.soc.iastate.edu/sapp/PruittIgoe.html
Schlüter, Gottfried: Pruitt-Igoe – Die Dritte, in: Wolkenkuckucksheim, Internationale Zeitschrift für Theorie und Wissenschaft der Architektur, 2. Jg., Heft 1, 1997
https://www.tu-cottbus.de/theoriederarchitektur/wolke/deu/Themen/971/Schlueter/schlueter_t.html
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