Newman fragte sich, wie dieses Modell (“This is my turf”) angewandt werden könnte, um soziale Wohnbauprojekte vor dem Verfall zu bewahren, womit die Idee des “Defensible Space” geboren war, auf die sich noch heute Stadtplaner und Architekten stützen: Die Einwohner sollen in die Lage versetzt werden, das Gelände um ihren Wohnort als “ihr Territorium” zu begreifen und zu kontrollieren, was dort geschieht.
So konnte Newman beispielsweise statistisch belegen, dass die Verbrechensrate umso größer ist, je mehr Familien einen gemeinsamen Eingang verwenden müssen und schlug als Abhilfe vor, Wohngebäude mit mehreren Eingängen zu versehen, die exklusiv in bestimmte Trakte führen. Auch der Austausch von großen Müllcontainern gegen kleinere Mülltonnen für jede Familie bewirkt einen besseren Umgang mit Abfällen – schließlich ist es mir wichtiger, wie “meine” Mülltonne ausschaut als “der” Müllcontainer, für den ich nicht zuständig bin…
Verallgemeinernd ausgedrückt nehmen Verbrechen und Vandalismus in einer Gegend in dem Maße ab, in dem Einzelpersonen oder Familien sich für bestimmte, eigentlich öffentliche Lebensbereiche verantwortlich fühlen. Wer sich für die Erkenntnisse Newmans interessiert (die im Detail vorzustellen den Rahmen dieses ohnehin schon viel zu langen Blogposts sprengen würde), kann sich “Creating Defensible Space” hier kostenfrei herunterladen.
Epilog: Ein Wald mitten in St. Louis
Obwohl Pruitt-Igoe noch heute als Paradebeispiel für die Fehlplanung von Sozialbauten gilt, ist es bei weitem nicht das einzige derart gescheiterte Projekt. Ähnliche Erfahrungen machte man unter anderem in Chicago im US-Bundesstaat Illinois, wo das Viertel Cabrini-Green lange Zeit als Hort von Verbrechen und Gewalt galt.
1981 bezog die damalige Bürgermeisterin Jane Byrne ein Appartment in Cabrini-Green, um ein Zeichen gegen die ausufernde Gang-Kriminalität zu setzen. Obwohl sie Tag und Nacht von Polizisten bewacht wurde, brach sie das Experiment nach nur drei Wochen ab. Um ihre Sicherheit zu gewährleisten, verschweißte die Polizei alle bis auf eine Eingangstüren des Wohnkomplexes. Eine Strategie mit Spätfolgen – wegen der verschweißten Türen wurde das Gebäude nach ihrem Auszug zum Hauptquartier einer Gang – und bereits wenige Jahre später wiesen zahlreiche Gebäude in Cabrini-Green verschweißte Türen auf.
Cabrini-Green ist übrigens ein wunderbares Beispiel dafür, wie radikal sich die öffentliche und mediale Wahrnehmung eines Stadtviertels in kurzer Zeit ändern kann: Während in den 70ern die fröhliche Familien-Sitcom “Good Times” in den netten, sauberen Appartments von Cabrini-Green spielte, wurden die abgewirtschafteten Wohnblocks in den frühen 90ern zum Schauplatz der Slasher-Serie “Candyman”.
Viele der ehemaligen Bewohner von Pruitt-Igoe sind heute übrigens überraschenderweise voll des Lobes für ihr ehemaliges Wohnquartier – eine Tatsache, die die von vielen Autoren zum Thema geäußerte Vermutung unterstreicht, dass die Vorgänge in Pruitt-Igoe insbesondere soziologisch noch längst nicht ausreichend erforscht wurden. Noch heute treffen sich über 1000 ehemalige Bewohner von Pruitt-Igoe jährlich in St. Louis, um gemeinsam zu feiern
und sich an gute Zeiten zu erinnern.
“I loved it. There was something very unique and special about the relationships we had. Even though there were many, many fights,
there is still something unique. It was like a very huge family.”– Barbara West, ehemalige Einwohnerin von Pruitt-Igoe
Das Gelände, auf dem sich Pruitt-Igoe befand, ist noch heute zum Großteil unbebaut, sieht man von der dort errichteten Gateway Middle School for Science and Technology ab. Über die Jahre hat sich dort – mitten im Herzen der Stadt – ein wildwachsender Wald entwickelt, den man sogar aus der Luft klar erkennen kann.
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Ende der 90er Jahre sollte auf dem Gelände eine Luxus-Golfanlage errichtet werden. Das Vorhaben wurde aufgrund massiver öffentlicher Proteste nicht umgesetzt.
Die Fundamente der 33 Wohngebäude wurden nie entfernt.
Wer sich näher mit der Geschichte von Pruitt-Igoe befassen möchte, findet neben einiger Literatur (siehe weiter unten) im Web noch diesen interessanten Flickr-Account sowie die Webseite eines Dokumentarfilm-Projekts, dessen Macher unter @PruittIgoe auch twittern…
Hauptquelle
Newman, Oscar (1996). Creating Defensible Spac Center for Urban Policy Research, Rutgers University
https://www.huduser.org/publications/pdf/def.pdf
Weitere verwendete Quellen
Comerio, Mary: Pruitt Igoe and Other Stories, JAE, Vol. 34, No. 4, pp. 26-31, 1981
https://www.jstor.org/stable/1424663
Fischer, Manfred: Nachhaltige Stadtentwicklung. Skript zum Studienfach “Lokale Agenda 21” an der FernUni Hagen, Hagen, 2008
Hellbrück, Jürgen. & Fischer, Manfred.: Umweltpsychologie. Ein Lehrbuch. Göttingen: Hogrefe-Verlag, 1999
Horlitz, Sabine: Pruitt-Igoe: Ikone des Scheiterns, Vortrag beim Transatlantischen Graduiertenkolleg, 2008
https://userpage.fu-berlin.de/~jfkpolhk/mm/Teaching/PastCourses/SS08/Horlitz.Expose%20Pruitt-Igoe.kolloq.pdf
von Hoffmann, Alexander: Why They Built the Pruitt-Igoe Project, Joint Center for Housing Studies, Harvard University
https://www.soc.iastate.edu/sapp/PruittIgoe.html
Schlüter, Gottfried: Pruitt-Igoe – Die Dritte, in: Wolkenkuckucksheim, Internationale Zeitschrift für Theorie und Wissenschaft der Architektur, 2. Jg., Heft 1, 1997
https://www.tu-cottbus.de/theoriederarchitektur/wolke/deu/Themen/971/Schlueter/schlueter_t.html
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