Zerstört die Standardisierung von Schulunterricht und Schulprüfungen das Wesen der sprachlichen und künstlerischen Fächer? Maßt sich die Politik über die Definition von Förderkriterien zu viel Einfluss auf die Entwicklung der Geisteswissenschaften an? Und erleben wir gegenwärtig die Geburt eines neuen Wissenschaftler-Typus, bei dem die intrinsische Motivation nach der Erweiterung des eigenen Wissens hinter allgemeinen gesellschaftlichen Nutzenerwartungen zurücksteht?
Dank einer großzügigen Bücherspende der Konrad-Adenauer-Stiftung beim Landestag der Jungen Union, dem ich vor zwei Wochen als Delegierter in Dessau beiwohnen durfte (das dortige Hugo-Junkers-Technikmuseum ist übrigens absolut großartig), liegen auf meinem Nachtisch nun einige neue Schmöker, darunter das großartige „Schaut endlich hin!” von Margalith Kleijwegt, das ich bei ausreichend Zeit demnächst auf jeden Fall mal rezensieren werde, sowie auch ein dickerSammelband mit dem vielversprechenden Titel „Warum die Geisteswissenschaften Zukunft haben” aus dem Herder-Verlag, den gründlich zu lesen mir derzeit ob des 600seitigen Umfangs leider die Zeit fehlt. Nachdem ich gestern Abend beim Reinschnuppern ins Inhaltsverzeichnis über ein Essay mit dem kuriosen Titel „Der Club der toten Dichter macht Zentralabitur und entscheidet sich für einen Bachelor-Studiengang” gestolpert bin, kam ich dann aber doch nicht umhin, zumindest einige der Beiträge zu studieren. Drei aus meiner Sicht ganz besonders bemerkenswerte Aussagen stelle ich nachfolgend mal für alle Freunde der Geisteswissenschaften zur Diskussion ein.
Im schon benannten „Der Club der toten Dichter macht Zentralabitur und entscheidet sich für einen Bachelor-Studiengang” wütet Burkhard Spinnen über die Standardisierung von Schulunterricht und Prüfungen in den sprachlichen und künstlerischen Fächern sowie die zunehmende Verschulung der Studiengänge (die dabei aufgegriffene Anekdote mit den Studenten in der Sprechstunde, die gleich nach der ersten Vorlesung die ganz genauen Anforderungen für bestimmte Noten auszuloten versuchen, habe ich übrigens selbst schonmal in beinahe identischer Form erlebt):
„[…] Die Praxis der Vermittlung des Geistigen orientiert sich in einer fortgeschrittenen Demokratie wie der unseren nun einmal zunehmend nicht an der Individualität, sondern an der Kompatibilität von Lerninhalten sowie insbesondere an der Kompatibilität der Lernergebnisse. Anders ausgedrückt: Der Oberstufenschüler im demokratischen Staat hat ein Recht darauf, auch im Deutschunterricht kein Genie sein zu müssen. Er darf nicht einmal dazu ermuntert werden. Was einzigartig ist an ihm, das muss – besser: das darf – hinter dem zurückstehen, was ihn und seine Hervorbringungen mit anderen dergestalt vergleichen lässt, dass die Ergebnisse dieses Vergleichs auch von zuständigen Gerichten beurteilt und gutgeheißen werden können. Und auch der Lehrer im demokratischen Staat muss aus der Bredouille genommen werden. Es ist unbedingt zu vermeiden, dass irgendwer in die Gefahr kommt, Äpfel mit Birnen vergleichen zu müssen.”
In „Zur Gefangenschaft der Geisteswissenschaften im Nutzen- und Leistungsdenken” greift die Literaturprofessorin Elisabeth von Erdmann die aktuelle Praxis der Fördermittelvergabe im geisteswissenschaftlichen Bereich an – wobei vieles von dem, was sie schreibt, sicher auch für die Natur- und Ingenieurswissenschaften Gültigkeit besitzt (die recht einseitige Ausrichtung auf den wirtschaftlichen Nutzen ist jedenfalls auch in meinem Arbeitsbereich zu spüren). Die Frage, welchen (bzw. ob überhaupt!) gesamtgesellschaftlichen Nutzen die geisteswissenschaftliche Forschung erbringen muss, um förderwürdig zu sein, und inwiefern die letztlich ja fachfremde Politik die inhaltliche Ausrichtung der Geisteswissenschaften über die Definition von Förderkriterien und das Nutzendiktat (in ihrem Sinne?) steuern kann, darf und sollte, finde ich jedenfalls hochspannend…
„Sie [die Geisteswissenschaften] dürfen nicht mehr ihren eigenen Wegen folgen […], weil sie sonst nichts nützten und das Geld nicht wert seien, das in sie gesteckt würde. Akteure ohne geisteswissenschaftliche Kompetenz und Ahnung davon, worin die geisteswissenschaftlichen Interessen und Stärken liegen könnten, aber mit Geld und Einfluss und diesen Werten verpflichteten Interessen, halten sich seit dieser herbeigeführten Krise für autorisiert, die Geisteswissenschaften auf ihre eigenen Wege zu manövrieren und dort zu Dienstleisterinnen des gesellschaftlichen Nutzens, wie sie ihn verstehen, zu machen. Geld und Förderung gibt es für die Geisteswissenschaften, doch müssen sie von Fall zu Fall erneut verdient werden, indem geisteswissen- schaftliche Forschung und Lehre unter Überschriften und in Programme gestellt werden, die zum Teil wenig mit Wissenschaft, aber viel mit […] gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Interessen zu tun haben.”
Entgegen dem optimistischen Buchtitel beschwört Clemens Albrecht in „Vom Aufstieg und Niedergang der Geisteswissenschaften” dann auch (zumindest fast) noch das Aus für die geisteswissenschaftliche Forschung – oder doch wenigstens einen so erheblichen Umbruch, dass von freier Forschung im Sinne des Grundgesetzes im Grunde keine Rede mehr sein kann. Diese – zugegebenermaßen recht steile – These macht Albrecht an der Ausrichtung der Forschung an den Vorgaben bestimmter Fördermittelprogramme fest, die allerdings – und hier kann ich meine Anmerkung zum Text von Elisabeth von Erdmann eigentlich nur noch einmal wiederholen – auch außerhalb der Geisteswissenschaften zu beobachten ist. Den „neuen Typus des Wissenschaftlers” sehe ich persönlich zwar noch nicht, wohl aber den schleichenden Autonomieverlust durch die zunehmende Bedeutung von all den Akkreditierern, CHE-Ratern und Exzellenzauszeichnern.
„Während früher die Freiheit des Wissenschaftlers in der autonomen Wahl seines Gegenstandes bestand, dominieren heute die sozialen Zwänge der Forschungsprogramme, Drittmittelverbünde, Graduiertenkollegs und Exzellenzcluster. […] Damit entsteht ein neuer Typus in der Wissenschaft, der außengeleitete Charakter, der sich immer beweglich an die jeweils dominierenden Interessen anhängt, auf die Ausschreibungen von Forschungsprogrammen reagiert und sich selbst in die Anträge von Kollegen einbinden läßt, die er selbst nie initiiert hätte. Intrinsische Motivation, Beharren auf den eigenen Interessen, wird in dieser Forschung dysfunktional. […] Die ‚Autonomie’, die die Universität gegenüber den Ministerien erhalten hat, wird doppelt eingeschränkt durch ein dichtes Netz sozialer Kontrolle, mit dem ausgelagerte Institutionen (Akkreditierungsagenturen, Evaluations- und Qualitätssicherungsorganisationen) die Wissenschaft überziehen.”
Mal sehen…wenn bei uns am Institut wieder mehr Ruhe eingekehrt ist, finde ich sicher mal die Zeit sämtliche 27 Essays des Sammelwerks zu lesen und eine vernünftige Rezension zu verfassen. Bis dahin kann ich nur feststellen, dass das Werk für jeden, der sich Sorgen oder Gedanken über den aktuellen wie auch den zukünftigen Stand der Geisteswissenschaften in der deutschen Wissenschaftslandschaft macht, sicher kein Fehlgriff ist…
Jörg-Dieter Gauger & Günther Rüther (Hrsg.): Warum die Geisteswissenschaften Zukunft haben! Ein Beitrag zum Wissenschaftsjahr 2007, erschienen im Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau, 2007 (ISBN 978-3-451-29822-6). Die einzelnen Essays lassen sich hier kostenfrei im PDF-Format herunterladen.
Kommentare (79)