Während Joachim Gauck vor zwei Jahren nicht nur als “Kandidat der Herzen”, sondern auch als “Kandidat der Netzgemeinde” gehandelt wurde, begann nach dessen zweiter Nominierung am Sonntag ein bis heute andauernder Sturm der Gauck-Kritik bei Facebook, Twitter sowie in der Blogosphäre.
Kern der Kritik sind Aussagen Gaucks zur Occupy-Bewegung, der er – vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen in der DDR – vorhält, dass ein durch den Staat gelenktes Bankwesen keineswegs besser funktioniert (dem kann man eigentlich nur zustimmen) sowie ein kritischer Kommentar seinerseits zur Übernahme des Begriffs “Montagsdemonstrationen” durch Anti-Hartz-IV-Protestler im Jahr 2004 – auch dies dürfte vor dem Hintergrund von Gaucks Erfahrungen in einer Diktatur nachvollziehbar sein, schließlich ist eine genehmigte Demonstration in einer Demokratie kaum mit einer illegalen Demonstration in einer Diktatur zu vergleichen, in der politischen Gegnern nicht nur die psychologische “Zersetzung” durch den Geheimdienst, sondern auch Folter und Mord drohten.
Das größte Echo fand allerdings ein einzelner, aus dem Kontext gerissener Satz Gaucks aus einem zwei Jahre zurückliegenden SZ-Interview, in dem er Thilo Sarrazin “Mut” attestiert. Liest man sich das gesamte Interview einmal durch, wird jedoch schnell klar, dass Gauck das umstrittene Sarrazin-Buch gar nicht gelesen hat, dessen Biologismen grundsätzlich ablehnt und den “Mut” ganz sicher nicht darin sieht, populistische Thesen zu verbreiten, sondern vielmehr darin, ein schwieriges Thema anzusprechen, das zu oft aus der Angst heraus, falsch verstanden werden zu können, nicht angerührt wird. Von meiner – eher kommunalpolitisch geprägten – Warte aus gesehen, halte ich diesen Ansatz für durchaus richtig. Wenn “heiße Eisen” von vernünftigen Demokraten zu sehr gemieden werden, überlässt man wichtige Themen wie die Integration automatisch den Spinnern, den Radikalen, den Unruhestiftern, den Neonazis und den Populisten wie Sarrazin.
Dass man Gauck die geistige Nähe zu Sarrazin zu Unrecht attestiert, lässt sich sehr schön anhand seiner 2010 im Deutschen Theater gehaltenen Grundsatzrede demonstrieren. Der (kurze – die bisherigen Schwerpunkte Gaucks lagen ja auch in anderen Themenbereichen) Part zum Thema Integration und Zuwanderung findet sich im eingebetteten Video ab Minute 31 (obwohl natürlich die ganze Rede definitiv hörenswert ist und ich jedem Leser daher nur empfehlen kann, sich die 50 Minuten Zeit bei passender Gelegenheit zu nehmen). An das Video schließt sich ein von mir verfasstes Transkript an.
Wir wollen eine solidarische Gemeinschaft sein, so sagte ich. Das gilt natürlich auch in den Bereichen, wo viele von uns Ängste haben. Ängste etwa, wie sie in Berlin mit Händen zu greifen sind, wenn wir an Areale denken, wo allzuviele Zugewanderte und allzuwenig Altdeutsche leben.
Sie kennen doch das Problem, wenn die Kinder plötzlich aus der Schule abgemeldet werden. Also das ist uns allen sehr vertraut – und ständig werden Ressentiments gepflegt und werden auch neu wieder ins Leben gebracht und wieder andere rackern sich ab, sie zu minimieren.
Das ist ein langwieriger Prozess. Wir werden noch lange mit diesen Ressentiments zu kämpfen haben – aber das kann uns doch nicht daran hindern, eine aufnehmende und einladende Gesellschaft zu werden. Jeder weiß doch, dass schon die bloße Vernunft uns sagt – wenn schon nicht die Neigung – dass wir unsere Zuwanderer brauchen, schon allein aus demografischen Gründen. Könnten nicht die, wenigstens, die keine Neigung haben, sich dem Fremden anzuschließen – könnten sie nicht wenigstens die Vernunft benutzen, um einen Weg zu ihnen zu finden?
Vor kurzem, meine Damen und Herren, war ich in einer Begegnung tief bewegt als ich die mangelnde Beheimatung spürte, die viele von ihnen noch immer verspüren, selbst wenn sie hier geboren wurden. Ich dachte kurz an meine Begegnung mit verschiedenen Zugewanderten in den USA; ich habe [dort] immer wieder Leute getroffen, die ein, zwei Jahre dort waren, aus Asien und Afrika kommend und die mich anschauten und anstrahlten:
“Yes, that’s my country and I like it.”
Dieses Lachen im Gesicht: Ich bin hier, ich bin hier zu Hause. Ich war fremd, aber ich bin hier. Und nun kam ich zurück und mir begegnet eine junge Frau, die als Tochter türkischer Eltern hier zur Schule ging; sie ist akademisch ausgebildet und ist in führender Position in unserem Gemeinwesen tätig.
Sie ist politisch aktiv, sie ist “on the top”. Und als ich mich vorstelle in einer unserer Bundestagsfraktionen sitzt sie nun neben mir und schaut mich an und sagt zu mir mit ihrem offenen Gesicht:
“Sie haben davon gesprochen, dass wir das Volk sind und dass wir ein Volk sind. Und – bin ich denn auch dabei wenn Sie so sprechen?”
Es war eine Minute die dann kam, in der keiner von uns sprechen konnte. Und ich merkte plötzlich im Herzen was mein Kopf schon wusste: Wie weit wir noch entfernt sind von einer Gesellschaft in der die, die hier sein wollen, auch in der Nähe dessen sind, was wir schätzen – auch in unserer Nähe sind. Und wie auch immer wir über die Probleme der Zuwanderung denken – an diesem Punkt könnte ein wenig mehr “Vereinigte Staaten” in das Gemüt dieser Nation tropfen.
Ich weiß, das Ressentiments nicht nur auf der Seite derer sind, die hier schon immer waren. Ist auch ganz klar. Ich gehöre nun nicht zu denen, die in absoluter Reinheit die Vokabeln der Political Correctnes aufsagen wollen.
Also: Natürlich muss man auch Herrn Buschkowsky zuhören hier in Berlin. Er spricht Gefühle aus, die ausgesprochen werden müssen. Und wir erinnern uns daran, dass wenn eine Seite sich schützt mit Ressentiments und Abgrenzung, die andere Seite natürlich nur dazu angeregt wird, das zu tun, was sie ohnehin schon kann: sich ihrerseits abzugrenzen, Kulturen der Abgrenzung und Abschottung zu bilden. Und das kann uns nicht gefallen. Wir werden also auch in diese Richtung sprechen: Leute, Mitbewohner, Mitbürger: Wenn ihr wollt, dass eure Kinder mitspielen als Anwalt, als Kaufmann, als Journalistin und als Abgeordnete – dann sorgt dafür, dass sie rechtzeitigt Deutsch lernen. Nicht schlecht wäre es, ihr würdet es auch lernen. Diese Dinge müssen wir doch auch [aus]sprechen: Verantwortung gehört in alle Teile der Gesellschaft.
Auf die 140 Zeichen eines Tweets verkürzt lautet die Botschaft dieser Rede “WTF? #Gauck findet, es gibt in Berlin zuwenig “Altdeutsche”! #Sarrazin #notmypresident”. Dass sich die Realität etwas anders darstellt, erschließt sich bei diesem (künftigen) Präsidenten nur dann, wenn man bereit ist, sich die nötige Zeit für seine oft eher umfangreichen Ausführungen zu nehmen. Es mag in Zeiten von Web 2.0 und 5-Minuten-Newsclips im TV unüblich sein – aber für diesen Präsidenten werden wir das aufmerksame Zuhören wohl wieder lernen müssen.
Schaden wird uns dies sicher nicht.
Unterstützt das Thema OpenAccess beim ZukunftsdialogNähere Informationen zu diesen beiden Vorschlägen finden sich hier. |
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