Die Diskussion um die religiöse Beschneidung ist durch Vorurteile und Missinterpretationen erschwert. Es ist an der Zeit, zumindest einige davon aus dem Weg zu räumen und mit etwas Abstand das Thema nüchtern und zur Abwechslung von einem rein juristisch-medizinischen Standpunkt zu betrachten. Ein Gastbeitrag von Dr. Ludwig Klam.
Seit dem Urteil des Landgerichtes Köln zu religiös motivierten Beschneidungen bei männlichen Juden und Muslimen, schlagen die Wellen nicht nur in der Blogosphäre hoch. Während die einen den Exodus jüdischer Gemeinden aus der Bundesrepublik befürchten, sehen andere in dem Urteil eine mehr als willkommene staatliche Grenzziehung im Bereich der religiösen Prägung und Erziehung. Auch hier auf den ScienceBlogs wurde das Urteil mit viel emotionalen Engagement hier bei Florian Freistetter, hier und hier bei Cornelius Courts und hier bei unserem SB-Redaktionschef Jürgen Schönstein diskutiert, wobei das “Urteil zum Urteil” stets positiv ausfiel. Ich freue mich, dass dank eines lesenswerten und umfangreich recherchierten Gastbeitrags von Dr. Ludwig Klam, der als Physiker an der ETH Zürich forscht und vielen hier sicher als gleichnamiger Kommentator bekannt ist, heute auch einmal eine Gegenposition auf den ScienceBlogs zur Diskussion gestellt werden kann. Für eben diese bitte ich schon vorab alle Kommentatorinnen und Kommentatoren um den gleichen ruhigen Tonfall, durch den sich auch der Gastbeitrag auszeichnet. Vielen Dank!
“Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst.”
(Voltaire)
Fangen wir an mit den Grundrechten, d.h. mit dem deutschen Grundgesetz.
Zunächst einmal zum häufig missverstandenen Zweck des Grundgesetzes: Denn im Gegensatz zu anderen Gesetzen und Vorschriften die der Staat erlässt um das Zusammenleben zu regeln, formuliert das Grundgesetz in erster Linie Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. Das Grundgesetz ist also für uns Bürger gedacht, um uns gegen staatliche Willkür zur Wehr zu setzen – das schliesst sowohl die Exekutive, Legislative als auch die Judikative mit ein. Das de-facto Beschneidungsverbot des Kölner Urteils führt also zu den folgenden zwei Fragen: a) Ist eine Beschneidung aus religiösen Gründen wirklich verfassungswidrig? b) Ist dieses de-facto Beschneidungsverbot ein grundgesetzkonformer Eingriff des Staates in das Leben der Bürger?
In den Medien ist die Meinung ziemlich verbreitet, dass es bei der Beschneidungsfrage einen Grundrechtekonflikt gibt. Die körperliche Unversehrtheit des Kindes auf der einen Seite und die Religionsfreiheit auf der anderen Seite (siehe auch die ScienceBlogs-Artikel hier und hier). Es lohnt sich aber, diesen scheinbaren oder tatsächlichen Grundrechtekonflikt etwas genauer zu beleuchten. Gehen wir einfach die Grundrechte der Reihe nach durch, die bei der Beschneidung eine Rolle spielen können:
Die körperliche Unversehrtheit (GG Art. 2)
(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.
Wir stellen zweierlei fest:
- gilt das Recht auf körperliche Unversehrtheit nicht absolut. Genau wie viele andere Grundrechte auch, hat das Recht auf körperliche Unversehrtheit seine Grenzen – die im Gegensatz zu anderen Grundrechten hier aber explizit durch den Verweis auf Gesetze genannt werden. In einigen Situationen darf der Staat in dieses Recht eingreifen. Beispiele hierfür sind z.B. die Impfpflicht im Seuchenfall (die seit 1983 nicht mehr zur Anwendung kam), eine Zwangs-Blutabnahme von potentiellen Straftätern, etc.
- handelt es sich bei GG Art. 2 um ein sog. disponibles Rechtsgut. D.h. die entsprechende Person kann nach freiem Willen über ihre Unversehrtheit entscheiden und auch darauf verzichten. Das setzt natürlich erstmal einen freien Willen voraus (hier ist natürlich nicht die philosophische Diskussion gemeint) – falls dieser noch nicht vorhanden ist oder nicht geäussert werden kann, muss man Gesetze zurate ziehen.
Im Gegensatz zu einigen anderen Grundrechten ist Art. 2 deshalb eher schwach, denn es ist nicht vorbehaltlos und es kann darauf verzichtet werden. Und das ist auch so gewollt, wie sich bei der Diskussion um medizinische Eingriffe zeigen wird.
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