Die Diskussion um die religiöse Beschneidung ist durch Vorurteile und Missinterpretationen erschwert. Es ist an der Zeit, zumindest einige davon aus dem Weg zu räumen und mit etwas Abstand das Thema nüchtern und zur Abwechslung von einem rein juristisch-medizinischen Standpunkt zu betrachten. Ein Gastbeitrag von Dr. Ludwig Klam.
Seit dem Urteil des Landgerichtes Köln zu religiös motivierten Beschneidungen bei männlichen Juden und Muslimen, schlagen die Wellen nicht nur in der Blogosphäre hoch. Während die einen den Exodus jüdischer Gemeinden aus der Bundesrepublik befürchten, sehen andere in dem Urteil eine mehr als willkommene staatliche Grenzziehung im Bereich der religiösen Prägung und Erziehung. Auch hier auf den ScienceBlogs wurde das Urteil mit viel emotionalen Engagement hier bei Florian Freistetter, hier und hier bei Cornelius Courts und hier bei unserem SB-Redaktionschef Jürgen Schönstein diskutiert, wobei das “Urteil zum Urteil” stets positiv ausfiel. Ich freue mich, dass dank eines lesenswerten und umfangreich recherchierten Gastbeitrags von Dr. Ludwig Klam, der als Physiker an der ETH Zürich forscht und vielen hier sicher als gleichnamiger Kommentator bekannt ist, heute auch einmal eine Gegenposition auf den ScienceBlogs zur Diskussion gestellt werden kann. Für eben diese bitte ich schon vorab alle Kommentatorinnen und Kommentatoren um den gleichen ruhigen Tonfall, durch den sich auch der Gastbeitrag auszeichnet. Vielen Dank!
“Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst.”
(Voltaire)
Fangen wir an mit den Grundrechten, d.h. mit dem deutschen Grundgesetz.
Zunächst einmal zum häufig missverstandenen Zweck des Grundgesetzes: Denn im Gegensatz zu anderen Gesetzen und Vorschriften die der Staat erlässt um das Zusammenleben zu regeln, formuliert das Grundgesetz in erster Linie Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. Das Grundgesetz ist also für uns Bürger gedacht, um uns gegen staatliche Willkür zur Wehr zu setzen – das schliesst sowohl die Exekutive, Legislative als auch die Judikative mit ein. Das de-facto Beschneidungsverbot des Kölner Urteils führt also zu den folgenden zwei Fragen: a) Ist eine Beschneidung aus religiösen Gründen wirklich verfassungswidrig? b) Ist dieses de-facto Beschneidungsverbot ein grundgesetzkonformer Eingriff des Staates in das Leben der Bürger?
In den Medien ist die Meinung ziemlich verbreitet, dass es bei der Beschneidungsfrage einen Grundrechtekonflikt gibt. Die körperliche Unversehrtheit des Kindes auf der einen Seite und die Religionsfreiheit auf der anderen Seite (siehe auch die ScienceBlogs-Artikel hier und hier). Es lohnt sich aber, diesen scheinbaren oder tatsächlichen Grundrechtekonflikt etwas genauer zu beleuchten. Gehen wir einfach die Grundrechte der Reihe nach durch, die bei der Beschneidung eine Rolle spielen können:
Die körperliche Unversehrtheit (GG Art. 2)
(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.
Wir stellen zweierlei fest:
- gilt das Recht auf körperliche Unversehrtheit nicht absolut. Genau wie viele andere Grundrechte auch, hat das Recht auf körperliche Unversehrtheit seine Grenzen – die im Gegensatz zu anderen Grundrechten hier aber explizit durch den Verweis auf Gesetze genannt werden. In einigen Situationen darf der Staat in dieses Recht eingreifen. Beispiele hierfür sind z.B. die Impfpflicht im Seuchenfall (die seit 1983 nicht mehr zur Anwendung kam), eine Zwangs-Blutabnahme von potentiellen Straftätern, etc.
- handelt es sich bei GG Art. 2 um ein sog. disponibles Rechtsgut. D.h. die entsprechende Person kann nach freiem Willen über ihre Unversehrtheit entscheiden und auch darauf verzichten. Das setzt natürlich erstmal einen freien Willen voraus (hier ist natürlich nicht die philosophische Diskussion gemeint) – falls dieser noch nicht vorhanden ist oder nicht geäussert werden kann, muss man Gesetze zurate ziehen.
Im Gegensatz zu einigen anderen Grundrechten ist Art. 2 deshalb eher schwach, denn es ist nicht vorbehaltlos und es kann darauf verzichtet werden. Und das ist auch so gewollt, wie sich bei der Diskussion um medizinische Eingriffe zeigen wird.
Das Diskriminierungsverbot (GG Art. 3)
(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.
Dieses Grundrecht ist ein starkes Grundrecht, da vorbehaltlos und nicht disponibel. D.h. selbst wenn es die diskriminierte Person in Ordnung findet, vom Staat benachteiligt zu werden, kann eine Verfassungsbeschwerde eingelegt werden. Was hat dieses Grundrecht nun mit der Beschneidung zu tun?
Das Kölner Urteil hat die Beschneidung aus religiösen Motiven in Deutschland (bis zur neuen gesetzlichen Regelung) zu einer strafbaren Handlung erklärt. Bei der Urteilsbegründung argumentieren die Richter ausschliesslich im Hinblick auf die religiöse Motivation der Eltern. Auch die derzeitig diskutierte Online-Petition zum “Verbot von Beschneidungen bei Minderjährigen” fordert explizit eine Diskriminierung nach religiösen Gründen (deshalb verlinke ich diese darüberhinaus stümperhaft formulierte Petition auch nicht). Eine solche Diskriminierung ist aber laut GG Art. 3 vorbehaltlos verboten.
Die Religionsfreiheit (GG Art. 4)
(2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.
Dieses Grundrecht ist ebenfalls ein starkes Grundrecht, denn es ist vorbehaltlos. Natürlich gilt dieses Grundrecht nicht absolut – es findet genau wie die anderen Grundrechte dort seine Schranken, wo andere Grundrechte verletzt werden. Es wird häufig argumentiert, dass dieser Artikel (insbesondere Absatz 1) auch die Freiheit des Nicht-Glaubens schützt. Das ist soweit völlig richtig. Diese sog. “negative Religionsfreiheit” stünde dann aber laut weiterer Argumentation auf Seiten des Kindes und man müsste dann das Kind deshalb vor jeglichem religiösem Einfluss schützen, damit es später selbst eine unbeeinflusste Entscheidung treffen könne. Das ist aus verfassungsrechtlicher Sicht falsch: Eine solche “negative Religionsfreiheit” ist reine Unterstellung und Spekulation.
Das Fürsorgepflicht der Eltern (GG Art. 6)
(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.
Bei diesem Grundrecht wird wieder explizit eine Beschränkung genannt, nämlich das sog. Wächteramt des Staates. Allerdings ist Art. 6 nicht disponibel: Die Eltern haben nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, ihre Kinder zu pflegen und zu erziehen. Dieses Grundgesetz ist auch der Grund dafür, dass es keine “negative Religionsfreiheit” geben kann: Wie sollen die Eltern ihre Kinder pflegen und erziehen und dabei vor jeglichem religiösem Einfluss schützen (auch gegen die eigene Überzeugung der Eltern)?
Wie man sieht sind also mehr Grundrechte betroffen, als man auf den ersten Blick meinen könnte. Dabei stellt Georg Neureither im Verfassungsblog – an dessen Argumentation ich mich hier anlehne – zurecht fest: “Interessant ist dabei, dass sich in der Diskussion durch das Hinzutreten der Religion die Dinge eher gegen die Eltern wenden als zu ihnen, obwohl sie mit Art. 4 I, II GG nun ein weiteres Grundrecht an ihrer Seite haben, und noch dazu ein „starkes”, weil vorbehaltloses. Das ist zumindest kontraintuitiv.”
Mir scheint das noch sehr vorsichtig formuliert zu sein, denn aus keinem einzigen der diskutierten Grundrechte lässt sich direkt ableiten, dass die Beschneidung von Jungen verfassungswidrig wäre – im Gegenteil: Das Diskriminierungsverbot, die Religionsfreiheit und die Fürsorgepflicht der Eltern sprechen alle dafür, dass sich der Staat aus der Beschneidungsfrage heraushalten und die Entscheidung den Eltern überlassen sollte. Auch das Recht auf körperliche Unversehrtheit ist direkt jedenfalls nicht anwendbar, da die Eltern im Rahmen der Fürsorgepflicht für die Kinder Entscheidungen treffen. Trotzdem dürfen Eltern natürlich nicht alles mit ihren Kindern machen, was sie wollen. Auch hier gibt es Grenzen. Aber diese werden durch Gesetze (und nicht durch das Grundgesetz) geregelt. Deshalb soll es im Folgenden darum gehen, wann Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit von Kindern erlaubt sind, und wann nicht. Denn das ist die alles entscheidende Frage.
Wie argumentieren die Ärzte?
Im Folgenden fasse ich die relevante Argumentation aus zwei Artikeln im Ärzteblatt zusammen. Ich empfehle insbesondere den kürzeren Artikel (hier der längere). Zuerst möchte ich die offengebliebene Frage beantworten, warum der körperlichen Unversehrtheit im Grundgesetz eine so restriktive Rolle zukommt. Die Antwort ist einfach: Jeder medizinische Eingriff ist eine Körperverletzung:
Die Rechtsprechung zum Heileingriff, der ärztlichen Aufklärung und der Patienteneinwilligung ist äußerst komplex (1-25). Ausgehend von der Auffassung des Reichsgerichtshofs aus dem Jahre 1894 (RGSt 25, 375) und der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (BGHSt 35, 246) stellt jeder ärztliche Heileingriff tatbestandlich eine Körperverletzung dar im Sinne der §§ 223 ff. StGB; 823 I BGB.
Ja sogar diagnostische Eingriffe und auch das Haareschneiden/Rasieren sind eine Körperverletzung und damit ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit. Machen sich jetzt alle Ärzte in Deutschland strafbar? Nein, natürlich nicht. Dass jeder ärztliche Eingriff eine Körperverletzung darstellt ist einfach nur Terminologie. Die Strafbarkeit von Körperverletzungen wird nämlich separat geregelt. Sobald eine Einwilligung des Patienten vorliegt, macht sich der Arzt nicht strafbar (abgesehen von Ausnahmen, die uns jetzt nicht interessieren). Das ist genau der Grund, warum das Recht auf körperliche Unversehrtheit ein “disponibles Rechtsgut” ist – wäre es das nicht, dann wäre jeder ärztliche Eingriff verboten. Nun sind aber Kinder noch nicht einwilligungsfähig (die Altersgrenze liegt ungefähr bei 14 Jahren) – und trotzdem müssen die Haare geschnitten werden, ärztliche Vorsorgeuntersuchungen gemacht werden, prophylaktische Massnahmen ergriffen werden oder sogar in Notfällen sofort behandelt werden. In all diesen Fällen sind die Eltern entscheidungsberechtigt.
Ihre Einwilligung ist gemäß § 1627 Satz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs allerdings daran gebunden, dass die Personensorge „zum Wohl des Kindes” ausgeübt wird, andernfalls sind die Personensorgeberechtigten nicht dispositionsbefugt. Damit eine Entscheidung im „Wohl des Kindes” liegt, muss sie seinen Interessen entsprechen, vereinfacht formuliert: vorteilhaft sein. Sind mit einer Maßnahme auch Nachteile verbunden, müssen sie von den Vorteilen überwogen werden. Letztlich läuft alles auf eine Güterabwägung hinaus.
Daher stammt also das vielzitierte “Wohl des Kindes”. Und jetzt ergibt sich auch ein konsistentes Bild, warum die in diesem Zusammenhang immer wieder erwähnte weibliche Genitalverstümmelung sowie die Prügelstrafe verboten sind: in beiden Fällen überwiegen eindeutig die Nachteile. Und wenn die Nachteile überwiegen, dann kann eine Massnahme nicht dem Wohl des Kindes dienen und die Eltern dürfen auch nicht darüber entscheiden. Diese Überlegungen haben aus ärztlicher Sicht nichts mit einem Grundrechtekonflikt oder mit “praktischer Konkordanz” zu tun. Es geht einzig und alleine um eine Abwägung der medizinischen Vor- und Nachteile einer Beschneidung nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch.
Soviel zum unbestrittenen Argumentationspfad. Als nächstes muss nun bestimmt werden, wie die Abwägung bei einer Beschneidung ausfällt. Denn prinzipiell ist eine Beschneidung aus ärztlicher Sicht auch nicht anders zu werten als das Entfernen von Rachen-Mandeln, das Operieren von Nasen-Polypen, das Impfen oder das verordnen von Zahnspangen. Es sind alles Eingriffe/Körperverletzungen, die im nicht-einwilligungsfähigen Alter nur durchgeführt werden dürfen, wenn der Eingriff vorteilhaft für das Kind ist. Ob es sich dabei um eine akute Massnahme handelt, ob der Eingriff erst später seine vorteilhafte Wirkung entfaltet, ob die Massnahme prophylaktisch ist, oder ob der Eingriff nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit Vorteile/Nachteile bringt, spielt alles überhaupt keine Rolle. Ausserdem ist das “Kindeswohl” meiner Meinung nach auch nicht wortwörtlich zu verstehen. Es geht hier nicht darum, nur Eingriffe zuzulassen, die dem Kind im Kindesalter zugute kommen. Vielmehr ist das Kindeswohl so zu verstehen, dass der Eingriff der Person zugute kommt, die zur Zeit des Eingriffs noch ein Kind ist. So verursachen Zahnspangen im Kindesalter nur Schmerzen – die Vorteile entfalten sich hingegen erst überwiegend im Erwachsenenalter. Trotzdem wird wohl niemand bestreiten, dass die Zahnspange dem Kindeswohl dient.
Der kurze Artikel im Ärzteblatt, wie auch die Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie oder die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin kommen alle zum Ergebnis, dass die Nachteile schwerer wiegen als die Vorteile. Auf eine Begründung durch Berufung auf die Fachliteratur wird in so gut wie allen Stellungnahmen vollständig verzichtet. Falls die Einschätzung der zitierten Verbände und Vereine stimmt (und die Nachteile wirklich so schwerwiegend sind, wie dargestellt), dann sollte die prophylaktische Beschneidung (egal aus welchen Motiven) vom Gesetzgeber verboten werden – und zwar genauso wie die Prügelstrafe auch. Denn Massnahmen, die dem Kind schaden, sollten unter keinem Vorwand legitimiert werden. Zumindest dann nicht, wenn unsere oberste Priorität dem Kindeswohl gilt.
Wie argumentieren die Kölner Richter?
Das Kölner Urteil ist hier nachzulesen – und sollte auch für jeden nach der obigen Einführung einigermassen verständlich sein. Leider wird es viel zu häufig in den Medien völlig falsch zitiert. So titelten z.B. verschiedenste Zeitungen, dass laut Kölner Urteil, die Beschneidung Körperverletzung sei. Inzwischen wissen wir es aber besser als die Medien: Jeder medizinische Eingriff ist eine Körperverletzung – deshalb kann die Aussage des Kölner Urteils gar nicht so gelautet haben – oder etwa doch?
Auf den Verbotsirrtum des Arztes und den damit verbundenen Freispruch, den konkreten Fall (von einem Arzt lege artis durchgeführte Beschneidung auf Wunsch muslimischer Eltern mit anschliessender Komplikation), etc. will ich gar nicht eingehen, dazu kann man entweder gleich das Urteil lesen, oder die vielen Artikel in den Medien. Interessant ist eigentlich die allesentscheidende Frage, wie das Kölner Gericht die Abwägung zum Kindeswohl vornimmt – dazu schweigen sich nämlich die Medien aus.
Leider findet man zu dieser zentralen Frage nur zwei kurze Textstellen im Urteil. Die erste ist eine einleitende Anmerkung
Außerdem besteht – so der Sachverständige – jedenfalls in Mitteleuropa keine Notwendigkeit Beschneidungen vorbeugend zur Gesundheitsvorsorge vorzunehmen.
die nur Vermutungen über die Abwägung zulässt (sind nicht-notwendige gesundheitliche Vorbeugemassnahmen zwangsweise schädlich für das Kindeswohl?) und die zweite Stelle beginnt folgendermassen:
Eine Einwilligung der Eltern lag vor, vermochte indes die tatbestandsmäßige Körperverletzung nicht zu rechtfertigen.
Hier erwartet man jetzt – wie oben ausgeführt – eine medizinische Begründung, stattdessen liest man aber:
Nach wohl herrschender Auffassung in der Literatur (vgl. Schlehofer […]; Lenckner/Sternberg-Lieben […]; Jerouschek […]; wohl auch Exner a.a.O.; Herzberg a.a.O.; Putzke a.a.O.) entspricht die Beschneidung des nicht einwilligungsfähigen Knaben weder unter dem Blickwinkel der Vermeidung einer Ausgrenzung innerhalb des jeweiligen religiös gesellschaftlichen Umfeldes noch unter dem des elterlichen Erziehungsrechts dem Wohl des Kindes.
Ob das “wohl” in “Nach wohl herrschender Auffassung […]” Unsicherheit ausdrücken soll, kann ich als Laie nicht beurteilen – befremdlich klingt es aber schon, wenn sich die Richter nicht ganz sicher sein sollten, ob das wirklich die herrschende Auffassung in der Literatur ist. In dem Fall wäre – zumindest im Hinblick auf die Tragweite des Urteils – eine ausführlichere Literatursuche wohl nicht zuviel verlangt gewesen. Wie dem auch sei: Statt einer medizinischen Abwägung werden nur soziokulturelle Gründe zitiert. Was ist aber mit medizinischen Vor-/Nachteilen? Spielen die etwa bei der Beurteilung von Operationen keine Rolle?
Da ich mir selbst keine Bewertung des Urteils anmasse (obwohl mir die Texte von Putzke bekannt sind), möchte ich im Folgenden die mir recht plausibel erscheinende Kritik von Beulke und Dießner an dem Urteil (bzw. der dort übernommenen Argumentation aus der zitierten Literatur) zusammenfassen:
- Das Kölner Gericht ignoriert die Gegenposition in der Fachliteratur – vertreten durch die Autoren Rohe, Zähle, Schwarz, Fateh-
Moghadam, Valerius und Schramm. (Wer interessiert ist, dem empfehle ich den ausführlichen Artikel von Fateh-Moghadam.) - Dem Autor Putzke wird Willkür bei seiner Nutzen-/Schadens-Bilanzierung vorgeworfen.
- Jerouschek wird vorgeworfen, den de-facto Verfassungsrang des Kindeswohls nicht zu berücksichtigen.
- Scharfe Kritik wird an Herzberg adressiert:
Würde der Gesetzgeber insoweit Vorschriften erlassen, würde er das Gebot religiöser Neutralität verlassen und sich zum Religionsgelehrten aufschwingen. Als Beispiel dafür, was einen dann erwarten würde, seien die Äußerungen Herzbergs[76] genannt, der sich zu Überlegungen verleiten lässt, auf welche Weise das Judentum bzw. der Islam die aus seiner Sicht gebotene Wartezeit bis zur selbstbestimmten (Verweigerung der) Beschneidung überbrücken könnte.[77]
- Den zitierten Autoren wird vorgeworfen, sich auf unbegründete Behauptungen zu stützen:
Die von Putzke, Herzberg, Schlehofer, Sternberg-Lieben und Jerouschek behauptete Pflicht der Eltern, von unumkehrbaren, mit körperlichen Auswirkungen behafteten Bekenntnissen bis zum Eintritt der Einwilligungsfähigkeit des Knaben Abstand zu nehmen, lässt sich aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht begründen und auch dem einfachen Recht nicht entnehmen. Im Übrigen würde eine solche Verpflichtung in das durch die Eltern bis zum Erreichen der Religionsmündigkeit fiduziarisch ausgeübte Recht des Kindes auf ungestörte Religionsausübung eingreifen, also – aus grundrechtsdogmatischer Sicht – nicht weniger eingriffsintensiv sein.
Das Fazit von Beulke und Dießner zum Kölner Urteil und der darin zitierten Literatur fällt vernichtend aus. Offensichtlich wird ein Zirkelschluss begangen (der in den Medien breitgetreten wird, wie weiter oben angesprochen):
Liest man die Veröffentlichungen zu dem Thema, so fühlt man sich an die Worte „Rose is a rose is a rose is a rose” von Getrude Stein erinnert: Weil die Beschneidung eine Verletzung des Körpers darstellt, ist die Einwilligung in die Körperverletzung unwirksam und die Körperverletzung damit strafbar. Wie gezeigt worden ist, ist es so einfach nicht. Die Entscheidung des LG Köln ist zunächst einmal eines: ärgerlich.
Diese Kritik – unter anderem auch an dem Freispruch und der damit verbundenen Unmöglichkeit der weiteren Klärung durch das Bundesverfassungsgericht – ist auch in zahlreichen juristischen Blog–Artikeln nachzulesen. Schliesslich gipfelt die Kritik im Vorwurf “Fiat iustitia, et pereat mundus!”, auf Deutsch etwa “Es soll Gerechtigkeit geschehen, und gehe die Welt darüber zugrunde”.
Was sagt die medizinische Forschung?
Um sich einen kleinen Überblick über den Stand der Forschung zu einem Thema zu verschaffen in dem man sich überhaupt nicht auskennt, kann man erstmal eine kleine Literatursuche empfehlen. Google Scholar ist dazu hervorragend geeignet und wird auch in vielen Fällen als zusätzliches Tool bei der wissenschaftlichen Literatursuche benutzt, da spezialisierte Suchmaschinen z.T. einige relevante Artikel nicht/noch nicht auflisten. Um nicht alle 16000 aufgelistete Artikel zu “circumcision” durchzugehen, sollte man die Suche etwas einschränken. Z.B. mit den Suchbegriffen “male circumcision” “systematic review”, die Suche auf aktuelle Artikel beschränken (z.B. ab 2008) und die Patente und Zitate ausschliessen. Laut den Abstracts der ersten 5 Seiten, finden sich 23 Arbeiten, die den gesundheitlichen Vorteil durch Beschneidung hervorheben und 21 Arbeiten, die sich nicht dazu äussern. Arbeiten, die einen Nachteil für Beschnittene sehen, finden sich überhaupt nicht – selbst wenn man noch weitere 10 Seiten anhand der Titel überfliegt, taucht keine beschneidungskritische Arbeit auf.
Dabei habe ich sehr strenge Kriterien angelegt: Sobald eine Arbeit zwar Vorteile der Beschneidung benennt, aber noch weiteren Forschungsbedarf sieht um eine Empfehlung auszusprechen, habe ich die Arbeit zu der zweiten Gruppe gezählt.
Natürlich behandeln die meisten Arbeiten in dieser groben Suche sehr verschiedene Themen. Deshalb ist es sinnvoll die Literatursuche weiter einzuschränken und z.B. nach Reviews zu suchen, die das genaue Thema behandeln, nämlich die medizinischen Vor-/Nachteile der prophylaktischen Beschneidung von Jungen in entwickelten Ländern. Dazu findet man die folgenden aktuellen Reviews in der Literatur, die ich nun im Einzelnen durchgehen möchte:
(Anmerkung: Ich stütze mich deshalb ausschliesslich auf Reviews, weil sie den Stand der Wissenschaft zu einem Thema zusammenfassen und bewerten.)
Robert S. van Howe, “How the circumcision
solution in Africa will increase HIV infections”
Auch wenn man schon am Titel erkennt, dass dieser Review nicht wirklich die oben genannten Such-Kriterien erfüllt (es geht nur um den Teilaspekt HIV und es geht um Afrika und nicht um entwickelte Länder), wollte ich trotzdem einen beschneidungskritischen Review/Autor in diese Liste aufnehmen, u.a. auch, weil van Howe anscheinend ein ziemlich prominenter Gegner der Beschneidung zu sein scheint – zumindest hat er in einem Beitrag für die Nature Publishing Group einen Viewpoint zu diesem Thema verfasst. Wie dem auch sei, eine qualitativ hochwertige Zusammenfassung zum Thema Beschneidung findet man von ihm jedenfalls nicht.
Van Howe behauptet in seinen Arbeiten folgendes:
- Die Beschneidung sei nicht kosteneffektiv.
- Sanftere Behandlungsmethoden seien der medizinisch indizierten Beschneidung bei Vorhautverengungen vorzuziehen.
- Die in der Fachliteratur diskutierten Vorteile seien nicht vorhanden.
- Eine Beschneidung wirkt sich negativ auf das sexuelle Empfinden und die Funktion aus.
- Das Wissen um die Vorteile der Beschneidung fördere riskanteres Sexualverhalten.
- Die Komplikationsrate bei Beschneidungen sei aussergewöhnlich hoch. “Phimose (1-2%)” wird u.a. als Komplikation einer Beschneidung angegeben.
- HIV würde in Afrika vornehmlich durch Ärzte übertragen.
Ich denke nicht, dass man zu den Punkten etwas sagen muss, denn zu jedem einzelnen existiert eine Fülle von medizinischer Fachliteratur inklusive Reviews, die von van Howe nur äusserst selektiv und sparsam zitiert wird, – abgesehen natürlich von den letzten beiden absurden Punkten, bei denen es einem auch als Laien die Sprache verschlägt.
Niederschmetternde Kritik zu van Howes Review findet man aber gleich in der nächsten Ausgabe der Zeitschrift hier und hier. Auch interessant ist die Abbildung 1 in van Howes Review, die wegen fehlender Skalierung der Achsen komplett leer ist – man fragt sich wirklich, wie es eine solche Arbeit durch den Peer-Review schafft: es sind ja nicht einmal formale Mindeststandards erfüllt.
Auch wenn der Titel dieses Reviews recht vielversprechend ist, erfüllt er nicht die Erwartungen. In diesem Review wird die Literatur nach sehr strengen Regeln durchfiltert, so dass von 1200 Studien nur noch 8 Studien in die engere Auswahl genommen werden. Themen dieser 8 Studien sind hauptsächlich HIV-Prävention durch Beschneidung in Afrika (3 Studien), das sexuelle Risikoverhalten (1 Studie), die sexuelle Befriedigung und Funktion (1 Studie) und weitere Studien zur Sicherheit der Beschneidung und dem Schmerzempfinden. Das Fazit aus diesen Studien lautet gemäss Review:
- Schwere Komplikationen infolge von Beschneidungen sind selten. Insbesondere wird von keinen Todesfällen berichtet.
- Genitalgeschwüre sind bei Beschnittenen signifikant seltener als bei Unbeschnittenen.
- Beschnittene Männer in einigen afrikanischen Ländern stecken sich signifikant seltener mit HIV an.
- Die Beschneidung erwachsener Männer beeinflusst nicht die sexuelle Befriedigung und Funktion.
Ausserdem zweifeln die Autoren daran, dass die Ergebnisse aus den Studien zur HIV-Prävention der Beschneidung auf andere Länder übertragbar sind. Unklar sei auch, ob die Beschneidung von Erwachsenen zu einem Rückgang sexuell übertragbarer Krankheiten, Harnwegsinfektionen und Peniskrebs führt. Die Autoren empfehlen keine umfassende prophylaktische Beschneidung Neugeborener, weil die Studienlage dazu zu dürftig sei.
Die letzten zwei Aussagen führten zu heftigem Widerspruch in den Kommentaren zu diesem Review. Denn die strengen Anforderungen an das Studiendesign sind aus ethischen Gründen nur schwer zu erfüllen. Ausserdem wird den Autoren vorgeworfen, einige Studien nicht zu zitieren (“Cherry-picking”). Problematisch in diesem Zusammenhang ist wohl auch die Aktualität: Die Autoren haben in dem 2010 publizierten Review nur Literatur bis zum Jahr 2008 berücksichtigt. Inzwischen hat sich die Studienlage aber dramatisch verändert was unter anderem daran auffällt, dass in vielen der Kommentare deutlich mehr Zitate enthalten sind als im Review selbst, der es nur auf lausige 29 Zitate bringt. So wird z.B. ein Cochrane Review (das ist eine qualitativ besonders hochwertige Arbeit) von 2009 zu dem Thema nicht zitiert. Damit ist dieser Review bereits bei dessen Publikation veraltet gewesen.
Brian J. Morris et al., “Infant male circumcision: An evidence-based policy statement” (2012)
Dieser Review ist mit Abstand der aktuellste, vollständigste und umfassendste zur prophylaktischen Beschneidung von Jungen. Eine themenspezifische Suche auf PubMed liefert diesen Review als inhaltlich einzigen passenden Treffer in einer überschaubaren Liste. Natürlich gibt es noch weitere detailliertere Reviews zu Einzelaspekten der Beschneidung, diese werden aber a) alle im Morris-Review zitiert und kommen b) alle bis auf ganz wenige Aussnahmen zum gleichen Fazit. Die knapp 200 zitierten Fachpublikationen zeugen ebenfalls von der Qualität des Reviews. Es wird die gesamte relevante Literatur zum Thema nach einem standardisiertem Verfahren bewertet und übersichtlich dargestellt. Es werden die Vorteile und Risiken der Beschneidung gegenübergestellt und quantitativ bewertet. Zusätzlich wird auch noch ein Mass für die Verlässlichkeit der gemachten Aussagen angegeben. Der Review zitiert nicht nur einseitig Fachpublikationen die die prophylaktische Beschneidung befürworten oder kritisieren, sondern berücksichtigt beides und deckt von den Themen alles ab, was bisher in der Literatur diskutiert wurde (ca. 15 Krankheiten, Kosteneffektivität, Hygiene, sexuelle Empfindsamkeit/Befriedigung/Funktion, Beschneidungstechniken, Betäubung, Komplikationen und ethische Gesichtspunkte).
Eigentlich sollten das alles Selbstverständlichkeiten für einen Review sein – wie man aber an den obigen (z.T. abschreckenden) Beispielen sieht, ist dem leider nicht so.
Eine praktische und allgemeinverständliche Zusammenfassung der Fachliteratur findet sich in Tabelle 1. Laut dieser Tabelle sind die Vorteile der prophylaktischen Beschneidung laut Fachliteratur überwältigend. Greift man sich die relevantesten Vorteile der Beschneidung heraus, so vermeiden
- 4 Beschneidungen einen Fall von Harnwegsinfektion
- 10 Beschneidungen einen Fall von Candidiasis
- 6 Beschneidungen einen Fall von Prostatakrebs
- 10 Beschneidungen einen Fall von Balanitis
- 10 Beschneidungen einen Fall von Phimose
- 2 Beschneidungen einen Fall von hoch-risiko HPV
- 5 Beschneidungen einen Fall von Genitalherpes
während die Risiken nahezu vernachlässigbar sind.
Interessant ist auch, dass das sonst in der Diskussion so dominante Thema HIV und Peniskrebs in entwickelten Ländern den mit Abstand unbedeutendsten Grund darstellt, Jungen zu beschneiden.
Das Fazit des Reviews lautet:
MC [Anm.: Male circumcision] has no adverse effect on sexual function, sensitivity, penile sensation or satisfaction and may enhance the male sexual experience. Adverse effects are uncommon (<1%), and virtually all are minor and easily treated. For maximum benefits, safety, convenience and cost savings, MC should be performed in infancy and with local anesthesia. A risk-benefit analysis shows benefits exceed risks by a large margin. Over their lifetime up to half of uncircumcised males will suffer a medical condition as a result of retaining their foreskin. The ethics of infant MC and childhood vaccination are comparable. Our analysis finds MC is beneficial, safe and cost-effective, and should optimally be performed in infancy.
Fazit
Die Argumentation aus Sicht der Ärzte, sowie die wissenschaftliche Fachliteratur und damit der Standpunkt der Evidenzbasierten Medizin wird in der öffentlichen Diskussion zur Beschneidungsfrage so gut wie komplett ignoriert. Dabei dient laut Fachliteratur die prophylaktische Beschneidung eindeutig dem Kindeswohl. Und damit haben sich auch alle juristisch komplizierten Argumente erledigt, die für den Fall zu berücksichtigen wären, dass es keinen Konsens in der Fachliteratur gäbe, dass die Beschneidung aus medizinischer Sicht kindeswohlneutral wäre oder eine (leicht) negative Bilanz vorweisen würde. Nur in diesen Fällen müsste nämlich tatsächlich das Kindeswohl (dem Verfassungsrang zukommt) in praktischer Konkordanz mit dem Recht auf Religionsfreiheit und der Fürsorgepflicht der Eltern gebracht werden.
Ein Blick in die medizinische Fachliteratur verrät aber, dass dies nicht notwendig ist, da die überwältigende Mehrheit der Publikationen die prophylaktische Beschneidung als positiv zu bewertende Gesundheitsmassnahme sieht. Und Eltern die sich für eine lege artis ausgeführte Massnahme entscheiden, die dem Kindeswohl dient, ist kein Vorwurf zu machen. Egal ob die Eltern nun religiöse, ästhetische, traditionelle oder einfach nur medizinische Motive angeben: was dem Kindeswohl dient, kann nicht verboten sein.
Disclaimer
Nachdem ich in Diskussionen zu diesem Thema immer wieder gefragt wurde hier meine persönliche Ansicht: Ich selbst würde Kinder aus den gleichen Gründen wie Jürgen Schönstein nicht beschneiden lassen – auch wenn die wissenschaftliche Evidenz absolut überzeugend ist. Aber das wäre meine private (und meinetwegen irrationale) Entscheidungen, und diese sollte man nicht dazu missbrauchen um sich den Stand der medizinischen Forschung so zurechtzubiegen, dass er das persönliche Weltbild befriedigt. Kurz: Ich bin absolut gegen die Beschneidung von Kindern – setze mich aber trotzdem dafür ein, dass Eltern die Wahlfreiheit haben, solange die Fachliteratur auf ihrer Seite ist.
Soviel zum Eingangszitat von Voltaire…
Kommentare (776)