Das Diskriminierungsverbot (GG Art. 3)
(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.
Dieses Grundrecht ist ein starkes Grundrecht, da vorbehaltlos und nicht disponibel. D.h. selbst wenn es die diskriminierte Person in Ordnung findet, vom Staat benachteiligt zu werden, kann eine Verfassungsbeschwerde eingelegt werden. Was hat dieses Grundrecht nun mit der Beschneidung zu tun?
Das Kölner Urteil hat die Beschneidung aus religiösen Motiven in Deutschland (bis zur neuen gesetzlichen Regelung) zu einer strafbaren Handlung erklärt. Bei der Urteilsbegründung argumentieren die Richter ausschliesslich im Hinblick auf die religiöse Motivation der Eltern. Auch die derzeitig diskutierte Online-Petition zum “Verbot von Beschneidungen bei Minderjährigen” fordert explizit eine Diskriminierung nach religiösen Gründen (deshalb verlinke ich diese darüberhinaus stümperhaft formulierte Petition auch nicht). Eine solche Diskriminierung ist aber laut GG Art. 3 vorbehaltlos verboten.
Die Religionsfreiheit (GG Art. 4)
(2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.
Dieses Grundrecht ist ebenfalls ein starkes Grundrecht, denn es ist vorbehaltlos. Natürlich gilt dieses Grundrecht nicht absolut – es findet genau wie die anderen Grundrechte dort seine Schranken, wo andere Grundrechte verletzt werden. Es wird häufig argumentiert, dass dieser Artikel (insbesondere Absatz 1) auch die Freiheit des Nicht-Glaubens schützt. Das ist soweit völlig richtig. Diese sog. “negative Religionsfreiheit” stünde dann aber laut weiterer Argumentation auf Seiten des Kindes und man müsste dann das Kind deshalb vor jeglichem religiösem Einfluss schützen, damit es später selbst eine unbeeinflusste Entscheidung treffen könne. Das ist aus verfassungsrechtlicher Sicht falsch: Eine solche “negative Religionsfreiheit” ist reine Unterstellung und Spekulation.
Das Fürsorgepflicht der Eltern (GG Art. 6)
(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.
Bei diesem Grundrecht wird wieder explizit eine Beschränkung genannt, nämlich das sog. Wächteramt des Staates. Allerdings ist Art. 6 nicht disponibel: Die Eltern haben nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, ihre Kinder zu pflegen und zu erziehen. Dieses Grundgesetz ist auch der Grund dafür, dass es keine “negative Religionsfreiheit” geben kann: Wie sollen die Eltern ihre Kinder pflegen und erziehen und dabei vor jeglichem religiösem Einfluss schützen (auch gegen die eigene Überzeugung der Eltern)?
Wie man sieht sind also mehr Grundrechte betroffen, als man auf den ersten Blick meinen könnte. Dabei stellt Georg Neureither im Verfassungsblog – an dessen Argumentation ich mich hier anlehne – zurecht fest: “Interessant ist dabei, dass sich in der Diskussion durch das Hinzutreten der Religion die Dinge eher gegen die Eltern wenden als zu ihnen, obwohl sie mit Art. 4 I, II GG nun ein weiteres Grundrecht an ihrer Seite haben, und noch dazu ein „starkes”, weil vorbehaltloses. Das ist zumindest kontraintuitiv.”
Mir scheint das noch sehr vorsichtig formuliert zu sein, denn aus keinem einzigen der diskutierten Grundrechte lässt sich direkt ableiten, dass die Beschneidung von Jungen verfassungswidrig wäre – im Gegenteil: Das Diskriminierungsverbot, die Religionsfreiheit und die Fürsorgepflicht der Eltern sprechen alle dafür, dass sich der Staat aus der Beschneidungsfrage heraushalten und die Entscheidung den Eltern überlassen sollte. Auch das Recht auf körperliche Unversehrtheit ist direkt jedenfalls nicht anwendbar, da die Eltern im Rahmen der Fürsorgepflicht für die Kinder Entscheidungen treffen. Trotzdem dürfen Eltern natürlich nicht alles mit ihren Kindern machen, was sie wollen. Auch hier gibt es Grenzen. Aber diese werden durch Gesetze (und nicht durch das Grundgesetz) geregelt. Deshalb soll es im Folgenden darum gehen, wann Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit von Kindern erlaubt sind, und wann nicht. Denn das ist die alles entscheidende Frage.
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