Wie argumentieren die Ärzte?
Im Folgenden fasse ich die relevante Argumentation aus zwei Artikeln im Ärzteblatt zusammen. Ich empfehle insbesondere den kürzeren Artikel (hier der längere). Zuerst möchte ich die offengebliebene Frage beantworten, warum der körperlichen Unversehrtheit im Grundgesetz eine so restriktive Rolle zukommt. Die Antwort ist einfach: Jeder medizinische Eingriff ist eine Körperverletzung:
Die Rechtsprechung zum Heileingriff, der ärztlichen Aufklärung und der Patienteneinwilligung ist äußerst komplex (1-25). Ausgehend von der Auffassung des Reichsgerichtshofs aus dem Jahre 1894 (RGSt 25, 375) und der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (BGHSt 35, 246) stellt jeder ärztliche Heileingriff tatbestandlich eine Körperverletzung dar im Sinne der §§ 223 ff. StGB; 823 I BGB.
Ja sogar diagnostische Eingriffe und auch das Haareschneiden/Rasieren sind eine Körperverletzung und damit ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit. Machen sich jetzt alle Ärzte in Deutschland strafbar? Nein, natürlich nicht. Dass jeder ärztliche Eingriff eine Körperverletzung darstellt ist einfach nur Terminologie. Die Strafbarkeit von Körperverletzungen wird nämlich separat geregelt. Sobald eine Einwilligung des Patienten vorliegt, macht sich der Arzt nicht strafbar (abgesehen von Ausnahmen, die uns jetzt nicht interessieren). Das ist genau der Grund, warum das Recht auf körperliche Unversehrtheit ein “disponibles Rechtsgut” ist – wäre es das nicht, dann wäre jeder ärztliche Eingriff verboten. Nun sind aber Kinder noch nicht einwilligungsfähig (die Altersgrenze liegt ungefähr bei 14 Jahren) – und trotzdem müssen die Haare geschnitten werden, ärztliche Vorsorgeuntersuchungen gemacht werden, prophylaktische Massnahmen ergriffen werden oder sogar in Notfällen sofort behandelt werden. In all diesen Fällen sind die Eltern entscheidungsberechtigt.
Ihre Einwilligung ist gemäß § 1627 Satz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs allerdings daran gebunden, dass die Personensorge „zum Wohl des Kindes” ausgeübt wird, andernfalls sind die Personensorgeberechtigten nicht dispositionsbefugt. Damit eine Entscheidung im „Wohl des Kindes” liegt, muss sie seinen Interessen entsprechen, vereinfacht formuliert: vorteilhaft sein. Sind mit einer Maßnahme auch Nachteile verbunden, müssen sie von den Vorteilen überwogen werden. Letztlich läuft alles auf eine Güterabwägung hinaus.
Daher stammt also das vielzitierte “Wohl des Kindes”. Und jetzt ergibt sich auch ein konsistentes Bild, warum die in diesem Zusammenhang immer wieder erwähnte weibliche Genitalverstümmelung sowie die Prügelstrafe verboten sind: in beiden Fällen überwiegen eindeutig die Nachteile. Und wenn die Nachteile überwiegen, dann kann eine Massnahme nicht dem Wohl des Kindes dienen und die Eltern dürfen auch nicht darüber entscheiden. Diese Überlegungen haben aus ärztlicher Sicht nichts mit einem Grundrechtekonflikt oder mit “praktischer Konkordanz” zu tun. Es geht einzig und alleine um eine Abwägung der medizinischen Vor- und Nachteile einer Beschneidung nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch.
Soviel zum unbestrittenen Argumentationspfad. Als nächstes muss nun bestimmt werden, wie die Abwägung bei einer Beschneidung ausfällt. Denn prinzipiell ist eine Beschneidung aus ärztlicher Sicht auch nicht anders zu werten als das Entfernen von Rachen-Mandeln, das Operieren von Nasen-Polypen, das Impfen oder das verordnen von Zahnspangen. Es sind alles Eingriffe/Körperverletzungen, die im nicht-einwilligungsfähigen Alter nur durchgeführt werden dürfen, wenn der Eingriff vorteilhaft für das Kind ist. Ob es sich dabei um eine akute Massnahme handelt, ob der Eingriff erst später seine vorteilhafte Wirkung entfaltet, ob die Massnahme prophylaktisch ist, oder ob der Eingriff nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit Vorteile/Nachteile bringt, spielt alles überhaupt keine Rolle. Ausserdem ist das “Kindeswohl” meiner Meinung nach auch nicht wortwörtlich zu verstehen. Es geht hier nicht darum, nur Eingriffe zuzulassen, die dem Kind im Kindesalter zugute kommen. Vielmehr ist das Kindeswohl so zu verstehen, dass der Eingriff der Person zugute kommt, die zur Zeit des Eingriffs noch ein Kind ist. So verursachen Zahnspangen im Kindesalter nur Schmerzen – die Vorteile entfalten sich hingegen erst überwiegend im Erwachsenenalter. Trotzdem wird wohl niemand bestreiten, dass die Zahnspange dem Kindeswohl dient.
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