Der kurze Artikel im Ärzteblatt, wie auch die Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie oder die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin kommen alle zum Ergebnis, dass die Nachteile schwerer wiegen als die Vorteile. Auf eine Begründung durch Berufung auf die Fachliteratur wird in so gut wie allen Stellungnahmen vollständig verzichtet. Falls die Einschätzung der zitierten Verbände und Vereine stimmt (und die Nachteile wirklich so schwerwiegend sind, wie dargestellt), dann sollte die prophylaktische Beschneidung (egal aus welchen Motiven) vom Gesetzgeber verboten werden – und zwar genauso wie die Prügelstrafe auch. Denn Massnahmen, die dem Kind schaden, sollten unter keinem Vorwand legitimiert werden. Zumindest dann nicht, wenn unsere oberste Priorität dem Kindeswohl gilt.
Wie argumentieren die Kölner Richter?
Das Kölner Urteil ist hier nachzulesen – und sollte auch für jeden nach der obigen Einführung einigermassen verständlich sein. Leider wird es viel zu häufig in den Medien völlig falsch zitiert. So titelten z.B. verschiedenste Zeitungen, dass laut Kölner Urteil, die Beschneidung Körperverletzung sei. Inzwischen wissen wir es aber besser als die Medien: Jeder medizinische Eingriff ist eine Körperverletzung – deshalb kann die Aussage des Kölner Urteils gar nicht so gelautet haben – oder etwa doch?
Auf den Verbotsirrtum des Arztes und den damit verbundenen Freispruch, den konkreten Fall (von einem Arzt lege artis durchgeführte Beschneidung auf Wunsch muslimischer Eltern mit anschliessender Komplikation), etc. will ich gar nicht eingehen, dazu kann man entweder gleich das Urteil lesen, oder die vielen Artikel in den Medien. Interessant ist eigentlich die allesentscheidende Frage, wie das Kölner Gericht die Abwägung zum Kindeswohl vornimmt – dazu schweigen sich nämlich die Medien aus.
Leider findet man zu dieser zentralen Frage nur zwei kurze Textstellen im Urteil. Die erste ist eine einleitende Anmerkung
Außerdem besteht – so der Sachverständige – jedenfalls in Mitteleuropa keine Notwendigkeit Beschneidungen vorbeugend zur Gesundheitsvorsorge vorzunehmen.
die nur Vermutungen über die Abwägung zulässt (sind nicht-notwendige gesundheitliche Vorbeugemassnahmen zwangsweise schädlich für das Kindeswohl?) und die zweite Stelle beginnt folgendermassen:
Eine Einwilligung der Eltern lag vor, vermochte indes die tatbestandsmäßige Körperverletzung nicht zu rechtfertigen.
Hier erwartet man jetzt – wie oben ausgeführt – eine medizinische Begründung, stattdessen liest man aber:
Nach wohl herrschender Auffassung in der Literatur (vgl. Schlehofer […]; Lenckner/Sternberg-Lieben […]; Jerouschek […]; wohl auch Exner a.a.O.; Herzberg a.a.O.; Putzke a.a.O.) entspricht die Beschneidung des nicht einwilligungsfähigen Knaben weder unter dem Blickwinkel der Vermeidung einer Ausgrenzung innerhalb des jeweiligen religiös gesellschaftlichen Umfeldes noch unter dem des elterlichen Erziehungsrechts dem Wohl des Kindes.
Ob das “wohl” in “Nach wohl herrschender Auffassung […]” Unsicherheit ausdrücken soll, kann ich als Laie nicht beurteilen – befremdlich klingt es aber schon, wenn sich die Richter nicht ganz sicher sein sollten, ob das wirklich die herrschende Auffassung in der Literatur ist. In dem Fall wäre – zumindest im Hinblick auf die Tragweite des Urteils – eine ausführlichere Literatursuche wohl nicht zuviel verlangt gewesen. Wie dem auch sei: Statt einer medizinischen Abwägung werden nur soziokulturelle Gründe zitiert. Was ist aber mit medizinischen Vor-/Nachteilen? Spielen die etwa bei der Beurteilung von Operationen keine Rolle?
Da ich mir selbst keine Bewertung des Urteils anmasse (obwohl mir die Texte von Putzke bekannt sind), möchte ich im Folgenden die mir recht plausibel erscheinende Kritik von Beulke und Dießner an dem Urteil (bzw. der dort übernommenen Argumentation aus der zitierten Literatur) zusammenfassen:
- Das Kölner Gericht ignoriert die Gegenposition in der Fachliteratur – vertreten durch die Autoren Rohe, Zähle, Schwarz, Fateh-
Moghadam, Valerius und Schramm. (Wer interessiert ist, dem empfehle ich den ausführlichen Artikel von Fateh-Moghadam.) - Dem Autor Putzke wird Willkür bei seiner Nutzen-/Schadens-Bilanzierung vorgeworfen.
- Jerouschek wird vorgeworfen, den de-facto Verfassungsrang des Kindeswohls nicht zu berücksichtigen.
- Scharfe Kritik wird an Herzberg adressiert:
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