Würde der Gesetzgeber insoweit Vorschriften erlassen, würde er das Gebot religiöser Neutralität verlassen und sich zum Religionsgelehrten aufschwingen. Als Beispiel dafür, was einen dann erwarten würde, seien die Äußerungen Herzbergs[76] genannt, der sich zu Überlegungen verleiten lässt, auf welche Weise das Judentum bzw. der Islam die aus seiner Sicht gebotene Wartezeit bis zur selbstbestimmten (Verweigerung der) Beschneidung überbrücken könnte.[77]
Die von Putzke, Herzberg, Schlehofer, Sternberg-Lieben und Jerouschek behauptete Pflicht der Eltern, von unumkehrbaren, mit körperlichen Auswirkungen behafteten Bekenntnissen bis zum Eintritt der Einwilligungsfähigkeit des Knaben Abstand zu nehmen, lässt sich aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht begründen und auch dem einfachen Recht nicht entnehmen. Im Übrigen würde eine solche Verpflichtung in das durch die Eltern bis zum Erreichen der Religionsmündigkeit fiduziarisch ausgeübte Recht des Kindes auf ungestörte Religionsausübung eingreifen, also – aus grundrechtsdogmatischer Sicht – nicht weniger eingriffsintensiv sein.
Das Fazit von Beulke und Dießner zum Kölner Urteil und der darin zitierten Literatur fällt vernichtend aus. Offensichtlich wird ein Zirkelschluss begangen (der in den Medien breitgetreten wird, wie weiter oben angesprochen):
Liest man die Veröffentlichungen zu dem Thema, so fühlt man sich an die Worte „Rose is a rose is a rose is a rose” von Getrude Stein erinnert: Weil die Beschneidung eine Verletzung des Körpers darstellt, ist die Einwilligung in die Körperverletzung unwirksam und die Körperverletzung damit strafbar. Wie gezeigt worden ist, ist es so einfach nicht. Die Entscheidung des LG Köln ist zunächst einmal eines: ärgerlich.
Diese Kritik – unter anderem auch an dem Freispruch und der damit verbundenen Unmöglichkeit der weiteren Klärung durch das Bundesverfassungsgericht – ist auch in zahlreichen juristischen Blog–Artikeln nachzulesen. Schliesslich gipfelt die Kritik im Vorwurf “Fiat iustitia, et pereat mundus!”, auf Deutsch etwa “Es soll Gerechtigkeit geschehen, und gehe die Welt darüber zugrunde”.
Was sagt die medizinische Forschung?
Um sich einen kleinen Überblick über den Stand der Forschung zu einem Thema zu verschaffen in dem man sich überhaupt nicht auskennt, kann man erstmal eine kleine Literatursuche empfehlen. Google Scholar ist dazu hervorragend geeignet und wird auch in vielen Fällen als zusätzliches Tool bei der wissenschaftlichen Literatursuche benutzt, da spezialisierte Suchmaschinen z.T. einige relevante Artikel nicht/noch nicht auflisten. Um nicht alle 16000 aufgelistete Artikel zu “circumcision” durchzugehen, sollte man die Suche etwas einschränken. Z.B. mit den Suchbegriffen “male circumcision” “systematic review”, die Suche auf aktuelle Artikel beschränken (z.B. ab 2008) und die Patente und Zitate ausschliessen. Laut den Abstracts der ersten 5 Seiten, finden sich 23 Arbeiten, die den gesundheitlichen Vorteil durch Beschneidung hervorheben und 21 Arbeiten, die sich nicht dazu äussern. Arbeiten, die einen Nachteil für Beschnittene sehen, finden sich überhaupt nicht – selbst wenn man noch weitere 10 Seiten anhand der Titel überfliegt, taucht keine beschneidungskritische Arbeit auf.
Dabei habe ich sehr strenge Kriterien angelegt: Sobald eine Arbeit zwar Vorteile der Beschneidung benennt, aber noch weiteren Forschungsbedarf sieht um eine Empfehlung auszusprechen, habe ich die Arbeit zu der zweiten Gruppe gezählt.
Natürlich behandeln die meisten Arbeiten in dieser groben Suche sehr verschiedene Themen. Deshalb ist es sinnvoll die Literatursuche weiter einzuschränken und z.B. nach Reviews zu suchen, die das genaue Thema behandeln, nämlich die medizinischen Vor-/Nachteile der prophylaktischen Beschneidung von Jungen in entwickelten Ländern. Dazu findet man die folgenden aktuellen Reviews in der Literatur, die ich nun im Einzelnen durchgehen möchte:
(Anmerkung: Ich stütze mich deshalb ausschliesslich auf Reviews, weil sie den Stand der Wissenschaft zu einem Thema zusammenfassen und bewerten.)
Robert S. van Howe, “How the circumcision
solution in Africa will increase HIV infections”
Auch wenn man schon am Titel erkennt, dass dieser Review nicht wirklich die oben genannten Such-Kriterien erfüllt (es geht nur um den Teilaspekt HIV und es geht um Afrika und nicht um entwickelte Länder), wollte ich trotzdem einen beschneidungskritischen Review/Autor in diese Liste aufnehmen, u.a. auch, weil van Howe anscheinend ein ziemlich prominenter Gegner der Beschneidung zu sein scheint – zumindest hat er in einem Beitrag für die Nature Publishing Group einen Viewpoint zu diesem Thema verfasst. Wie dem auch sei, eine qualitativ hochwertige Zusammenfassung zum Thema Beschneidung findet man von ihm jedenfalls nicht.
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