Eine Lösung könnte darin bestehen, die Idee aufzugeben, dass die Gattung mehr ist als ein Name. So wie zwei Leute beide Müller heißen können, obwohl der eine viel näher mit einer Frau Meier verwandt ist, so könnte man es auch einfach zulassen, dass zwei Fliegenarten beide Drosophila … heißen, auch wenn eine von ihnen enger mit Sophophora verwandt ist als die andere. Das ist zwar nicht optimal, aber vermutlich praktikabel.
Paraphyletische Gruppen sind nützlich
Verwendet man nur monophyletische Gruppen, ergibt sich noch ein anderes Problem: Nehmen wir das Buch “The Dinosauria” (das Standardwerk). Angesichts von etwas mehr als 1000 “Dinosaurier”-Arten und mehr als 8000 Vogel-Arten sollte das Buch logischerweise zu etwa 8/9 von Vögeln handeln. Tut es aber nicht. Häufig behilft man sich mit dem Konstrukt “non-avian dinosaur” (mein Deutsch reicht nicht aus, um das zu übersetzen – “nicht-vogelige Dinosaurier”???), aber so richtig glücklich ist das nicht.
Beim letzten Mal hatte ich ja als Beispiel für ein Kladogramm die Prosauropoden und ihre Verwandten herangezogen. Plateosaurus, Riojasaurus und Co. sind sich alle ziemlich ähnlich – in einigen Kladogrammen bilden sie aber keine monophyletische Gruppe, sondern sind einfach immer weitere Stufen auf dem Weg zu den Sauropoden. “Prosauropoden” wäre dann keine zulässige Klassifikation (deswegen hatte ich den Namen letztes Mal in Anführungsstriche gesetzt). Wenn man nun ein Buchkapitel über diese Gruppe schreiben will – was schreibt man dann? Man kann sich mit “basale Sauropodomorpha” behelfen, aber so richtig elegant ist das nicht. Ähnliches gilt auch für die berühmten “Thecodonten” – sie sind als Gruppe paraphyletisch, weil die fortgeschritteneren Gruppen wie Dinos ausgeklammert wurden.
Und was tut ein Herpetologe – wenn er eben wirklich nur die “klassischen” Reptilien (mit Schuppen und so) erforscht, aber Vögel langweilig findet. Ist er dann ein Basal-Herpetologe?
Paraphyletische Gruppen sind also durchaus nützlich. Man sollte sie deshalb vielleicht nicht vollkommen abschaffen, sondern als “informelle” Gruppierungen beibehalten.
Und neben diesen eher praktischen Erwägungen gibt es noch ein anderes Problem: Betrachten wir als Beispiel dieses Kladogramm der Archosaurier (wieder von Tom Holtz):
Oben rechts zweigen sich die Dinosaurier ab, direkt davor steht Silesaurus. Silesaurus und die allerersten Dinosauriern (wie Eoraptor) sind sich sehr ähnlich. Trotz dieser extremen Ähnlichkeit kann man beide nicht in eine monophyletische Gruppe zusammenfassen, die nicht auch Raben, Eulen und Brachiosaurier umfasst. Entsprechend gilt ein urtümlicher Dinosaurier nach dieser Logik als näher verwandt mit einem Raben als mit einem Silesaurus, obwohl er mit Sicherheit nie mit dem Vogel verwechselt werden würde.
Obwohl die phylogenetische Nomenklatur also wesentlich eher der evolutionären Logik entspricht als die klassische nach von Linne, hat sie sich (vermutlich auch wegen dieser Probleme) noch nicht vollkommen durchgesetzt. Paraphyletische Gruppen sind oft nützlich, weil sie morphologisch ähnliche Tiere zusammenfassen, auch wenn sie “künstlich” einige Nachfahren ausklammern. Und Begriffe wie “Ordnung” oder “Familie” sind zwar letztlich nicht sauber zu definieren, geben aber trotzdem einen brauchbaren sozusagen “informellen” Eindruck von der morphologischen Ähnlichkeit der Tierarten, die man mit ihnen beschreibt.
Während die meisten Dino-Forscher die phylogenetische Nomenklatur verwenden, benutzen viele Paläontologen, die sich mit Säugetieren beschäftigen, immer noch eine Klassifikation im Linneschen Schema. Die Revolution ist also noch nicht zu Ende, und noch ist offen, welches Schema sich am Ende durchsetzen wird.
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