Aber gut, dann ist ein Elektron eben ein Objekt, das zwar nicht immer an einem bestimmten Ort ist, aber es hat eine Wellenfunktion – das Elektron “ist” also seine Wellenfunktion, könnte man annehmen. Oder?
4. Welches Atom ist es?
Auch das ist nicht ganz so klar, wie man hoffen könnte. Nehmen wir als Beispiel erst einmal einen Atomkern eines radioaktiven Atoms.
Uran-238 beispielsweise kann ein Alpha-Teilchen aussenden und somit radioaktiv zerfallen – dabei wird aus dem Urankern ein Thorium-Kern. Stellt euch also einen Urankern vor, der irgendwo ganz allein im Weltall herumfliegt. Er könnte zerfallen – aber ist er zu einem bestimmten Moment schon zerfallen? Auch das kann man nicht sagen – wenn wir nicht messen, dann ist das System in einem Überlagerungszustand aus “Ich bin ein Urankern” und “Ich bin ein Alpha-Teilchen und ein Thorium-Kern”. Ein radioaktiver Atomkern hat also nicht mal eine eindeutige Identität, wenn wir ihn nicht messen – er liegt in einem Überlagerungszustand aus zwei unterschiedlichen Identitäten vor.
Nun könnte man natürlich einwenden, dass der Urankern ja ein zusammengesetztes Objekt ist – aber dasselbe funktioniert auch mit Elementarteilchen, die nicht zusammengesetzt sind. Beispielsweise können Myonen in Elektronen und zwei Neutrinos zerfallen – ein Myon, das ich gerade nicht beobachte, ist also nicht einfach ein Myon, sondern immer in einem Überlagerungszustand aus “Myon” und “Elektron plus zwei Neutrinos”.
(Ich beschreibe hier das Myon als Teilchen, nicht mit den Mitteln der Quantenfeldtheorie, was ich natürlich tun sollte – an der Logik des Arguments ändert das wenig, die entsprechenden Quantenfelder müssen dann halt in einem passenden Überlagerungszustand existieren.)
Wenn wir uns also auf den Standpunkt stellen wollen, dass die Wellenfunktion das ist, was ein Objekt beschreibt, dann müssen wir in Kauf nehmen, dass das Objekt auch teilweise ein anderes Objekt sein kann – so wie unser Urankern mit Identitätskrise. Ist ein Urankern einfach “da”, wenn ich ihn nicht beobachte – auch wenn seine Wellenfunktion zum Teil einen Thoriumkern und ein Alpha-Teilchen beschreibt?
Nun gut, radioaktive Atome sind ja ein Spezialfall – unsere normalen Alltagsobjekte enthalten nur wenige radioaktive Atome. Insofern ist das nicht so dramatisch, oder?
Doch, ist es. Denn es schwirren ja immer alle möglichen Teilchen durch die Gegend (oder besser gesagt: Es gibt an allen möglichen orten einen nicht verschwindenden Wert der Wellenfunktion für alle möglichen Objekte). Nehmen wir zum Beispiel ein Uran-238-Atom irgendwo in der Erdkruste. Es könnte ein Alpha-Teilchen aussenden (ist also in einem Überlagerungszustand) und dieses Alpha-Teilchen könnte von einem der Atome meines Körpers absorbiert werden und beispielsweise ein Kohlenstoff- in ein Sauerstoffatom verwandeln. Und das gilt natürlich für jedes Atom meines Körpers. Jedes Kohlenstoffatom in mir ist eigentlich immer (wenn ich es nicht beobachte) in einem Überlagerungszustand, in dem es eine winzige Wahrscheinlichkeit dafür hat, eigentlich ein Sauerstoffatom zu sein (oder auch etwas anderes, es gibt neben der Absorption von Alpha-Teilchen noch viele andere Prozesse, die die Atomsorte ändern können.)
Auch unser einzelnes Elektron hat eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, beispielsweise durch irgendein vorbeifliegendes Teilchen der kosmischen Strahlung in ein anderes Teilchen umgewandelt zu werden – und wieder gilt, dass es in einem Überlagerungszustand ist, solange wir nicht nachschauen. Insofern habe ich oben ein bisschen geschwindelt, als ich gesagt habe, dass die Wahrscheinlichkeit, das Elektron irgendwo zu finden, immer genau gleich 1 ist.
Wir halten fest:
Die Wellenfunktion eines Teilchens kann auch im Zustand einer Überlagerung sein, in der das Teilchen seine Identität geändert hat. Ein Objekt also einfach mit “seiner” Wellenfunktion zu identifizieren, wird dadurch nicht gerade einfacher, oder? Jedes Atom eines Objekts hat immer eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, ein anderes Atom zu sein. Trotzdem könnte man ja immer noch argumentieren, dass man eben eine gigantische Wellenfunktion betrachtet, die all diese Kopplungen (in der Fachsprache “Verschränkungen”) zwischen den Teilchen berücksichtigt.
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