Das Universum dehnt sich ja bekanntlich aus – und wie wir diese Woche gelernt haben, gab es dabei mit ziemlicher Sicherheit eine Zeit, in der diese Ausdehnung extrem schnell war. Aber was passiert eigentlich, wenn sich der Raum ausdehnt? Warum dehnt sich z.B. unser Sonnensystem nicht mit aus?
Die Ausdehnung des Universums wird ja gern mit folgenden Bildchen veranschaulicht:
Von Leipnizkeks, CC BY-SA 3.0, Link
Hier sieht man ein “flaches” Universum, in dem sich die Objekte immer weiter voneinander entfernen. Was an diesem Bild nicht so schön ist, ist, dass es so aussieht, als wäre der Punkt in der Mitte irgendwie speziell – aber das ist er nicht. Alternativ wird deswegen oft das Ballonbild verwendet:
Quelle: E. Siegel, Starts with a Bang
Man stellt sich die Objekte wie kleine Punkte vor, die auf der Oberfläche eines Ballons angeheftet sind und die sich dann alle voneinander entfernen.
Und das wirft natürlich folgende Frage auf: Wenn zwei Punkte am Anfang einen bestimmten Abstand zueinander haben und sich das Universum dann ausdehnt, dann vergrößert sich ja der Abstand zwischen ihnen. Wenn an jedem dieser Punkte ein Objekt sitzt, entfernen sich die beiden voneinander. Warum wird dann zum Beispiel unser Sonnensystem oder unsere Galaxis nicht mit expandiert?
Bei der Suche nach einer Antwort auf diese Frage bin ich nebenbei auf folgendes Filmzitat gestoßen:
Mrs Felix: Why don’t you do your homework?
Allen Felix: The Universe is expanding. Everything will fall apart, and we’ll all die. What’s the point?
Mrs Felix: We live in Brooklyn. Brooklyn is not expanding! Go do your homework.(from Annie Hall by Woody Allen)
Diese Frage wird im Internet an vielen Stellen diskutiert – allerdings sind die Erklärungen manchmal sehr problematisch. Meistens heißt es, dass die Kräfte, die zum Beispiel das Sonnensystem zusammenhalten, eben einfach größer sind als die Kraft, die die Objekte des Sonnensystems oder die Galaxien auseinandertreibt. In dieser Diskussion zum Beispiel wird das Ballonbild verwendet und die Galaxien mit Münzen. Die Kraft, die die Münzen zusammenhält, ist “größer als die Reibungskraft”. Die Galaxien werden nicht auseinandergetrieben, weil die zusammenhaltende Kraft der Galaxien (die Schwerkraft) größer ist als die Kraft, mit der sie durch die Expansion des Universums auseinangetrieben werden.
Ich gebe zu, dass ich das bisher auch immer so verstanden hatte. Dummerweise ist dieses Bild aber nicht wirklich richtig – es liefert eine falsche Vorstellung davon, welche Kräfte da wirken können. Ich habe das gestern gemerkt, als ich spaßeshalber ausrechnen wollte, wie groß die Kraft ist, mit der zwei Punkte im Universum durch die Expansion auseinandergetreiben werden – dummerweise kam immer Null heraus. Also wie denn nun?
Betrachten wir den einfachsten Fall: wir nehmen ein Universum, dass sich vollkommen gleichmäßig und mit zeitlich konstanter Rate ausdehnt. So eine Ausdehnung wird durch den sogenannten Hubble-Parameter beschrieben. Laut Wikipedia hat der den Wert
Was bedeutet das? Zwei Objekte, die sich in einer Entfernung von einem Megaparsec (1 Million Parsec, also etwa 3 Millionen Lichtjahre) befinden, entfernen sich mit einer Geschwindigkeit von etwa 74km/s voneinander. So jedenfalls die gängige Interpretation – die ist auch nicht falsch, aber ein bisschen irreführend. Tatsächlich ist es ja der Raum, der sich ausdehnt – man kann auch sagen: Zwischen den beiden Objekten entsteht neuer Raum, und zwar (in dieser Richtung) 74 Kilometer Raum pro Sekunde.
Klingt viel – aber ein Megaparsec ist auch ziemlich lang. Man kann den Hubble-Parameter auch umrechnen, wenn man sich erinnert, dass ein Megaparsec ja auch eine Längeneinheit ist. rechnet man das Megaparsec in Meter um, dann bekommt man (ebenfalls laut Wiki) den Wert 2,3·10−18 s−1.
Das mag auf den ersten Blick seltsam aussehen, weil die Dehnung die Einheit pro Sekunde hat – müsste da nicht eine Länge drin stecken? Es ist aber alles in Ordnung – eine doppelt so lange Strecke dehnt sich ja auch doppelt so viel, so dass man die Länge herauskürzen kann. (Alle IngenieurInnen kennen das – die Dehnung ist eine Größe ohne Einheit, weil es eine Längenänderung bezogen auf eine Ausgangslänge ist.) Eine beliebiges “Stück Raum” wächst also in einer Sekunde um das 2,3·10−18-fache.
Wenn wir also zwei Punkte haben, die Anfangs einen Meter auseinander sind, dann hat sich der Abstand zwischen ihnen nach knapp 1000 Sekunden um einen Protondurchmesser (etwa 1,7·10−15 m) vergößert. Nehmen wir an, dass an jedem dieser Punkte ein Teilchen sitzt, das “ruht” (mit der Idee ist Vorsicht geboten, dazu gleich mehr), dann vergrößert sich der Abstand zwischen diesen Teilchen entsprechend, weil sie sich mitbewegen, genau wie in dem Galaxienbild ganz oben.
Jetzt verbinden wir die beiden mit einem dünnen Seil. Wie stark muss das Seil sein, damit es dieser auseinandertreibenden Kraft widerstehen kann? Das war die Frage, die ich mir gestern gestellt habe. Versucht man, das Ergebnis auszurechnen, bekommt man ein Problem: Es gilt ja F=ma, Kraft ist Masse mal Beschleunigung, das habt ihr vermutlich irgendwann in der Schule mal gelernt. Hier beschleunigt aber nichts – die beiden Teilchen entfernen sich ja mit konstanter Geschwindigkeit. (Ganz streng genommen nicht, weil wenn der Abstand zunimmt, die relative Geschwindigkeit ja mitwächst, aber dieser Effekt ist so klein (PhysikerInnen würden sagen “von 2. Ordnung”), dass wir ihn getrost vernachlässige können, insbesondere, wenn wir ja unsere Teilchen eh auf konstantem Abstand halten wollen. Nachtrag: Das war so nicht richtig. Wen wir eine konstante Expansion betrachten, entfernen sich zwei Punkte mit immer derselben Geschwindigkeit voneinander. Unten in den Kommentaren wird das bis zum Abwinken diskutiert…) Weil die Beschleunigung Null ist, ist also auch die Kraft Null. Ein Ergebnis, das auf den ersten Blick völlig unsinnig aussieht, oder? Schließlich treibt die Expansion die Teilchen doch auseinander, oder etwa nicht?
Und genau hier steckt der zentrale Denkfehler, den man (ich jedenfalls) leicht machen kann. Was müssen wir denn tun, um unsere Teilchen auf konstantem Abstand zu halten? Wir müssen eins der Teilchen relativ zum anderen mit einer konstanten Geschwindigkeit versehen, so dass diese Geschwindigkeit die Ausdehnung des Raumes genau kompensiert (das wäre also eine gigantische Geschwindigkeit von 2,3·10−18 m/s). Als Analogie können wir wieder ein Gummi zur Hilfe nehmen, wie beim Ballon: Stellt euch ein großes Gummituch vor, auf dem zwei Spiezeugautos stehen. Ziehe ich das Gummituch auseinander, dann entfernen sich die Autos voneinander. Wenn ich aber eines der Autos jetzt anstupse, so dass es genau mit der Geschwindigkeit rollt, mit der sich das Tuch ausdehnt, dann bleiben die beiden Autos im konstanten Abstand. Rollen die Autos reibungsfrei, dann brauche ich keine Kraft, um die Autos an ihrem Ort zu halten. Nur wenn es eine Reibung zwischen Auto und Tuch gibt, muss ich gegen diese Reibkraft anarbeiten.
Ein reibungsfreies Gummituch (oder reibungsfreie Auto-Achsen) gibt es natürlich nicht – aber Teilchen können sich im Raum natürlich reibungsfrei bewegen – das wissen wir seit Newton und Galilei. (Während Aristoteles ja noch glaubte, bewegte Objekte kämen irgendwann zur Ruhe.) Objekte sind nicht an irgendwelche Raumpunkte “angeheftet” und müssen erst von ihnen losgerissen werden – ein Teilchen, das mit konstanter Geschwindigkeit fliegt, behält diese Geschwindigkeit bei, und zueinander gleichförmig bewegte Bezugssysteme sind gleichberechtigt (dazu habe ich neulich etwas geschrieben).
Wenn also unsere Teilchen am Anfang relativ zueinander ruhen, während sich der Raum ausdehnt, dann bleiben sie auch relativ zueinander in Ruhe – sie fliegen mit genau der Geschwindigkeit aufeinander zu, mit der zwischen ihnen Raum entsteht. Ob ein einzelnes Objekt “relativ zum Raum” ruht, könnt ihr ja nicht feststellen – es gibt kein absolutes Bezugssystem (ihr könnt natürlich ein passendes definieren, wie die Erde, die Sonne oder die kosmische Hintergrundstrahlung, aber das ist nur eine Frage der Bequemlichkeit und des Geschmacks ). Es gibt eben keine “Reibung” zwischen einem Objekt und dem Raum.
Habe ich euch jetzt überzeugt, dass ein sich ausdehnendes Universum keine Kräfte auf Teilchen ausübt, die sich darin befinden? Falls ja, warum liest man dann ab und zu, dass die Expansion des Universums eines Tages alle Teilchen im Universum auseinanderreißen könnte (zum Beispiel bei Wikipedia)?
Bisher haben wir ein sehr simples Universum betrachtet – eins, in dem die Ausdehnung mit konstanter Rate passiert. In diesem Fall entstehen tatsächlich keine Kräfte durch die Expansion. Wenn sich aber die Rate der Ausdehnung mit der Zeit ändert, dann sieht die Sache anders aus. Nehmen wir wieder unsere beiden Teilchen im Abstand von einem Meter, diesmal in einem Universum ohne jede Expansion. Am Anfang sind sie in Ruhe zueinander, und das bleiben sie auch. Jetzt drücke ich auf den großen roten Knopf und schalte die Expansion des Universums ein. Zwischen den beiden Teilchen (die ruhig an ihrem Platz sitzen) entsteht jetzt jede Sekunde ein bisschen neuer Raum – also entfernen sie sich voneinander. Ihre relative Geschwindigkeit hat sich jetzt geändert – mit anderen Worten: Sie wurden relativ zueinander beschleunigt. Jetzt haben wir eine Beschleunigungskraft (die davon abhängt, wie schnell sich die Expansionsrate ändert) – um die Teilchen zusammenzuhalten, müssen wir jetzt also eine entsprechende Gegenkraft aufbauen.
Eine Kraft entsteht durch die Expansion des Alls also nur dann, wenn sich die Expansionsrate ändert – und tatsächlich findet man in allen papers zum Thema (zum Beispiel hier oder hier) immer nur Kräfte durch die Änderung der Expansionsrate (in den Gleichungen taucht immer die zweite Ableitung des Skalenfaktors des Universums, also die Änderung der Expansionsgeschwindigkeit, auf).
Von einem sich gleichmäßig ausdehnenden Raum merken aneinander gebundene Systeme also nichts, weil teilchen ja nicht an Raumpunkte “angeheftet” sind. Das wirft aber folgende Frage auf: Bedeutet das etwa, dass wir die Expansion des Universums gar nicht bemerken würden, wenn sie mit konstanter Rate stattfinden würde? Wie hat man sie dann jemals entdeckt?
Um das zu klären, stellt euch jetzt eine ganze Reihe von Teilchen vor, die alle anfänglich relativ zueinander in Ruhe sind. Jetzt schalten wir wieder per Knopfdruck die Expansion ein und lassen sie mit konstanter Rate ablaufen. Zwischen den Teilchen entsteht neuer Raum und so entfernen sie sich voneinander, und zwar um so mehr, je weiter sie entfernt sind. Aber könnten wir die Teilchen nicht – genau wie vorher beim Zwei-Teilchen-Beispiel – mit passenden Geschwindigkeiten versehen, so dass sich ihre Abstände nie ändern?
Ja, theoretisch könnten wir das – es würde aber bedeuten, dass wir jedem Teilchen ganz am Anfang eine ganz exakt definierte Geschwindigkeit zuweisen müssen, die genau zur (konstanten) Expansionsrate passt. Soweit ich es sehe, könnten wir in diesem Fall an der Teilchenbewegung tatsächlich keine Expansion feststellen, egal auf welchem Teilchen wir sitzen. Aber in unserem Universum hat niemand die Geschwindigkeit der Teilchen am Anfang passend festgelegt – sie waren im Mittel alle zueinander in Ruhe und fliegen deshalb mit der Ausdehnung des Raumes auseinander. Zwischen weit entfernten Teilchen wirken auch keine Kräfte, die die Teilchen zusammenhalten. Nur in einem perfekt abgestimmten Universum (oder in einem, in dem alle Teilchen aneinander gebunden sind) könnte die Teilchenbewegung die Expansion der Raumzeit “unsichtbar” machen.
Wie so oft zeigt sich, dass eine scheinbar einfache Frage durchaus ihre Tücken hat – und dass einfache Antworten, insbesondere, wenn man sie mit Hilfe von Analogien (wie den Münzen auf dem Ballon) findet, oft nicht so ganz richtig sind.
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