Im Moment ist es ja draußen oft kalt und nass, und wenn ich morgens zu meinem Auto gehe, muss ich öfters mal die Scheibe freikratzen. Das ist zwar nervig, aber immerhin kann man sich dabei auch Gedanken über Physik machen. Neulich zum Beispiel war es nachts nur ganz knapp unter den Gefrierpunkt abgekühlt und die Eiskristalle auf der Scheibe waren ziemlich groß. Ein paar Tage vorher war es deutlich kälter und auch relativ trocken – die Schicht auf der Scheibe war sehr dünn und bestand aus kleinen, aber immer noch deutlich erkennbaren Kristallen. Grund genug, mal ein bisschen was über das Wachstum von Kristallen zu schreiben – zumal das auch technisch ein ziemlich wichtiges Thema ist.

Nebenbei: Habt ihr euch eigentlich schon mal gewundert, warum oft nur die Autoscheiben zufrieren, die Karosserie selbst dagegen meist nicht? Und ist euch schon mal aufgefallen, dass die Autoscheiben manchmal zugefroren sind, obwohl es die ganze Zeit knapp oberhalb des Gefrierpunktes war? Der Grund dafür ist, dass die Scheiben eures Autos kälter werden können als die Umgebung – Glas strahlt nämlich Wärme als Infrarotstrahlung ab und kühlt deswegen aus. Es absorbiert auch Infrarotstrahlung aus der Umgebung, aber gerade bei klarem Himmel und einer Scheibe, die schräg nach oben zeigt, bekommt das Glas nur wenig Infrarotstrahlung ab, und der Himmel wirkt wie ein Kühlaggregat. (Aus dem gleichen Grund friert eine Scheibe auch etwas weniger schnell zu, wenn ihr an einer Hauswand steht – die heizt die Scheibe mit ihrer Strahlung auf.) Unsere KollegInnen vom Fraunhoferinstitut hier in Braunschweig haben übrigens auf der Basis dieser Überlegungen eine eisfreie Scheibe entwickelt – leider ist die noch nicht ganz serienreif.

Aber zurück zu Schnee und Eis. Die bilden sich ja, wenn man Wasser unter den Gefrierpunkt abkühlt (wer hätte das gedacht)? Warum ist das eigentlich so? Ein Teil der Antwort ist recht einfach – in festem Wasser (wie in den meisten Festkörpern) sind die einzelnen Bestandteile (die Wassermoleküle) schön regelmäßig angeordnet. Hier ein schickes Bild dazu:

 

Cryst struct ice.png
Cryst struct ice” by Solid State – own drawing, created with Diamond 3.1. Licensed under CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons.

Das Blaue sind die Sauerstoff-Atome (“O”) und das Weiße die Wasserstoff-Atome (“H”). Die dicken durchgezogenen Linien sind die “normalen” Atombindungen, die gestrichelten Linien sind die Wasserstoffbrücken, über die Florian neulich schon etwas geschrieben hat. Die chemisch-physikalischen Details sind mir heute egal (obwohl Wasserstoffbrücken ziemlich interessante Dinger sind), hier ist nur wichtig, dass ihr seht, dass die Anordnung schön regelmäßig ist. Das ist energetisch günstig, und deshalb bilden sich diese Strukturen dann, wenn wenig Energie zur Verfügung steht (also bei niedrigen Temperaturen).

Bei höheren Temperaturen werden die Moleküle aber immer unruhiger – Wärme ist ja nichts anderes als die Bewegung von Atomen und Molekülen, je wärmer es also wird, desto “zappeliger” werden die Moleküle auch. Erreicht man – unter Normalbedingungen – eine Temperatur von 0°, dann schmilzt das Eis und wird flüssig – die Moleküle ordnen sich jetzt ständig um und sitzen nicht mehr sauber im Kristallgitter. Wenn man genau hinguckt, sieht man aber, dass die Moleküle immer noch über die Wasserstoffbrücken zusammenhalten; die Verbindungen werden aber immer wieder gelöst und dann neu geknüpft.

Betreibt man theoretische Physik und verwendet die Methoden der Thermodynamik, dann stellt man fest, dass die Umwandlung vom festen zum Flüssigen Zustand bei einer ganz bestimmten Temperatur passiert – unter normalen Bedingungen sind das eben die 0°C. (Warum das so ist, habe ich vor langer Zeit mal erklärt.) Aber jetzt tue ich etwas für mich sehr ungewöhnliches und gebe zu, dass die theoretische Physik (jedenfalls in dieser einfachen Form) nicht alles ist. Die Berechnungen aus der Thermodynamik funktionieren so nämlich nur, wenn man unendlich große Systeme hat in denen sich die Temperatur unendlich langsam ändert. Die Winternächte, in denen meine Autoscheibe zufriert, sind zwar lang, aber so lang nun auch wieder nicht.

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Kommentare (19)

  1. #1 Sebastian Fettig
    3. Februar 2015

    Toller Artikel! Die Körnergröße ist demnach auch der Grund, warum Messer aus xfach gefaltetem Damaststahl so zäh sind?

    Kleine Anmerkung: In den Wärmekissen ist m.E. kein Polymer sondern ganz einfaches Natriumacetat: https://de.wikipedia.org/wiki/Latentw%C3%A4rmespeicher#W.C3.A4rmekissen

  2. #2 MartinB
    3. Februar 2015

    @Sebastian
    Das mit dem Damast ist komplizierter – da kommt hinzu, dass man zwei unterschiedliche Stahlsorten hat, eine hart, aber spröde, die andere zäh, aber weniger hart; die werden beim Falten extrem fein “vermischt”. Das im Detail zu erklären wäre ein Artikel für sich…

    Danke für die Korrektur mit dem Wärmekissen, hab’s gleich mal geändert.

  3. #3 Sebastian Fettig
    3. Februar 2015

    “Das im Detail zu erklären wäre ein Artikel für sich…”

    Würde ich gerne lesen!

  4. #4 ImNetz
    3. Februar 2015

    Den im ersten Teil des Artikels erwähnten Sachverhalt mit dem minimalen Energiegewinn beim Phasenübergang flüssiges Wasser –> Eis, scheint auszureichen um es technisch im s.g Eisspeicher kommerziell zu nutzen.
    Link:
    https://www.oecosys.com/1/Members/norghean/solar-eisspeicher-system
    Oder habe ich etwas falsch verstanden?

  5. #5 CM
    3. Februar 2015

    Schon bei den Hauswänden hat mich der Artikel gepackt: Schließlich profitieren meine Nachbarn davon – ich aber muß etwas freier stehen und jeden Morgen kratzen (wenn ich nicht mit der Bahn fahre, was leider organisatorisch nicht immer klappt).

  6. #6 Turi
    4. Februar 2015

    Ich persönlich finde Kaltverformung (also das Härten durch einbringen von Versetzungen) einen sehr unbefriedigenden Prozess. Ist ein wenig so als würde man ein Fenster einwerfen um es zu öffnen. Man hat zwar frische Luft, aber wehe man möchte es wieder zu machen. Ein kaltverformtes Bauteil ist danach leider auch viel spröder.

    Feinkristallhärtung ist da viel eleganter.

    *Natürlich haben beide verfahren ihre Berechtigung und gemeinsame bzw. unterschiedleiche Einsatzmöglichkeiten. Hier geht es nur um meine persönlichen vorlieben.

  7. #7 MartinB
    4. Februar 2015

    @ImNetz
    Beim Phasenübergang Wasser-Eis wird eine Menge Energie gespeichert, die Wärmemenge zum Schmelzen von Eis ist ziemlich groß – deswegen kann man ja auch ein Getränk mit Eiswürfeln kühlen.
    Klein ist (jedenfalls genau am Phasenübergang, also bei knapp Null Grad) der Gewinn an *freier Energie*, der als treibende Kraft wirkt.

    @Turi
    Irgendwo stimme ich dir ja zu, dass Verformungsverfestigung nicht so richtig elegant ist, aber am Ende zählt, ob’s funktioniert…

  8. #8 Mike Macke
    4. Februar 2015

    Wahrscheinlich ein Thema für einen eigenen Artikel: Aber wie läuft das eigentlich bei Glas? Ich meine mich zu erinnern, dass da gerade keine Kristallisation stattfinden soll, ungefähr so wie bei unterkühltem Wasser, bloß dass das “flüssige unterkühlte” Glas bei Raumtemperatur deutlich zähflüssiger (und somit fest) ist.
    Umd umgekehrt: Wie erreicht man eigentlich Einkristalle (“große Schneeflocken”)? Ist zwar bei Schnee weniger wichtig, aber z.B. bei Silizium.
    Jedenfalls vielen Dank für die Erläuterungen!

  9. #9 MartinB
    4. Februar 2015

    Richtig, Glas ist amorph, hat also keine eindeutige Kristallstruktur. Es ist aber bei RT keine Flüssigkeit, sondern eben ein amorpher Festkörper.

    Einkristalle erzeugt man z.B. mit dem Bridgmann-verfahren:
    https://de.wikipedia.org/wiki/Bridgman-Stockbarger-Methode
    Entscheidend ist, dass man den Prozess so führt, dass eben nur ein einziges Korn gegen die anderen gewinnt.

  10. #10 haarigertroll
    4. Februar 2015

    Tststs, dabei weiß doch jeder dass das mit dem Kristallwachstum ganz wesentlich von den positiven Gefühlen und so abhängt!
    Ich sehe schon den Titel eines Forschungsantrages vor meinem geistigen Auge: “Anwendung des Emoto-Effektes auf die Ausscheidungshärtung von Aluminiumlegierungen – Einfluss klassischer Musik auf die Streckgrenze und Bruchdehnung”

    P.S. Wer Ironie findet, darf sie behalten 😉

  11. #11 MartinB
    4. Februar 2015

    @haarigertroll
    So wie das hier?
    https://www.weltimtropfen.de/
    Den Prof kenne ich sogar persönlich…

  12. #12 Spritkopf
    4. Februar 2015

    @MartinB

    Ein Kopfsalat wird zwei Minuten lang einer Handystrahlung eines normalen Mobilfunkgerätes ausgesetzt und danach in Wasser gelegt. Von diesem Wasser nimmt man eine Probe, tropft mehrere Tropfen Wasser auf einen Objektträger auf und schaut diese unter dem Dunkelfeldmikroskop an. Diese Tropfen zeigen deutlich andere Strukturen im Tropfeninneren als ein Wasser, in dem zuvor der gleiche Salat vor seiner Handybestrahlung gelegen hat. Das heißt: Das Wasser “erkennt” oder “merkt sich”, dass der Salat Handy “gehört” hat und spiegelt diese gewonnene Information in einem veränderten Tropfenbild wider.

    Das ist doch Satire, oder? Da bringt jemand haarsträubende Absurditäten unters Volk und will einfach nur erforschen, was ernstgenommen wird und bei wievielen Leuten der Bullshit-Detektor anschlägt.

    Das kann nichts anderes als Satire sein.

  13. #13 MartinB
    4. Februar 2015

    @Spritkopf
    Leider nein, wie gesagt, ich kenne den Herrn persönlich.

  14. #14 JanJanJanJan
    NajNajNaj
    5. Februar 2015

    zu
    https://www.weltimtropfen.de/

    Ist das denn “alles” Mumpitz?

    So richtig hilft mir der Psiram (ehemals Esowatch) Artikel auch nicht weiter.

    Gibt es bei so etwas eigentlich nie jemanden, der das mal versucht zu reproduzieren?

    Jan

  15. #15 MartinB
    5. Februar 2015

    @Jan^4
    Naja, wenn ich mir das ansehe:
    “https://www.weltimtropfen.de/forschung_individuen.html”
    dann wäre das allenfalls als Übung für Studis zum Thema “Wie sollte ich eine Studie nicht designen” zu gebrauchen…

  16. #16 rolak
    5. Februar 2015

    Übung für Studis

    Aber nicht doch, MartinB, zumindest nicht ausschließlich. Nein, gerade weil der Untersuchungs-Aufbau so sturzsimpel ist, kann das Geschehen von jedem reproduziert werden, bis runter zur Grundschule. Ab Mittelstufe vieleicht mit einer Liste der üblichen Fehler – um dann erklären zu lassen, wie versucht wurde, sie zu verhindern. Gab schon ziemlich lange Gesichter bei den Reproduktionsversuchen 😉

    So bleiben als Antworten auf die drei Sätze von Jan ziemlich offensichtlich: 1) Ja, 2) Schade, 3) Warum machst Du es nicht selber?

  17. […] habe ich ja gerade erklärt, wie sich Kristalle bilden. Im Prinzip dieselbe Logik wendet man auch hier an. Zunächst wird das Material bei niedriger […]

  18. #18 Frank
    12. Februar 2015

    Sehr anschaulicher Artikel.
    Der Link auf die eisfreie Scheibe vom Fraunhofer läuft allerdings ins leere.
    Weißt du was die Marktreife angeht da genaueres? Schon 2010 gab es ja Artikel mit dem Tenor “eisfreie Scheibe quasi marktreif”.
    Das würde mich jetzt doch mal interessieren, ob es da an Lobby oder Wissenschaft scheitert.
    Die Lobby der Autofahrer kann es jedenfalls nicht sein 😉

  19. #19 MartinB
    12. Februar 2015

    @Frank
    Details weiß ich leider nicht, aber so wie ich es verstanden habe, ist es ein technisches Problem, das ganze in großem Maßstab bezahlbar umzusetzen.