Kleine Komplikation: Ergodizität
Die Zunahme der Entropie beruht also schlicht darauf, dass es statistisch wahrscheinlich ist, einen Makrozustand zu bekommen, zu dem es viele Mikrozustände gibt. Der Zustand mit den meisten Mikrozuständen ist der mit der höchsten Entropie und damit auch der, zu dem sich das System entwickelt. Die Logik funktioniert aber nur dann, wenn das System diesen Zustand auch tatsächlich erreichen kann. Stellt euch beispielsweise vor, dass wir den Flaschenhals der Gasflasche unglaublich eng und lang machen, so dass ein Atom, das sich durchquetscht, genau geradeaus weiterfliegen muss. Alle Atome fliegen dann in unserem Kasten exakt in dieselbe Richtung, sagen wir, von links nach rechts. Rechts stoßen sie dann gegen die Wand, kehren um, und fliegen wieder nach links. Die Atome haben also keine Chance, jemals beispielsweise in die obere Hälfte des Kastens zu kommen, weil sie nie eine Geschwindigkeit in diese Richtung bekommen können. (In der Realität werden natürlich Stöße zwischen den Atomen auchmal welche zur Seite ablenken, das ist mir hier aber egal, es geht nur ums Prinzip.)
Ein System kann den Zustand maximaler Entropie also nur dann erreichen, wenn das nicht durch andere Umstände (beispielsweise die Anfangsbedingung) verhindert wird. Wenn wir also alle möglichen Mikrozustände eines Systems angucken, dann müssen all die auch prinzipiell vom System eingenommen werden können, sonst funktioniert die ganze Logik nicht. Man sagt, dass ein System “ergodisch” ist, wenn unsere Logik funktioniert, wenn es also prinzipiell im Laufe der Zeit alle denkbaren Mikrozustände einnehmen kann.
Nun könnt ihr argumentieren, dass das ja eine sehr spezielle Situation war, weil ich die Flasche speziell konstruieren musste, um den Effekt zu erklären. Aber ganz so einfach ist es nicht. Wenn unser Kasten von der Außenwelt isoliert ist, dann ist darin beispielsweise auch die Energie erhalten. Zustände, in denen beispielsweise alle Atome eine hohe Geschwindigkeit haben, sind deshalb prinzipiell nicht möglich, weil sich dazu die Gesamtenergie ändern müsste. Damit die Thermodynamik trotzdem vernünftig funktioniert, akzeptiert man diese Einschränkung der Möglichkeiten durch die Energieerhaltung und betrachtet in einem abgeschlossenen System generell nur solche Mikrozustände, deren Energie “passt”. (Alternativ kann man auch erlauben, dass die Atome durch die Wände Energie mit der Umwelt austauschen, wer Physik studiert, lernt das als Unterschied zwischen dem mikrokanonischen und dem kanonischen Ensemble, aber wer nur diesen blog liest, kann das gern wieder vergessen.)
Neben der Energie gibt es ja noch weitere Erhaltungssätze, beispielsweise die Impulserhaltung. Müssen wir uns über die auch Gedanken machen? Normalerweise nein, weil wir es meist mit Systemen zu tun haben, die feste Wände haben und in denen die Impulserhaltung deshalb nicht gilt – die Teilchen können ja von der Wand abprallen und dabei ihren Impuls ändern.
Für das Folgende könnt ihr diese ganze Komplikation mit der Ergodizität auch gern wieder vergessen – ich habe es nur hingeschrieben um zu zeigen, dass diese statistischen Überlegungen im Einzelnen ziemlich trickreich werden können.
Statistik und die Wiederkehr
Dass die Entropie zunimmt, ist also ein Effekt der Statistik: Fängt man in einem Makrozustand an, für den es nur wenige Mikrozustände gibt, dann entwickelt sich das System in Richtung auf einen Makrozustand, für den es mehr Mikrozustände gibt. So wie sich unsere Gasatome im Laufe der Zeit immer weiter im Kasten verteilen.
Aber Statistik ist immer eine Frage der Wahrscheinlichkeit: Es ist zwar nicht sehr wahrscheinlich, aber theoretisch spricht nichts dagegen, dass zufällig alle unsere gasatome wieder in der Flasche landen. Es spricht nicht nur nichts dagegen, es wird auch früher oder später (aber eher seeeehr viel später) passieren. Das ist die Aussage des sogenannten Poincareschen Wiederkehrsatzes: Ein hinreichend braves physikalisches System, das sich frei entwickeln kann, wird irgendwann wieder seinem Ausgangszustand beliebig nahe kommen.
Für alle praktischen Zwecke ist dieses “irgendwann” aber beliebig lange. Selbst bei 100 Gasatomen wahr die Wahrscheinlichkeit, dass sich alle links versammeln, ja schon ziemlich klein. Nehmen wir an, unser Behälter wäre einen Meter groß und die Gasatome sausen mit einigen Hundert Metern pro Sekunde durch den Behälter, dann dauert es vielleicht eine Hundertstel Sekunde, bis sich eine komplett neue Anordnung der Gasatome einstellt. In der Sekunde hat das System also 100 Mikrozustände, in einem Jahr damit etwa 3 Milliarden Mikrozustände, also müssen wir etwa (bei einer Wahrscheinlichkeit von 1: 1030) 300000000000000000000 Jahre warten. Und das bei 100 Gasatomen, bei 1000 oder einer Million oder gar 1023 wird die Wartezeit schon ziemlich lang…
Wenn man das System aber hinreichend klein macht, dann kann man tatsächlich Abweichungen vom zweiten Hauptsatz beobachten und sehen, dass die Entropie auch mal abnehmen kann, so wie in diesem Experiment hier.
Angesichts der Zahlen braucht ihr aber keine Angst zu haben, dass durch eine statistische Schwankung plötzlich vor eurer Nase kein Luft zum Einatmen mehr ist. Für alle praktischen Zwecke ist der 2. Hauptsatz ziemlich unangreifbar. Wenn man bedenkt, dass er letztlich nur auf der statistischen (und unscharfen) Beschreibung eines Systems beruht, ist das vielleicht eine der überraschendsten Erkenntnisse der Physik.
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