Das Zwillingsparadoxon der Speziellen Relativitätstheorie (kurz SRT) führt ja immer gern zur Verwirrung. Das liegt nicht nur daran, dass es auf den ersten Blick unserer Intuition widerspricht, sondern vermutlich auch, dass ganz verschiedene Erklärungen des Paradoxons kursieren, die auch nicht alle wirklich zusammenpassen.
Das “Paradoxon”
Gleich vorneweg: Das Zwillingsparadoxon trägt seinen Namen nicht zu Recht – an ihm ist nichts paradox, auch wenn es auf den ersten Blick so aussehen mag. Hier nochmal in Kurzform die Idee des Paradoxons:
Die beiden Zwillingsschwestern (oder gleichaltrigen Freundinnen) Teresa und Serena müssen sich leider voneinander verabschieden: Während Teresa auf der Erde bleibt, macht sich Serena auf eine Reise nach Alpha Centauri, mehr als vier Lichtjahre von der Erde entfernt. Sie nutzt ein Hochgeschwindigkeitsraumschiff, das mit 80% der Lichtgeschwindigkeit unterwegs ist. Bei Alpha Centauri angekommen, winkt sie einmal den dort wohnenden Aliens, stellt fest, dass es ihr dort doch nicht gefällt, und macht sich auf den Rückweg zur Erde.
Bei derartig hohen Geschwindigkeiten kommt es laut SRT zum Phänomen der Zeitdilatation: Teresa sieht Serena verlangsamt, für sie sieht es so aus, als würde die Zeit für Serena langsamer laufen, so dass Serena auch langsamer altert. Da in der SRT aber Bewegungen immer nur relativ sind, sieht auch Serena Teresa verlangsamt, für sie sieht es so aus, als würde Teresa langsamer altern. Wenn Serena auf der Erde ankommt, sollte also Teresa erwarten dass sie selbst älter ist als Serena, aber umgekehrt sah Serena ja auch Teresa immer verlangsamt, sie sollte also erwarten, dass Teresa jünger ist als sie. Aber spätestens, wenn sich die beiden wieder direkt gegenüberstehen, sollte hoffentlich eindeutig zu entscheiden sein, wer nun älter ist.
Dieser scheinbare Widerspruch ist das sogenannte Zwillingsparadoxon. Um es gleich vorwegzunehmen: Die Situation ist in der Tat nicht symmetrisch, und es ist Teresa (die auf der Erde geblieben ist), die am Ende älter ist, während Serena jünger bleibt.
The Bad
Gelegentlich (beispielsweise bei dieser “Lernhelfer”-Seite – ich hab da mal ne Nachricht hinterlassen…) liest man folgende Erklärung des Zwillingsparadoxons: Um bei Alpha Centauri umzukehren, muss Serena beschleunigen. (Soweit richtig) Diese Beschleunigung benötigt eine Kraft – Serena wird in Ihren Sessel gepresst. (Auch richtig) Diese Kraft erscheint Serena wie eine Schwerkraft, sie kann beim In-den-Sessel-Gedrückt-werden nicht ohne Weiteres unterscheiden, ob sie durch ein Schwerefeld gedrückt wird oder durch die Beschleunigung, auch wenn sie natürlich weiß, dass sie gerade ihre Raketen gezündet hat. (Immer noch richtig) Weil diese Beschleunigung also äquivalent zu einer Schwerkraft ist, kann man das Zwillingsparadoxon nur dann auflösen, wenn man die SRT zu einer Theorie verallgemeinert, die auch die Schwerkraft enthält, also zur Allgemeinen Relativitätstheorie.
Nachtrag (21.2.22): Die Lernhelferseite wurde anscheinend korrigiert und jetzt wird dort korrekt über den Wechsel der Bezugssysteme argumentiert. Beschleunigungen werden allerdings immer noch erwähnt, trotzdem großes Lob.
Diese letzte Erklärung ist leider falsch. Die SRT hat überhaupt keine Probleme damit, beispielsweise die Zeitdilatation zu beschreiben, die auf eine Beobachterin wirkt, die gerade beschleunigt – das ist sogar vergleichsweise einfach. (Wer’s genau wissen will: Der Dilatationsfaktor ist zu jedem Zeitpunkt gegeben durch die momentane Geschwindigkeit, man muss also bei einer sich ändernden Geschwindigkeit lediglich aufintegrieren.) Nur Beschleunigungen, die durch die Schwerkraft zu Stande kommen, lassen sich mit der SRT nicht erfassen, alle anderen schon. (Das liegt daran, dass es laut ART eigentlich gar keine Schwerkraft gibt – wenn ihr mehr darüber wissen wollt, klickt rechts bei den Artikelserien, da gibt es sehr viele Artikel zur ART, die das erklären. Oder ihr geduldet euch bis kurz vor Weihnachten…) Ein anderes schönes Beispiel, wie die SRT Beschleunigungen korrekt berücksichtigt, findet ihr hier bzw. hier.
Dass die Erklärung mit der ART nicht funktioniert kann man übrigens auch auf eine ganz andere Weise sehen. Die SRT stammt aus dem Jahr 1905, erst 1907 hat Einstein die Logik des Äquivalenzprinzips erkannt, wonach sich eine gleichförmige Beschleunigung und ein Schwerefeld nicht unterscheiden lassen, und dann dauerte es bis 1915, bis die ART fertig war. Würde die Erklärung stimmen, dann hätten die Physikerinnen also 10 Jahre lang eine Theorie akzeptiert die in sich widersprüchliche Aussagen macht. Auch wenn manche Leute ja seltsame Ideen davon haben, wie Physikerinnen denken und glauben, dass die gesamte Physik mal eben schnell durch eine pensionierte Elektroingenieurin im Alleingang revolutioniert werden kann, die nie Physik studiert hat (ja, solche mails habe ich jede Menge in meinem Archiv) – mit der Realität hat das nicht viel zu tun. (Und falls ihr hier in den Kommentaren wieder einmal irgendwelche unsinnigen “Widerlegungen” der Relativitätstheorie posten wollt, lasst es einfach.) Eine Theorie, die derart eklatante innere Probleme mit sich bringt, hätte sicherlich niemand akzeptiert. Das Zwillingsparadoxon sollte sich innerhalb der SRT lösen lassen.
The Ugly
Kommen wir zu den Erklärungen, die zumindest richtig sind. Man kann schlicht und einfach die Gleichungen der SRT nehmen (in diesem Fall die sogenannten Lorentz-Transformationen) und die Sache einfach Schritt für Schritt nachrechnen. Die Rechnung findet ihr (mit einem kleinen Extra-Aufenthalt am Zielplaneten) ausführlich beispielsweise bei Relativitätsprinzip.info. (Dass ich diese Rechnung hier unter der Überschrift “Ugly” anführe, ist natürlich keine Kritik an Joachim Schulz, seiner Internetseite oder seinem Blog. Der weiß auch, dass man das intuitiver erklären kann, hat sich aber trotzdem netterweise die Mühe gemacht, mal alles formelmäßig auseinanderzudröseln.) Heraus kommt in der Tat, dass – in unserem Beispiel – Teresa am Ende älter ist als Serena. (Wer Zahlen mag: Bei 80% Lichtgeschwindigkeit und einer Entfernung von 4,3 Lichtjahren nach Alpha Centauri sind für Serena insgesamt nur 6,4 Jahre vergangen, für Teresa dagegen 10,8.)
Warum ich diese korrekte Herleitung mit dem Wort “ugly” belege? Weil ich das bloße Nachrechnen von Formeln immer wenig intuitiv finde – oft folgt man dem mathematischen Formalsimus, sieht am Ende ein Ergebnis, hat aber keine wirkliche Inuition gewonnen, was da eigentlich passiert.
Interessant ist an der Herleitung aber folgendes: Da ist tatsächlich von Beschleunigungen die Rede, die aber als unendlich schnell angenommen werden. Serena würde also bei Alpha Centauri ihre Geschwindigkeit sofort umkehren. (In der Rechnung ist tatsächlich noch ein Zwischenaufenthalt drin, der tut aber nix zur Sache.)
Man könnte also meinen, dass es tatsächlich die Beschleunigungen sind, die für den Unterschied der beiden Zeitabläufe verantwortlich ist. Das ist auf den ersten Blick auch sehr plausibel: Serena muss ja die Düsen ihres Raumschiffs zünden, wird dabei in ihren Sessel gedrückt etc. wie oben schon beschrieben. Aber ist das wirklich so? Dazu können wir uns ein kleines Gedankenexperiment ausdenken: Nehmen wir an, Serena wäre eine künstliche Intelligenz, ein Computerprogramm, das auf einem Supercomputer abläuft. (Und ja, ich nehme hier an, dass ein Computer ein Bewusstsein haben könnte – spielt für die Physik keine Rolle, macht die Sache aber anschaulicher.) Stellen wir uns einen zweiten, baugleichen Supercomputer vor, der sich auf einem Raumschiff befindet, das von einem entfernten Stern Richtung Erde unterwegs ist und zeitgleich mit Serena bei Alpha Centauri ankommt. Serena überträgt jetzt ihr Computerprogramm (ihr Bewusstsein) per Funk auf diesen anderen Computer. Dabei vergeht für sie keine Zeit, Zeit vergeht für sie nur auf den beiden Wegstrecken nach Alpha Centauri und zur Erde. Altert jetzt plötzlich ihr Bewusstsein anders, weil es nicht beschleunigt wurde? Nehmen wir an, Serena kopiert ihr Bewusstsein – Serena 1 wurde mit einem Funksignal übertragen, Serena 2 dagegen kehrt ihr Raumschiff zeitgleich um. Es wäre schon ziemlich seltsam, wenn für beide die Zeit vollkommen unterschiedlich vergehen würde und Serena 1 plötzlich irgendwie einen Zeitsprung macht. (Laut Wikipedia ist eine ähnliche Überlegung unter dem Namen “Drei-Brüder-Ansatz” bekannt.)
Nachtrag, in der Hoffnung, noch deutlicher zu machen, wo das Problem der Beschleunigung steckt: Nehmen wir an Serena fliegt auf dem Hinweg mit einem der Brüder mit (dem, der nach Alpha Centauri unterwegs ist), auf dem Rückweg mit dem anderen, der zur Erde fliegt. (Bruder 1 bleibt die ganze Zeit auf der Erde.) Zu jeder Zeit geht ihre Uhr gleich der Uhr des jeweiligen Bruders, bei dem sie an Bord ist. Die gesamte für sie verstrichene Zeit ist auf jedem der beiden Schiffe gleich der Zeit, die für den jeweiligen Bruder vergeht – in beiden Fällen sind es 3,2 Jahre, zusammen 6,4. Die gesamte für sie verstrichene Zeit ist also exakt gleich der Zeit, die man erhält, wenn man jeweils die Zeiten aufaddiert, die sie mit den Brüdern verbracht hat. Trotzdem sollen wir irgendwie argumentieren, dass es die Beschleunigung beim Übersetzen von einem Schiff aufs andere war, die dafür verantwortlich ist, dass für sie nicht die 10,8 Jahre von Teresa vergehen?
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