Viele Moleküle gibt es ja in zwei Varianten, die zu einander spiegelsymmetrisch sind. Von eurer Joghurt-Packung kennt ihr vielleicht die “rechtsdrehende Milchsäure”. Die heißt nicht so, weil sie sich nur rechtsherum drehen kann, sondern wegen ihrer Wechselwirkung mit Licht. Milchsäure hat ein Kohlenstoffatom (mit einem Sternchen gekennzeichnet), das vier unterschiedliche Bindungen hat:
Nach einer Vorlage von Paginazero – mio disegno, Gemeinfrei, Link
Entsprechend gibt es zwei spiegelbildliche Varianten des Moleküls. Strahlt man polarisiertes Licht auf so ein Molekül, wird die Richtung der Polarisation gedreht – und zwar entweder rechtsherum oder linksherum, je nach der Molekülform. In der Natur kommen beide Formen prinzipiell vor, wobei wir aber die “rechtsdrehende” besser verdauen können als die “linksdrehende”, und das seht ihr dann auf eurer Joghurtpackung vermerkt.
So weit, so (halbwegs) einfach. Bis man anfängt, darüber nachzudenken, dass so ein Molekül aus ein paar Atomen besteht, und damit ja eigentlich nach den Regeln der Quantenmechanik beschrieben werden muss. Nach diesen Regeln ist es möglich, dass ein Objekt, dass in der klassischen Physik einen von zwei Zuständen einnehmen kann, sich in einer sogenannten “Überlagerung” aus diesen beiden Zuständen befindet. Diese “Überlagerung” gibt die Wahrscheinlichkeit an, was man misst: Man könnte also ein Milchsäure-Molekül haben, das eine 30%-Wahrscheinlichkeit für die linke Variante oben im Bild hat und eine 70%-Wahrscheinlichkeit für die rechte Variante. (Wesentlich detaillierter erkläre ich das in meiner Artikelserie “Quantenmechanik verstehen” – klickt rechts bei den Artikelserien.) Ich nenne diese beiden Varianten jetzt L und R, dann wird es einfacher.
Wir haben damit ein sogenanntes Zwei-Zustands-System (wobei wir ignorieren, dass unser Molekül noch alles mögliche andere tun könnte, beispielsweise könnten die Atome gegeneinander schwingen, Seitengruppen könnten rotieren, Elektronen könnten angeregt werden und und und…). Interessanterweise ist es so, dass die beiden Zustände oben keine eindeutige Energie besitzen.
Warum das? In der klassischen Physik ist offensichtlich die Energie des Moleküls in jedem der beiden Zustände dieselbe – die Gesetze der Physik sind ja (nahezu, von so esoterischen Dingen wie der Paritätsverletzung der elektroschwachen Wechselwirkung mal abgesehen, die ich hier nur erwähne, damit niemand nörgelt…) spiegelsymmetrisch, in unserem Alltag funktioniert eine Schraube mit Linksgewinde prinzipiell genauso gut wie eine mit Rechtsgewinde (dass wir nur die eine Sorte verwenden, ist reine Konvention).
In der Quantenmechanik gilt aber folgende Regel: Wenn wir ein System haben, das klassisch in einem von zwei Zuständen vorliegen kann, und diese beiden Zustände habe dieselbe Energie, dann gibt es einen Überlagerungszustand aus den beiden, der energetisch etwas günstiger ist, und einen zweiten Überlagerungszustand, der energetisch etwas ungünstiger ist. Der energetisch günstigste Zustand hat dabei eine Wahrscheinlichkeit von 50% L und 50% R. (Der energetisch ungünstigste übrigens auch, aber die beiden Zustände sind trotzdem nicht dieselben, weil die Überlagerung ein anderes Vorzeichen hat, das erkläre ich im Detail in besagter Artikelserie, aber nicht jetzt, sonst komme ich nämlich nie zum Thema….)
Es stellt sich nun die folgende Frage: Wenn das so ist, warum beobachten wir dann nie ein Milchsäure-Molekül in diesem energetisch günstigsten Zustand, sondern immer nur entweder in der L- oder der R-Form? Das ist das sogenannte “Hundsche Paradoxon”, das schon ganz in der Anfangszeit der Quantenmechanik (1927) aufgestellt wurde (und von dem ich peinlicherweise erst vor etwa zwei Wochen zum ersten Mal gehört habe, und ich dachte immer, ich kenne mich in der Quantenmechanik aus…).
Wenn man ein Zwei-Zustand-System zu einer bestimmten zeit in einem der beiden Zustände L oder R hat, dann ändert sich der Zustand mit der Zeit. Aus dem L-Zustand wird ein Zustand, in dem sowohl L als auch R möglich sind, dann ein reiner R-Zustand, dann wieder zurück. Das ganze ist mathematisch analog zu einem System aus gekoppelten Pendeln wie in diesem Video:
Wenn das linke Ei schwingt, entspricht das unserem Zustand L, wenn das rechte Ei schwingt, dem Zustand R, und die Schwingung überträgt sich die ganze Zeit von einem zum anderen.
Wie schnell dieser Wechsel des Zustands geht, hängt davon ab, wie groß die energetische Hürde zwischen den beiden Zuständen L und R ist – das System nutzt quasi den quantenmechanischen Tunneleffekt, um von einem zustand in den anderen zu kommen, und das Tunneln ist um so unwahrscheinlicher, je größer die Energiebarriere ist. Unser Milchsäure-Molekül müsste sich ziemlich heftig verändern, um in die Spiegelvariante zu kommen, also ist die Energiebarriere hoch. Wenn wir also einmal ein Molekül in der L-Form haben, dann müssen wir auch nach den Regeln der Quantenmechanik sehr lange (für wirklich große Werte von “sehr”) warten, bis wir eine realistische Chance haben, das Molekül im anderen Zustand vorzufinden.
Ist damit das Hundsche Paradoxon gelöst? Wir beobachten das Molekül nie in einem Überlagerungszustand, weil es solange dauert, von einem Zustand in einen anderen zu gelangen?
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