Nein. Denn die Frage bleibt, warum das Molekül überhaupt in den einen oder anderen der beiden Spiegelzustände kommt. Warum fängt es nicht im Überlagerungszustand an und bleibt dann dort? Hinzu kommt etwas anderes: Für große Moleküle wie die Milchsäure ist das die Tunnelzeit von L nach R und zurück lang, für kleine Moleküle gilt das aber nicht. Beispielsweise gibt es Ammoniak (das allerdings keine zwei Spiegelformen hat) in zwei Varianten, und zwischen denen kann das Molekül problemlos tunneln – damit wurde der erste Maser gebaut (ein Maser ist wie ein Laser, nur mit Mikrowellen). [Ausführlich wird diese Geschichte in den Feynman Lectures erzählt.] Es gibt auch sehr kleine Moleküle, die tatsächlich in zwei spiegelbildlichen Formen vorliegen können (solche Moleküle nennt man übrigens “chiral”, nach dem griechischein “cheir” für “Hand”).
Ein solches Molekül ist Diwasserstoff-Disulfid. Es besteht aus zwei Wasserstoff- und zwei Schwefelmolekülen. Ersetzt man den Wasserstoff durch “schweren Wasserstoff” (also Wasserstoff, bei dem im Atomkern ein Proton und ein Neutron sitzen”, dann hat man “Dideuterium-Disulfid” oder kurz D2S2, was ein bisschen wie ein Roboter aus Star Wars klingt. So sieht das Molekül aus (gelb Schwefel, blau Wasserstoff, nach Day, 2009):
D2S2 hat eine Tunnelrate von 167 Hertz, wenn man es in einem Zustand hat, würde es also sehr schnell in den anderen tunneln, und damit spricht nichts dagegen, dass man es auch in einem Überlagerungszustand beobachten sollte. (Man nimmt genau deswegen die Variante mit Deuterium, bei der mit Wasserstoff wäre die Frequenz noch höher, das würde Rechnungen und Messungen, die man an solchen Molekülen ja auch machen kann, erschweren.) Tut man aber nicht.
Irgendetwas sorgt dafür, dass das Molekül im R- oder L-zustand beobachtet wird. Man hat lange Zeit vermutet, dass es der Einfluss der Umgebung ist, der dafür sorgt, es war aber nicht klar, wie genau das passiert. Erst im Jahr 2009 wurde die Frage durch aufwändige Computersimulation beantwortet: Verantwortlich dafür sind Stöße mit anderen Molekülen. So ein D2S2-Molekül ist ja nicht allein auf der Welt. Man kann beispielsweise simulieren, was passiert, wenn man es in eine Atmosphäre packt, die ein wenig Helium enthält. (Helium deshalb, weil es das kleinste chemisch stabile Objekt ist, das es gibt.) Die Helium-Atome und unsere D2S2-Moleküle stoßen sich dabei. Diese Stoßprozesse sind aber stark davon abhängig, welche Form das D2S2-Molekül hat: sie reagieren unterschiedlich auf die links- und die rechtshändige Form. Das mag überraschen, weil die Physik ja spiegelsymmetrisch ist, der Effekt ist aber subtil: Die Wahrscheinlichkeit für einen Stoß mit einem links- oder rechtshändigen Molekül ist tatsächlich gleich, wie man es erwarten würde. Aber in der Quantenmechanik kommt hinzu, dass die Stoßprozesse auch über eine zusätzliche Zahl beschrieben werden (die Phase), und hier gibt es einen Unterschied zwischen dem Stoß mit einem rechts- oder linkshändigen Molekül, wenn man auch noch berücksichtigt, dass die Moleküle beim Stoß mit den Helium-Atomen rotieren können. [Hinweis für die Expertinnen: In der entsprechenden Gleichung steht die Differenz der Streuamplituden, die dann quadriert wird, wie in der QM üblich. Wenn sich also die Phase der beiden Amplituden unterscheidet, hat das einen Effekt.]
Fängt man also mit lauter D2S2-Molekülen in einem Überlagerungszustand an, dann sorgen die Stöße mit den Helium-Atomen dafür, dass die Moleküle am Ende in einem von beiden möglichen Zuständen landen. Dieser Vorgang wird auch “Dekohärenz” genannt. (Nein, das quantenmechanische Messproblem ist damit nicht vollständig gelöst – denn am Ende müsste das ganze System in einem komplizierten Überlagerungszustand sein, weil jedes einzelne Molekül ja entweder im Zustand L oder R landet, der dann kompliziert mit dem verschränkt ist, was alle anderen Moleküle machen.)
Die Rechnungen zeigen auch, dass der Effekt schon bei sehr niedrigen Energien der Stoßprozesse (also bei niedrigen Temperaturen, wo die Helium-Atome langsam sind) sehr stark ist. Schon bei Temperaturen von wenig mehr als 1 Kelvin reichen etwa 10 Stoßprozesse, um ein Molekül in einen der beiden Zustände L oder R zu bringen
Damit ist das Hundsche Paradoxon also zumindest für diesen Fall geklärt, es ist der Einfluss der Umwelt, der dafür sorgt, dass wir Moleküle nicht in seltsamen Überlagerungszuständen beobachten. Theoretisch könnte man sich Vakuum-Experimente vorstellen, bei denen Überlagerungen beobachtbar wären, soweit ich weiß (falls ihr mehr wisst, sagt Bescheid), wurden die aber bisher nicht gemacht.
Quellen:
Day, Charles. “Month-long calculation resolves 82-year-old quantum paradox.” Physics Today 62.9 (2009): 16.
Trost, Johannes, and Klaus Hornberger. “Hund’s paradox and the collisional stabilization of chiral molecules.” Physical review letters 103.2 (2009): 023202.
Schachner, H. (2002). Das Hund’sche Paradoxon (Doctoral dissertation).
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