Es heißt ja oft, dass das Besondere an der Quantenmechanik die Tatsache ist, dass ein Objekt in “mehreren Zuständen gleichzeitig” sein kann. Schrödingers Katze ist “gleichzeitig lebendig und tot”, beim berühmten Doppelspaltexperiment geht ein Teilchen durch zwei Spalten gleichzeitig usw. Man spricht dann oft von “Überlagerungszuständen”, weil der Zustand eben mehrere Möglichkeiten sozusagen vereint. Das hat auch durchaus seine Berechtigung, aber die Tatsache allein, dass ein Zustand als eine Überlagerung aus anderen angesehen werden kann, ist keine Besonderheit der Quantenmechanik, und das kann das Konzept des “Überlagerungszustands” verwirrender aussehen lassen als es ist.
(Anmerkung: Sabine Hossenfelder hat vor ein paar Monaten auch etwas zum Thema gepostet, das ist auf jeden Fall auch lesens- oder ansehenswert.)
Ein Alltagsbeispiel
Nehmen wir an, ihr fahrt mit eurem Auto durch die Gegend. Um euren aktuellen Zustand zu beschreiben, müssen wir auf jeden Fall euren Ort kennen (wo seid ihr gerade?) und eure Geschwindigkeit (wie schnell fahrt ihr gerade?). (Ja, euer persönlicher Zustand hat noch ein paar mehr Variablen, aber die sind für die Physik meist zu kompliziert…). Den Ort zu bestimmen ist ganz einfach, dazu reichen die Koordinaten, z.B. als Längen- und Breitengrade, so wie euer GPS im Auto das tut. Die Geschwindigkeit ist etwas komplizierter, denn hier müssen wir nicht nur wissen, wie schnell ihr seid, sondern auch, in welche Richtung ihr fahrt.
Um die Geschwindigkeit anzugeben, können wir auch wieder das handelsübliche Koordinatensystem auf der Erdoberfläche nehmen, mit den beiden Achsen Nord-Süd (Vom Nord-zum Südpol) und Ost-West (Vom Ost- zum Westpol, auch wenn, wie Christopher Robin einst zu Puh dem Bären bemerkte, die Leute darüber nicht so gern reden). Wir können dann beispielsweise sagen “Das Auto fährt mit 10m/s nach Norden” oder “Das Auto fährt mit 10m/s nach Nordosten.”
So weit, so einfach. Wir geben den Wert der Geschwindigkeit an und die Richtung, in die das Auto fährt. Wir können das aber auch anders betrachten: Wenn ihr mit 10m/s nach Nordosten fahrt, dann bewegt ihr euch jede Sekunde etwa 7m Richtung Nordpol und 7m Richtung Ostpol. (Wer Spaß dran hat, kann das mit dem Satz des Pythagoras leicht ausrechnen.)
Mathematisch sind die beiden Betrachtungsweisen völlig äquivalent. Das bedeutet aber auch, dass ihr eure Bewegung auch so beschreiben könnt: “Die Geschwindigkeit ist die, die sich ergibt, wenn man mit 7m/s nach Norden fährt und gleichzeitig mit 7m/s nach Osten.” Eure Bewegung ist also in diesem Sinne eine Überlagerung aus zwei Geschwindigkeiten, einer nach Norden und einer nach Osten.
Daran ist nichts geheimnisvolles . Und dass eure Geschwindigkeit so eine Überlagerung ist, hat keine besondere physikalische Relevanz – wir könnten als Himmelsrichtungen, die wir zum Kennzeichnen der Geschwindigkeit nehmen, ja genau so gut die Achsen Nordost-Südwest und Nordwest-Südost nehmen. (o.k., das wird dann in der Nähe der Pole etwas knifflig, aber das soll mit jetzt egal sein.) In dem Fall ist dann eure Bewegung nach Nordosten eine entlang einer Achsen und keine Überlagerung, eine Bewegung nach Norden dagegen ist dann eine Überlagerung aus einer nach Nordosten und einer nach Nordwesten.
Dass man durch Überlagerung von zwei Bewegungen jede beliebige Bewegung in der Ebene bekommen kann, kennt ihr (zumindest wenn ihr wie ich kurz nach der Bronzezeit geboren wurdet) auch von solchen x-y-Plottern:
By Florian Schäffer – Own work, CC BY-SA 4.0, Link
Der Stift des Plotters bewegt sich über das Papier, indem der Wagen von links nach rechts fährt und der Stift auf dem Wagen von oben nach unten; durch Überlagerung der beiden Bewegungen können wir jede beliebige Kurve zeichnen.
Fazit: Eine Geschwindigkeit in einer beliebigen Richtung können wir als “Überlagerung” aus zwei Bewegungen entlang zweier (senkrechter) Achsen beschreiben. Das ist nicht besonders geheimnisvoll oder verwirrend, und auch wenn es etwas seltsam klingt zu sagen “Das Auto ist in einer Überlagerung aus einer Bewegung nach Norden und nach Osten” statt einfach “Das Auto bewegt sich nach Nordosten”, ist es ohne Zweifel richtig.
Polarisiertes Licht
Bleiben wir erst mal in der klassischen Physik. Licht ist – laut Maxwellscher Theorie – eine elektromagnetische Welle. So kann man sich so eine Welle vorstellen:
Von And1mu – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, Link
Das elektrische (E) und das magnetische (B) Feld oszillieren an einem Ort (im Idealfall mit einer Sinusfunktion wie hier) und stehen senkrecht aufeinander; die Welle breitet sich senkrecht zum E- und B-Feld aus.
Im Bild zeigt das E-Feld in die y-Richtung; es kann aber in jede beliebige Richtung zeigen. Solange die Richtung des E-Felds eindeutig definiert ist, spricht man von “polarisiertem Licht”. (Licht aus einer handelsüblichen Lampe ist nicht polarisiert, unterschiedliche Wellenzüge haben unterschiedliche Richtungen für das E-Feld – allerdings immer senkrecht zur Bewegungsrichtung und senkrecht zum B-Feld.) Kleiner Hinweis, nur der Vollständigkeit halber: Was ich hier beschreibe ist linear polarisiertes Licht, es gibt auch zirkular polarisiertes Licht, darauf gehe ich hier aber nicht ein…
Polarisiertes Licht kann man mit einem Polfilter erzeugen. Das folgende Bild zeigt, was passiert, wenn man Licht mit beliebiger Orientierung des E-felds durch einen Polfilter schickt:
Oben im Bild seht ihr, dass ein Lichtstrahl, der senkrecht polarisiert ist, vom ersten Filter durchgelassen wird, einer, der horizontal polarisiert ist, dagegen nicht. Hinter dem ersten Polfilter ist das Licht also senkrecht polarisiert. Trifft es jetzt auf einen zweiten Polfilter, der nur horizontal polarisiertes Licht durchlässt (durch die Linien auf dem Filter symbolisiert), dann wird es nicht durchgelassen.
Unten im Bild habe ich einen dritten Polfilter eingebaut, der um 45° gegen die beiden anderen gedreht ist. Interessanterweise wird jetzt Licht durchgelassen, weil ein Teil des senkrecht polarisierten Lichts durch diesen Polfilter durchgelangt.
Warum? Die Logik ist ähnlich wie eben bei unserer Fahrt nach Nordosten: Senkrecht polarisiertes Licht kann man sich vorstellen als eine Überlagerung von Licht, das schräg unter +45° polarisiert ist, und von Licht, das schräg unter -45° polarisiert ist. Und die eine dieser beiden Komponenten wird vom zweiten Polfilter durchgelassen und trifft auf den dritten Polfilter. Dort gilt wieder dieselbe Logik: Licht, das unter +45° polarisiert ist, kann man auffassen als Überlagerung von senkrecht und waagerecht polarisiertem Licht.
Anders als vorhin bei unserem Auto hat die Tatsache, dass wir den Zustand als Überlagerung ansehen können, jetzt also ganz unmittelbare physikalische Konsequenzen.
Mathematisch ist das Ganze leicht einzusehen (wenn ihr es nicht so gern mathematisch habt, überspringt diesen Absatz einfach): Das elektrische Feld ist ein Vektorfeld, hat also an jedem Punkt eine Richtung, Vektoren kann man in ihre Komponenten zerlegen, das ist genau das, was wir hier tun. Und die Maxwell-Gleichungen, die das Verhalten von Licht beschreiben, sind linear, d.h. wenn wir zwei Lösungen haben, dann ist auch deren Summe eine Lösung der Maxwellgleichung. Wenn wir also eine em-Welle haben, dann können wir deren E-Feld beliebig in Komponenten zerlegen und es kommt immer wieder eine Lösung heraus.
Nebenbei bemerkt: Ich finde, diese Anordnung ist eine exzellente Demonstration dafür, warum man in der Physik nur mit logischen Argumenten ohne Experimente nicht beliebig weit kommt. Polfilter absorbieren Licht. Es ist deshalb eigentlich vollkommen logisch, dass ein System, das Licht vollständig absorbiert (wie im oberen Bild), nicht plötzlich Licht durchlassen kann, wenn ich noch eine Komponente hinzufüge, die auch nur Licht absorbiert. Wenn ich mehr absorbierende Komponenten habe, sollte mehr Licht absorbiert werden. Stimmt aber wegen der besonderen Eigenschaften von polarisiertem Licht nicht.
Polarisierte Photonen
Als nächstes machen wir den Sprung zur Quantenmechanik (kurz QM) – denn um die soll es ja eigentlich gehen. In der Quantenmechanik beschreibt man Licht nicht als Welle, sondern als Teilchen. Licht besteht aus vielen einzelnen Photonen. (Das ist durchaus trickreich und wird tatsächlich nicht mal im Physikstudium im Detail anschaulich erklärt, aber ich habe mich mal hier an einer Erklärung versucht.) Für unsere Zwecke hier reicht ein (etwas vereinfachtes) Bild aber aus: Photonen sind Teilchen, die selbst auch polarisiert sein können, genau wie eine elektromagnetische Welle (die ja auch aus Photonen besteht). Wie genau sich eine Welle wie die oben im Bild aus Photonen zusammensetzt, brauchen wir nicht im einzelnen anzugucken. Wir können uns einfach vorstellen, dass wir das Licht immer weiter dimmen bis wir nur noch ein Photon pro Sekunde oder so durch unsere Polfilter schicken.
Photonen kann man nicht teilen – ein Detektor, der für Photonen des sichtbaren Lichts empfindlich ist (wie z.B. der CCD-Chip auf eurer Handykamera) misst entweder ein Photon oder auch nicht. (O.k. wenn ihr nicht ein seeeeehr teures Handy habt, macht das keine Bilder mit einzelnen Photonen, sondern nur, wenn ein Haufen davon gleichzeitig auf den Sensor trifft, aber jedes Photon, das absorbiert wird, ändert die Ladungsverteilung im Chip ein klein wenig.)
Was passiert also, wenn ein Photon auf einen Polfilter trifft? Nehmen wir wieder das untere Bild mit den drei Polfiltern. Nehmen wir an, das Photon hat den ersten Filter passiert und trifft jetzt auf den zweiten Filter unter 45°. Wird es absorbiert oder nicht?
Jetzt kommt der quantenmechanische Überlagerungszustand ins Spiel: Das Photon ist senkrecht polarisiert. Es befindet sich jetzt in einer Überlagerung aus dem Zustand “polarisiert unter +45°” und “polarisiert unter -45°”. (Mit geeigneter Trickserei kann man das auch nachweisen.) In der klassischen Physik wurde jetzt an diesem zweiten Polfilter 50% des Lichts absorbiert. In der QM geht das so nicht – halbe Photonen kann man nicht absorbieren.
Stattdessen kommt jetzt der quantenmechanische Zufall ins Spiel: Das Photon hat eine Wahrscheinlichkeit von 50%, absorbiert zu werden und eine Wahrscheinlichkeit von 50%, durchgelassen zu werden. Das ist der berühmte quantenmechanische Messprozess. Hinter dem Polfilter haben wir jetzt entweder ein Photon (wenn es durchgelassen wurde) oder nicht (wenn es absorbiert wurde).
Hinweis: Man könnte glauben, dass das Photon doch jetzt immer noch in einem Überlagerungszustand aus “absorbiert” und “durchgelassen” ist – aber wenn der Polfilter das Photon absorbiert, ändert sich der Zustand des Filters (er nimmt ja z.B.Energie auf), und das lässt sich im Prinzip messen. Der Zustand ist jetzt kein Überlagerungszustand mehr, denn entweder wurde die eine Möglichkeit realisiert oder die andere. Die Situation ist jetzt analog zu einer, in der wir mit ganz gewöhnlichen Wahrscheinlichkeiten operieren: Wenn ich eine Münze werfe, bekomme ich Kopf oder Zahl, aber es ist in der klassischen Physik eben nicht sinnvoll, von einer Überlagerung aus “Kopf” und “Zahl” zu sprechen, denn nur eine der Möglichkeiten kann tatsächlich auftreten. Mehr zu den daraus resultierenden Problemen bei der Interpretation der QM findet ihr in diesem Artikel.
Ähnlich wie in der klassischen Physik ist die Beschreibung des Zustands als Überlagerung aus +45° und -45° jetzt also hilfreich, weil wir damit herausbekommen können, was passiert – oder genauer, mit welcher Wahrscheinlichkeit was passiert. Würden wir den zweiten Polfilter aber auch senkrecht stellen, dann wäre es nicht so hilfreich, den Zustand “senkrecht polarisiert” als Überlagerungszustand aufzufassen. Ob ein Zustand ein Überlagerungszustand ist oder nicht, ist also nach wie vor eine Frage des Standpunkts und nichts fundamental physikalisches.
Doppelspalt
Als letztes werfen wir noch einen Blick auf das berühmteste Experiment der QM, den Doppelspalt. (Hier nur kurz, mehr dazu findet ihr in diesem Artikel oder auch hier.) Wir schicken unser Photon auf eine Wand, die zwei dicht benachbarte Spalten enthält (deswegen ja “Doppelspalt”) und beobachten auf einem Schirm dahinter ein Interferenzmuster (Achtung: das Bild ist sehr schematisch):
By inductiveload – Own work (Own drawing), Public Domain, Link
Im Rahmen der klassischen Physik, wenn wir Licht als em-Welle ansehen, kann man das, so wie in der Zeichnung, als Interferenz verstehen: Wellenberge und -täler der beiden Lichtwellen, die von den zwei Spalten ausgehen, können sich entweder “konstruktiv” überlagern (Berg trifft auf Berg und Tal auf Tal), so dass sich die Wellen verstärken, oder “destruktiv” (Berg trifft auf Tal oder umgekehrt), so dass sich die Wellen auslöschen.
Es gibt aber auch dann ein Interferenzmuster, wenn wir einzelne Photonen durch den Doppelspalt schicken, obwohl wir ja andererseits wissen, dass Photonen sich wie Teilchen verhalten und Teilchen (in der klassischen Physik) einen eindeutigen Weg haben. Ein klassisches Teilchen kann nur entweder durch den oberen oder durch den unteren Spalt gehen, aber nicht durch beide.
In der QM ist das aber anders: Das Photon hat zwei Möglichkeiten (naja, eigentlich gibt es noch eine dritte, sehr viel wahrscheinlichere Möglichkeit, nämlich dass ein einzelnes Photon irgendwo auf der Wand des Doppelspalts absorbiert wird, aber diese Photonen sind für die Betrachtung im Moment irrelevant): Es kann durch den oberen oder unteren Spalt gehen. Was dann hinten beim Schirm passiert ist, dass diese beiden Möglichkeiten sich überlagern und zur Interferenz führen. (Man kann das auch mit Wellen beschreiben – bei Elektronen nimmt man dazu die sogenannte Wellenfunktion der QM, bei Photonen ist das etwas trickreicher, aber kein prinzipielles Problem.) Jedes einzelne Photon taucht genau an einem Punkt des Schirms auf, aber wenn man sehr viele Photonen durch den Doppelspalt schickt, ergibt sich am Ende dasselbe Interferenzmuster wie in der klassischen Physik.
Um die Interferenz zu beschreiben, können wir den Zustand hinten am Schirm also wieder als Überlagerungszustand auffassen – er ist eine Überlagerung aus den beiden Zuständen “Photon durch oberen Spalt” und “Photon durch unteren Spalt”. Mit den Regeln der QM kann man dann tatsächlich das Interferenzmuster berechnen.
Es sieht also so aus, als hätten wir jetzt tatsächlich einen Fall gefunden, wo wir den Zustand des Photons als Überlagerungszustand beschreiben müssen, um das richtige Ergebnis zu bekommen. Das ist aber ein Irrtum. Genauso wie wir bei unserer Fahrt nach Nordosten das Koordinatensystem wechseln konnten und uns plötzlich entlang einer der Koordinatenachsen bewegten, und genauso wie wir den Zustand senkrecht polarisiert je nach Bedarf einfach als Zustand oder als Überlagerung aus +45° und -45° polarisiert ansehen konnten, genauso können wir auch den Zustand, bei dem das Photon durch beide Spalten geht, als “Achse” verwenden. Der Zustand ist dann in diesem Sinne kein Überlagerungszustand mehr.
Mathematischer Hinweis: Da es vorher zwei Basisvektoren zur Beschreibung gab (oberer Spalt oder unterer Spalt), muss es jetzt natürlich immer noch zwei geben. Die ergeben sich durch unterschiedliche Vorzeichen an den jeweiligen Ausdrücken; die beiden Zustände sind |1>=|oben> + |unten> und |2> = |oben> – |unten> (wobei ich mir die Normierungsfaktoren spare). Umgekehrt kann man dann den Zustand |oben> als Überlagerung aus |1> und |2> darstellen. Wer die Rechenregeln für dieses Spiel verstehen will, kann bei den Artikelserien klicken und meine Serie “Quantenmechanik verstehen” lesen, da erkläre ich das sehr detailliert.
Nach wie vor ist es also so, dass wir uns entscheiden können, ob wir den Zustand als Überlagerungszustand ansehen wollen oder nicht, je nachdem, was gerade mathematisch/physikalisch praktischer ist.
Es gibt aber einen entscheidenden Unterschied: Vorher (bei den polarisierten Photonen) war jeder Zustand einer, der auch in der klassischen Physik sinnvoll ist. Das ist hier jedoch nicht mehr der Fall. Der quantenmechanische Zustand, bei dem das Photon “durch beide Spalten geht”, kann klassisch eben nicht existieren. Wenn wir also von klassischen Zuständen von Teilchen ausgehen, dann hat dieser Zustand schon einen anderen Charakter, denn er ist eine Überlagerung aus Zuständen, die in der klassischen Physik möglich sind.
Ganz so eindeutig ist es aber immer noch nicht: Denn wir haben ja gesehen, dass es bei Wellen auch in der klassischen Physik zu Interferenzen kommt. Wenn wir also den Wellenzustand aus dem Doppelspaltbild als klassisch möglichen Zustand auffassen, dann ist der Zustand, bei dem das Photon “durch beide Spalten geht”, doch wieder ein klassisch möglicher Zustand, aber eben einer für Wellen, nicht für Teilchen. Letztlich ist genau das der Grund, warum man in der QM so oft vom “Welle-Teilchen-Dualismus” spricht (naja, in der Populärwissenschaft tut man das, in der Physik selbst ist das kein großes Thema, weil man die Sache ja genau versteht, sie widerspricht halt nur ein wenig unserer Anschauung.)
Komplementarität
Tja, manche Dinge fallen einem erst beim Schreiben auf. Deswegen wird dieser – ohnehin schon lange – Artikel gleich noch etwas länger. Denn das, was ich gerade über die unterschiedlichen Möglichkeiten der Darstellung eines Zustands geschrieben habe, hängt tatsächlich eng mit dem quantenmechanischen Begriff der “Komplementarität” zusammen.
In der QM ist es so, dass wir bestimmte Größen eines Objekt nicht gleichzeitig beliebig genau definieren können – bekanntestes Beispiel hier für sind Ort und Geschwindigkeit (oder, wenn ihr es etwas physikalischer ausdrücken wollt, “Impuls”) eines Teilchens, beispielsweise eines Elektrons. Diese beiden Größen sind “komplementär”. Messt ihr beispielsweise den Ort eines Teilchens sehr genau, dann ist die Geschwindigkeit des Teilchens unbestimmt – das ist die berühmte Unschärferelation.
Was das mit den Überlagerungszuständen zu tun hat? Wenn man einen Zustand als Überlagerung von anderen Zuständen darstellen kann, dann sind die entsprechenden Größen genau in dieser Weise komplementär zueinander. Ein Elektron, das sich an einem Ort aufhält, kann ich mathematisch als eine Überlagerung von vielen Zuständen mit unterschiedlichen Werten der Geschwindigkeit darstellen. (Wie das genau geht, habe ich vor langer Zeit mal in meiner Serie zur Schrödingergleichung erklärt.) Umgekehrt beschreibt man ein Elektron, das eine bestimmte Geschwindigkeit hat, als eine Welle, bei der das Elektron sozusagen an jedem Ort zugleich sein kann – also als eine Überlagerung aus lauter Zuständen mit unterschiedlichen Orten. Wenn ich den Ort des Elektrons tatsächlich messe, bekomme ich einen bestimmten Wert heraus; aber welcher Wert es ist, ist zufällig; jeder Wert des Ortes hat dieselbe Wahrscheinlichkeit.
So war es ja letztlich auch bei unserem polarisierten Photon: Senkrecht polarisiert ist eine Überlagerung aus zwei Zuständen, nämlich +45° und -45°. Trifft das Photon auf einen Polfilter unter 45°, dann wird es mit 50% Wahrscheinlichkeit durchgelassen und mit 50% Wahrscheinlichkeit absorbiert – welcher der beiden Fälle eintritt, bestimmt der Zufall, in jedem Fall wird der Zustand des Photons aber verändert. Die Zustände sind also in genau diesem Sinne zueinander komplementär – wenn ich weiß, dass der Zustand “senkrecht polarisiert” ist, dann kann ich keine Aussage über die Polarisation unter 45° machen. (Beim Doppelspalt gerade war es ähnlich – wissen wir, durch welchen Spalt das Photon geht, dann verschwindet das Interferenzmuster; wissen wir es nicht, dann gibt es ein Interferenzmuster.)
In der klassischen Physik war das anders: Wenn ich mit 10m/s nach Nordosten fahre, dann messe ich für die Geschwindigkeit in Richtung Norden eben etwas mehr als 7m/s – es gibt aber hier keinen Zufall und auch keine Veränderung des Zustands meines Autos.
Fazit
Überlagerungszustände selbst sind also keine Eigenheit der QM, es gibt sie auch in der klassischen Physik. Das Besondere an der QM ist zum einen, dass man Zustände überlagern kann, bei denen das in der klassischen Physik nicht möglich ist – dort hat ein Teilchen immer genau einen Ort und kann nicht in einer Überlagerung aus mehreren Orten sein. Zum anderen sind manche Zustände zueinander komplementär – wenn wir den Zustand des Teilchens bezüglich einer Messung (beispielsweise die senkrechte Polarisation) kennen (so dass er bezüglich dieser Messung kein Überlagerungszustand ist), dann ist er eine Überlagerung aus anderen Zuständen (polarisiert unter +45° und -45°) und wir wissen nichts darüber, was wir messen werden, wenn wir diese Messung machen, weil die Messung das System in einen der beiden möglichen Zustände “zwingt”.
Wieder einmal ist das Besondere an der QM also letztlich der Messprozess, die (nach wie vor rätselhafte) Tatsache, dass eine Messung einer Größe den Zustand des Systems sprunghaft und vollkommen zufällig verändert.
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