Die Parabel von Achilles und der Schildkröte (mit Entschuldigung an L. Carroll)
Achilles: Wir treffen uns morgen Mittag um 12 Uhr.
Schildkröte: Das ist ja mitten in der Nacht.
A: Unsinn, 12 Uhr mittags ist doch Tag, quasi definitionsgemäß.
S: Wirklich? Wie definierst du denn “Tag”?
A: Wenn die Sonne am Himmel steht.
S: Aha. Aber wenn wir morgen am Südpol wären, dann stünde die Sonne um 12 nicht am Himmel, also ist 12 Uhr nicht definitionsgemäß Tag.
A: Schon, aber wir sind in Griechenland, nicht am Südpol.
S: Begriffe müssen aber eindeutig sein, sonst sind sie beliebig. Tag ist also, wenn die Sonne am Himmel steht?
A: Ja, natürlich.
S: Aber was ist wenn es wolkig ist?
A: Dann könnte ich die Sonne ja immer noch messen, beispielsweise ihre Infrarotstrahlung.
S: Und bei einer Sonnenfinsternis?
A: Das zählt auch nicht, wenn der Mond die Sichtlinie nicht verdecken würde, würde man die Sonne ja sehen.
S: Dann ist dein Begriff von Tag also nur ein gedankliches Konstrukt, weil du ja Dinge wegdenken musst.
A. Gut, ich definiere anders: Tag ist, wenn die Sonne über dem Horizont steht.
S: Aha. Wie weit denn über dem Horizont? Wenn die Sonne aufgeht, tut sie das ja langsam.
A: Jetzt wird es aber sehr spitzfindig. Aber meinetwegen. Dann sagen wir, Tag ist, wenn mindestens 50% der Sonne über dem Horizont ist.
S: Aber was genau ist der Horizont?
A: Die Sichtlinie, wo sich Himmel und Erde berühren.
S: Und wenn da ein Berg ist? Ist plötzlich Nacht, wenn die Sonne hinter einem Berg steht?
A: Natürlich nicht, man muss sich eine Sichtlinie denken, so als wäre die Erde eine perfekte Kugel.
S: Und mit genau welcher Höhe muss ich den Horizont annehmen? Ist das immer Meereshöhe, auch wenn ich im Himalaya bin? Oder eine gemittelte Höhe? Oder wie? Wikipedia allein listet fünf verschiedene Definitionen von Horizont.
A: Ääääh.
S: Siehst du. Um Tag zu definieren, verwendest du eine gedachte Linie, die du nicht einmal genau definieren kannst. Das beweist, dass das ganze Konzept Tag und Nacht nur ein Konstrukt ist, und gar nicht wirklich real existiert.
A: Natürlich existieren Tag und Nacht wirklich und lassen sich unterscheiden. Und morgen Mittag um 12 ist nun mal Tag.
S: Du kannst aber Tag und Nacht nur mit Hilfe gedachter Konstrukte unterscheiden, die auch anders sein könnten, Wolken und Berge werden weggedacht, irgendwelche Horizontlinien werden konstruiert. Da sieht man doch, dass Tag und Nacht gar nicht wirklich existieren, sondern nur Konvention sind.
Außerdem ist dein Argument astronomistisch. In Wahrheit ist es ja noch komplizierter: Das Licht der Sonne wird von der Erdatmosphäre gebrochen. Wenn 50% der Sonne über dem gedachten Horizont zu stehen scheinen, dann liegt das auch an der Lichtbrechung, die verschiebt also den Zeitpunkt noch einmal. Das berücksichtigst du gar nicht, das
zeigt doch, dass du in Wahrheit auch von Astronomie nichts verstehst. Die Wissenschaft ist da viel weiter als du denkst.
Und von der Raumzeitkrümmung durch die Allgemeine Relativitätstheorie hast du auch gar nicht geredet, eine wirklich gerade Sichtline von der Erde zur Sonne gibt es in der gekrümmten Raumzeit doch gar nicht.
A: Aber der Unterschied betrifft doch nur einen winzigen Bruchteil des Tages.
S: Das ist egal. Die binäre Unterscheidung Tag-Nacht kann nicht gültig sein, wenn es einen Zeitpunkt gibt, von dem man nicht sagen kann, ob Tag oder Nacht ist. Und deshalb sage ich, dass morgen Mittag nun mal mitten in der Nacht liegt. Da komme ich bestimmt nicht.
Was sind Definitionen?
1. Dass wir über Definitionen von Begriffen diskutieren, zeigt, dass wir ein intuitives Verständnis der Begriffe haben, das wir in Worte zu fassen versuchen. (Denkt aus Augustinus’ Frage “Was also ist die Zeit?”) Wir bilden Begriffe, indem wir Dinge klassifizieren. Für einige Fälle ist die Zuordnung zu einer Klasse eindeutig, jede Definition muss dies abbilden. Diese Fälle bilden sozusagen den “Kern” des Begriffs. Der Übergang von Tag und Nacht ist fließend, aber einige Zeitpunkt sind (am jeweiligen Ort) eindeutig “am Tag”.
2. Für die meisten Begriffe haben wir diese Klassifikation an Beispielen gelernt, als man uns als Kindern gesagt hat “Das ist ein Baum”, ” das ist kein Baum” usw. Niemand hat uns eine verbale Definition der Begriffe gegeben, wir leiten die Definition aus den Beispielen ab. So tun es übrigens auch neuronale Netze, die ja auch durch Training hervorragend in der Lage sind, Dinge zu klassifizieren, ohne dass man aus dem Netz eine Definition extrahieren könnte. In diesem Sinne “gibt” es für Begriffe zunächst einmal gar keine Definition, die Definition ist genau etwas, das wir nachträglich hinzufügen, in dem Versuch, unser intuitives Verständnis in Worte zu fassen.
Das gilt übrigens selbst in der Mathematik: Wenn ihr mathematische Funktionen anguckt, seht ihr, dass es einige gibt, die Sprünge haben, andere, die das nicht tun. Ihr stellt fest, dass die Eigenschaft, keine Sprünge zu haben, für eine Funktion ziemlich wichtig ist (ihr könnt für solche Funktionen Dinge beweisen, die für Funktionen mit Sprüngen nicht gelten). Also gebt ihr dieser Eigenschaft einen Namen (“Stetigkeit”) und sucht ein mathematisch exaktes Kriterium dafür, um den Begriff eindeutig zu definieren. Mathematik ist kein simples Aneinanderreihen von “Definition-Satz-Beweis”, jeder Definition liegt immer ein intuitives Verständnis zu Grunde, dem ihr entnehmt, dass dies etwas ist, das sich zu definieren lohnt. “Stetig” ist ein nützlicher Begriff, weil ich für stetige Funktionen interessante Dinge beweisen kann
3. Dass unser Verständnis von Begriffen “intuitiv” ist, heißt nicht, dass es sich um ein bloßes Gedankenkonstrukt oder eine bloße Konvention handelt, das keine direkte Entsprechung in der Natur besitzt. Wir bilden die Begriffe ja nicht als Selbstzweck, sondern um uns das Agieren in und das Verständnis der Welt zu erleichtern. (So wie der Begriff “Stetigkeit”.) “Baum” ist ein sinnvoller Begriff, weil die Erkenntnis, dass etwas ein Baum ist, mir etwas darüber sagt, wie ich mit diesem Objekt interagieren kann. Wir können nicht jedes Objekt einzeln erfassen, das würde unser Gehirn überlasten. Wir brauchen Begriffe wie “Baum” oder “Haus”, um uns die Interaktion mit der Welt zu erleichtern – und die Tatsache, dass das klappt, sagt auch, dass diese Begriffe eben nicht nur gedankliche Konstruktionen sind. (Ein Begriff, der diesen Baum, jenes Haus, eine Handvoll Mäuse und einen Gummistiefel umfasst, wäre beispielsweise wenig nützlich.)
4. Es kann schwierig sein, Grenzfälle abzugrenzen. Einige Zeitpunkte sind schwer als “Tag” oder “Nacht” zu kategorisieren, das bedeutet aber nicht, dass das für alle Zeitpunkte schwierig ist. Es bedeutet auch nicht, dass ein Begriff beliebig definiert werden kann. Rot und blau sind unterschiedliche Farben, obwohl es violett gibt, 12 Uhr mittags ist (außer in der Polarnacht) am Tag, auch wenn es Zeitpunkt gibt, für die die Entscheidung “Tag” oder “Nacht” schwierig ist. Verbale Definitionen sollen oft genau dazu dienen, solche Grenzfälle zu erfassen, bei denen unser intuitives Verständnis versagt. Weil aber das intuitive Verständnis zuerst da war, kann man über Definitionen eben streiten.
5. Aus der Wissenschaft kennen wir Ähnliches als Unterschied zwischen hinreichender und notwendiger Bedingung. “Die Sonne steht am Himmel” ist eine hinreichende Bedingung dafür, dass Tag ist. Hinreichende Bedingungen sind typischerweise die, die den Kern eines Begriffs ausmachen. Notwendige Bedingungen sind die, die die Entscheidung auch für Grenzfälle ermöglichen sollen. Wenn zwei Begriffe wie “Tag” und “Nacht” jeweils eine große Menge an Elementen haben, die auf Basis der hinreichenden Bedingung klassifiziert werden können, dann sind es nützliche Begriffe. “Baum” und “Busch” sind ein Beispiel: Die Kirsche in meinem Garten ist eindeutig ein Baum, der Brombeerbusch ist es eindeutig nicht, aber im Grenzfall ist eine Unterscheidung zwischen Busch und Baum trotzdem schwierig.
6. Hinzu kommt der Unterschied zwischen der Definition und den diagnostischen Kriterien, die man ansetzt, um zu sehen, ob die Definition zutrifft. In der Biologie definiert man Tiergruppen heutzutage über ihre evolutionäre Abstammung, man braucht dann aber Merkmale, um bestimmte Tiere tatsächlich einzusortieren. Solche diagnostischen Merkmale können eindeutig sein (dann ist ihr Vorhandensein eine hinreichende Bedingung), ein Wirbeltier, das z.B. Fell hat und lebende Junge zur Welt bringt, ist ein Säugetier, aber die genaue Grenze, wo die Säugetiere aufhören und ihre Vorfahren anfangen, ist diagnostisch schwer zu ziehen. Pferde und Esel haben gemeinsame Vorfahren; wenn ihr in der Zeit zurückgeht, wird es immer schwieriger, die beiden Gruppen auseinanderzuhalten, selbst heute gibt es Maultiere und Maulesel, trotzdem ist ein Shirehorse eindeutig ein Pferd. Cuvier hat laut Anekdote den Teufel dank seiner Hufe und Hörner als ungefährlichen Pflanzenfresser klassifiziert.
7.Diagnostische Kriterien können auch wieder hinreichend sein, das heißt aber eben nicht, dass die Anwesenheit eines diagnostischen Kriteriums per Definition gefordert ist. Ein Auto erkennt ihr vielleicht daran, dass es Räder, einen Motor und eine Karosserie hat. Ihr werdet aber nicht panisch, wenn in der Werkstatt die Räder eures Autos abgeschraubt oder der Motor ausgebaut werden und ruft “Wo ist mein Auto?” Die begriffliche Definition von “Auto” erfordert, dass ein Auto ein Kraftfahrzeug ist; Räder und ein Motor sind diagnostische Kriterien. Ohne Räder oder Motor kann euer Auto nicht fahren, es hört aber trotzdem nicht auf, ein Auto zu sein.
8. Sind diagnostische Kriterien eines Begriffs für ein Objekt erfüllt, dann fällt dieses Objekt unter diesen Begriff. Das ist keine “Zuschreibung” des Begriffs, sondern eine Diagnose. Dass solche Diagnosen im Einzelfall auch falsch sein können, macht sie nicht generell wertlos. Ein diagnostisches Kriterium, das in 99% aller Fälle korrekte Vorhersagen macht, ist durchaus nützlich.
9. Nicht mal in der “exakten” Wissenschaft Physik sind Begriffe immer eindeutig oder leicht zu definieren. Ich habe das mit unterschiedlichen Beispielen hier diskutiert, ein anderes Beispiel ist die Definition der Kraft oder der Masse, und selbst der Begriff “gleich” im mathematischen Gleichheitszeichen kann unterschiedlich interpretiert werden. Am Beispiel der Dichte habe ich auch mal erklärt, warum es sinnvoll ist, physikalische Begriffe möglichst scharf und quantitativ zu fassen. Oder denkt an den Begriff “Planet” und die Frage, ob Pluto nun einer ist oder nicht. Kann man lange drüber streiten, aber egal, wie man den Begriff genau fasst, die Erde oder der Mars sind Planeten, (die Erde war es ursprünglich übrigens nicht, denn Planeten sind ja früher die “Wandelsterne” am Himmel gewesen) ein kleiner Felsbrocken von ein paar Hundert Metern Durchmesser im Asteroidengürtel ist es definitiv nicht, Pluto ist eben genau ein Grenzfall.
10. Wenn das schon in der Physik so ist, dann natürlich erst recht in anderen Naturwissenschaften. Die Frage “Was ist Leben?” ist nicht leicht zu beantworten. Leben Viren? Wenn ein Mensch stirbt, wann genau definieren wir ihn als tot? (Und wie man das definiert, hat ja auch Konsequenzen, die Frage ist also nicht nur akademisch.) Trotzdem ist ein Papagei, der krächzend durch einen Baum tobt, eindeutig lebendig, einer, der reglos kopfüber von einem Ast herunterhängt, ist dagegen tot. (Von uns gegangen. Ein Ex-Vogel.)
11. “Wissenschaftlich ist es kompliziert, diesen Begriff zu definieren” ist deshalb in vielen Fällen kein Argument. Für Einzelfälle mag es kompliziert sein, eine exakte Abgrenzung zu finden, das heißt aber nicht dass es auch für die Mehrheit aller Fälle so ist. Letztlich ist das eine Varianten des “Nirvana-Fehlschlusses”.
12. All das gilt natürlich noch mehr, wenn wir es mit Begriffen zu tun haben, die gesellschaftliche oder politische Relevanz haben. Die Tatsache, dass wir Gerichte brauchen, um Gesetze zu interpretieren und auf Einzelfälle anzuwenden, hängt genau damit zusammen: Wir können begrifflich in unseren Gesetzen nicht alles perfekt scharf fassen und es gibt deshalb immer einen Interpretationsspielraum.
Fazit
Dass ein Begriff nicht für alle Fälle perfekt definiert werden kann, heißt nicht, dass er wertlos oder beliebig ist. Es gilt, wenn ihr drüber nachdenkt, für praktisch alle Begriffe, die wir verwenden. Es gibt für jeden Begriff Grenzfälle, bei denen es problematisch ist, zu entscheiden, ob sie nun unter den Begriff fallen oder nicht, das bedeutet aber nicht, dass das für alle Fälle gilt.
Die Anwendung dieser Überlegungen auf diverse politische Debatten überlasse ich euch…
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