Der Anschlag in Paris gegen das Satiremagazin Charlie Hebdo, bei dem 12 Menschen kaltblütig ermordet wurden, besetzt nun seit bald zwei Tagen die Nachrichtenkanäle. Kurz nachdem die ersten Live-Ticker eingerichtet waren, waren auch schon überall Kommentare zu lesen. Nicht dass man schon irgendwas wirklich gewusst hätte. Dass hält natürlich im Internet niemand davon ab, schon eine Meinung zu haben. Die Presse- und Meinungsfreiheit wurde als eines der höchsten Güter in unseren Demokratien deklariert. Man zeigte Betroffenheit und nutzte diese auch gleich, um die eigenen politischen Ansichten damit einzuhämmern: Das Problem mit dem Islam in Europa. Die ökonomische und soziale Vernachlässigung einer ganzen Generation Jugendlicher in Frankreich. Es braucht mehr Überwachung. Es braucht weniger Überwachung.
Ich selber zögerte bis jetzt zu kommentieren. Alles wurde vermutlich schon gesagt. Auch sehr viel weises und vieles wohl besser. Aber ich habe in den letzten 48 Stunden so viel Heuchelei, Krokodilstränen und hanebüchene Argumente gelesen, dass ich mir diesen Kommentar hier trotzdem von der Seele schreiben muss.
Gebetsmühlenhaft wurde betont. wie wichtig Meinungs- und Pressefreiheit in einer offenen Gesellschaft sind. Wer hier regelmässig liest weiss, dass dies auch mein Standpunkt ist. Ich finde es darf kein ‘Aber’ folgen. In diesem Fall ist es einfach sich auf die richtige Seite zu stellen. Selbst jene, die den Stil von Charlie Hebdo kritisieren, haben den Anschlag fast einhellig verurteilt. Jene, die aber nun die Meinungsfreiheit auf ihren selbstgebastelten Demokratie-Altar stellen, müssen sich das nächste mal das ‘Aber’ ebenfalls verkneifen, wenn es um Meinungen geht, mit denen sie Probleme haben. Holocaustleugnerinnen, islamistische Prediger und Neonazis müssen sich ebenso wie Satirezeitschriften auf dieses “höchste demokratische Gut” berufen können. Man kann nicht die Meinungsfreiheit sakralisieren, weil es gerade passt und in der nächsten Kolumne dann ein Burkaverbot verlangen, vorschreiben wollen wie Menschen zu Leben haben (Stichwort “Integration”) und Minarette verbieten. Persönliche Ansichten sind nicht der Massstab um Meinungsfreiheit zu limitieren, egal ob es sich um die Meinung religiöser Fanatiker oder Mitglieder der Schweizerischen Volkspartei handelt.1
Wir sollten jetzt eigentlich gar nicht über Meinungs- und Pressefreiheit diskutieren. Das ist nämlich genau den Diskurs, den uns die Fanatiker aufzwingen wollen. Sie steht nicht zur Debatte hier und sollte es auch in anderen Fällen nicht.
Wie egal vielen in ihrem Bestätigungsrausch die Fakten waren, wurde ziemlich schnell offensichtlich: Bei der Achse des Guten wurden die viel gerühmten “abendländischen Werte” hochgehalten, indem man hysterisch schrie “Der Krieg hat längst begonnen” und einen anderen Post gar mit “Europa im Krieg” betitelte. Pegida Fans waren plötzlich für die Lügenpressefreiheit (aber Russland ist und bleibt natürlich einfach unverstanden). Und immer wieder wurde gefragt: Warum distanzieren sich die Musliminnen und Muslime nicht? Es brauche eine Aufstand, sie müssen das Problem in den eigenen Reihen anpacken. Ich sah jedoch viele Verurteilungen und Statements (ohne sie suchen zu müssen): Staaten, Zeitungen, muslimische Verbände, die Arabische Liga, Gläubige, ja sogar Hassan Nasrallah. Aber bevor nicht alle Musliminnen und Muslime, gläubig oder nicht, Broder eine Postkarte mit einer persönlichen Entschuldigung geschrieben haben, wird es wohl nie reichen. Selbst dann wäre die Entschuldigung sicherlich nicht “genug gefühlt” und der Diskurs auf arabisch natürlich ein doppelter. In der Zwischenzeit warte ich darauf, dass man sich bei AchGut für die Anschläge auf Moscheen und Asylbewerberheime respektive antisemitische Äusserungen von Pegida-Anhängerinnen und Anhängern entschuldigt. Und am besten auch noch gleich für Fred Phelps, Breivik und den Papst. Man muss sich da doch distanzieren. Es braucht einen Aufstand!
Das Ausmass der internationalen Solidaritätsbekundungen war beeindruckend. Diese kristallisierte sich vor allem um den Satz “Je suis Charlie”/”I am Charlie”. Ich glaube gerne, dass dieser Satz fast immer wirklich von Herzen kam. Aber ich hatte auch immer ein gewisses Unbehagen dabei. Ich musste an Ralph Ellison’s Invisible Man (Der Unsichtbare Mann) denken. Die Hauptfigur, ein Afro-Amerikaner beschreibt, wie er wegen seiner Hautfarbe sozusagen gesellschaftlich unsichtbar ist:
I am invisible, understand, simply because people refuse to see me. Like the bodiless heads you see sometimes in circus sideshows, it is as though I have been surrounded by mirrors of hard, distorting glass. When they approach me they see only my surroundings, themselves or figments of their imagination, indeed, everything and anything except me.
Am 6. und 7. Januar 2015 wurden im nigerianischen Dorf Baga dutzende von Menschen von der islamistischen Boko Haram ermordet. Es gab kein Hashtag #WeAreBaga. Keine Live-Ticker und Regierungsdeklarationen. Der selbsternannte libysche Ableger von ISIS hat gestern vermutlich zwei tunesische Journalisten, die zuvor entführt wurden, getötet. Es gab keine Massenbekenntnisse zur Pressefreiheit deswegen. Am Tag vor den Anschlägen in Paris wurden mindestens 30 Menschen in Yemen von einer Autobombe (vermutliche Urheberin: Al-Kaida) getötet. Es handelte sich vor allem um Studierende und Rekruten für den Polizeidienst. Es wurde kaum darüber berichtet.
People refuse to see me.
Und das sind die Ereignisse, die wegen den islamistischen Urhebern und sogar höheren Todeszahlen, die gleiche Wut generieren sollten. Sie alle scheinen nahezu unsichtbar zu sein. Das Muster ist schwer zu übersehen. In den USA wurde kaum über einen Bombenanschlag gegen die National Association for the Advancement of Colored People berichtet, weil man zu sehr mit dem Analysieren des islamistischen Terrors in Paris beschäftigt war. Ausserhalb von Frankreich findet man kaum mehr als Randnotizen zu den Moscheen, die im Anschluss an das Massaker in Paris attackiert wurden. Terrorismus ist was die anderen gegen uns richten. Alles andere verdient keine spezielle Aufmerksamkeit.
Damit ich richtig verstanden werde: Der Horror der Anschläge in Nigeria oder Yemen mindern nicht im geringsten die Brutalität jener von Paris. Die weltweite Solidarität war wunderbar. Es geht ganz sicher nicht darum Tote aufzurechnen. Es ist jedoch wichtig zu erkennen, wie hier eine Gruppe definieren kann, was von Bedeutung ist, warum es so ist und was nicht wichtig ist. Besonders problematisch: Diese Definition fällt zu Ungunsten jener aus, die diese Macht nicht haben. Deswegen wird nur diskutiert inwiefern die Mörder von Paris nun als Produkt des Islams zu verstehen sind oder nicht und ob sie diesen repräsentieren. Man könnte stattdessen die selbe Diskussion problemlos über den ermordeten Polizisten Ahmed Merabet führen, der sich ebenso als Muslim bezeichnete. Aber er ist auch einer der Unsichtbaren. Klar wurde über ihn berichtet und nicht selten erwähnt, oft als eine Art ironische Fussnote, dass auch er ein Muslim ist.2 Es liegt aber offensichtlich nicht an ihm zu bestimmen, wie wir ihn sehen, wo sein Platz in der ganzen Geschichte ist. Das dürfen selbstverständlich nur die Broders und Fleischhauers dieser Welt.
When they approach me they see only my surroundings, themselves or figments of their imagination, indeed, everything and anything except me.
1 Ein Aufruf zu Gewalt ist für mich wo Grenze zur juristisch akzeptablen freien Meinungsäusserung überschritten ist und wo sie eingeschränkt werden darf. Und noch etwas: Nicht alles das gesagt werden darf, soll auch gesagt werden. Ich persönlich fand Charlie Hebdo oft witzig in ihrer Respektlosigkeit (wie meine Tweets bezeugen: Einmal, zweimal, dreimal), hingegen die Jylland Posten Karikaturen fand ich geistlos und nur provokoativ um der Provokationswillen. So wie ich das sagen darf, hatten beide Publikationen jedoch ein Recht, sie zu veröffentlichen. Es gibt keine Pflicht auf guten Geschmack.
2 Eigentlich will ich diese Diskussion nicht führen, aber da es vermutlich sowieso gesagt werden muss, soll es hier klar als Präventivmassnahme gegen Strohmänner festgehalten werden: Ich behaupte nicht, dass die beiden mutmasslichen Mörder, “nicht der Islam” sind. Sie repräsentieren ihn auch. So wie die Anti-Balaka Miliz auch das Christentum repräsentiert. So wie die gewaltätigen Mönche in Myanmar auch den Buddhismus repräsentieren. Religionen sind primär eine Reihe von Praktiken. Jeder Text, jedes Dogma kann zur Rationalisierung von gutem wie auch schrecklichem benutzt werden. Der Islam ist da nicht anders. Aber diese Diskussion wird in diesem Thread nicht geführt.
Edit: AP Meldung zur Hassan Nassrallah Distanzierung hinzugefügt. Sie passte einfach zu gut.
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