Etwas worüber ich mich regelmässig ärgere ist, wie der Begriff “Faschismus” oft als beliebige Bezeichnung verwendet wird, um Missfallen auszudrücken über etwas, das man politisch als völlig inakzeptabel empfindet. Dies ist einerseits oft verharmlosend was die faschistischen Bewegungen angeht und anderseits oft völlig von Sinn befreit. Der Begriff wird auf eine politische Beleidigung reduziert. Grund genug hier ein wenig über das Konzept nachzudenken.
Der Begriff ist gerade im Internet schnell zur Hand. Zur Rechten spricht man gerne von “Islamofaschismus” und zur Linken ist exzessive Polizeigewalt bald ein Zeichen eines “faschistischen Staates”. Und wenn man jemandem verbal richtig eines verpassen möchte, ist er oder sie ein “Nazi”. Die offenbare Austauschbarkeit zwischen “Nazi” und “Faschist” im Internet ist übrigens nur ein weiteres Zeichen, wie sehr es sich um einen Schlagstock zum Rechthaben handelt und nicht wie vorgegaukelt die Schlussfolgerung einer echten Analyse wäre (wie auch Lewis Blacks in seiner unvergesslicher Nummer im untenstehenden verlinkten Video gut hervorhebt). Um so seltener sind Artikel in denen jemand vorgeworfen wird ein Faschist zu sein und dies auch begründet wird (ich habe gestern eine solche lesenswerte Ausnahme gefunden und fühlte mich darum auch zu diesem Eintrag inspiriert. Wer die Kontroverse um den SciFi Preis der Hugos mitverfolgt hat, möchte sich den Artikel vielleicht zu Gemüte führen).
[Video wegen lästigem Autoplay entfernt. Es kann hier gefunden werden.]
Um es gleich vorwegzunehmen: Eine zufriedenstellende Definition existiert nicht. Ich hatte vor vielen Jahren das Vergnügen beim Faschismusexperten Pierre Milza ein Seminar zu belegen. Wenn ich dort etwas gelernt habe, ist es dies: Die verschiedenen faschistischen Bewegungen in Europa (und dazu gehört der Nationalsozialismus) waren sehr heterogen. Es ist schwer (vielleicht unmöglich), sie auf ein paar wenige gemeinsame Charakteristika zu reduzieren. Ganz sicher kann man Faschismus nicht einfach als Abkürzung für “böse Menschen” benutzen. Das passt zwar gut, definiert aber nicht die Bewegung.
Es ist jedoch wichtig über den Begriff nachzudenken auch wenn es keine abschliessende Definition geben wird. So kann der Begriff vielleicht tatsächlich als analytische Kategorie und nicht einfach als beliebige Beschimpfung verwendet werden. Dieser Eintrag ist also auch nur ein Ausgangspunkt für eine Diskussion. Ich biete hier eine Definition und zwei Kriterienlisten als Anfang.
Zuerst eine Definition eines (mir zuvor unbekannten) Matthew Lyons, die ich auf Wikipedia gefunden habe. Ich glaube sie bitte einen guten Start:
Faschismus ist eine Form rechtsextremer Ideologie, die die Nation oder Rasse als organische Gemeinschaft, die alle anderen Loyalitäten übersteigt, verherrlicht. Er betont einen Mythos von nationaler oder rassischer Wiedergeburt nach einer Periode des Niedergangs und Zerfalls. Zu diesem Zweck ruft Faschismus nach einer ‚spirituellen Revolution‘ gegen Zeichen des moralischen Niedergangs wie Individualismus und Materialismus und zielt darauf, die organische Gemeinschaft von ‘andersartigen’ Kräften und Gruppen, die sie bedrohen, zu reinigen. Faschismus tendiert dazu, Männlichkeit, Jugend, mystische Einheit und die regenerative Kraft von Gewalt zu verherrlichen. Oft – aber nicht immer – unterstützt er Lehren rassischer Überlegenheit, ethnische Verfolgung, imperialistische Ausdehnung und Völkermord. Faschismus kann zeitgleich eine Form von Internationalismus annehmen, die entweder auf rassischer oder ideologischer Solidarität über nationale Grenzen hinweg beruht. Normalerweise verschreibt sich Faschismus offener männlicher Vorherrschaft, obwohl er manchmal auch weibliche Solidarität und neue Möglichkeiten für Frauen einer privilegierten Nation oder Rasse unterstützen kann.
Nun ist das immer noch relativ allgemein. Darum hier die zwei versprochenen Listen. Die erste habe ich in einem nützlichen englischen Wikipedia Artikel mit vielen anderen Listen wiedergefunden. Die 10 Kriterien von Emilio Gentile (die übrigens auch Milza öfters zitierte und die mir persönlich als eine der besten scheint):
-
a mass movement with multiclass membership in which prevail, among the leaders and the militants, the middle sectors, in large part new to political activity, organized as a party militia, that bases its identity not on social hierarchy or class origin but on a sense of comradeship, believes itself invested with a mission of national regeneration, considers itself in a state of war against political adversaries and aims at conquering a monopoly of political power by using terror, parliamentary politics, and deals with leading groups, to create a new regime that destroys parliamentary democracy;
-
an ‘anti-ideological’ and pragmatic ideology that proclaims itself antimaterialist, anti-individualist, antiliberal, antidemocratic, anti-Marxist, is populist and anticapitalist in tendency, expresses itself aesthetically more than theoretically by means of a new political style and by myths, rites, and symbols as a lay religion designed to acculturate, socialize, and integrate the faith of the masses with the goal of creating a ‘new man’;
-
a culture founded on mystical thought and the tragic and activist sense of life conceived of as the manifestation of the will to power, on the myth of youth as artificer of history, and on the exaltation of the militarization of politics as the model of life and collective activity;
-
a totalitarian conception of the primacy of politics, conceived of as an integrating experience to carry out the fusion of the individual and the masses in the organic and mystical unity of the nation as an ethnic and moral community, adopting measures of discrimination and persecution against those considered to be outside this community either as enemies of the regime or members of races considered to be inferior or otherwise dangerous for the integrity of the nation;
-
a civil ethic founded on total dedication to the national community, on discipline, virility, comradeship, and the warrior spirit;
-
a single state party that has the task of providing for the armed defense of the regime, selecting its directing cadres, and organizing the masses within the state in a process of permanent mobilization of emotion and faith;
-
a police apparatus that prevents, controls, and represses dissidence and opposition, even by using organized terror;
-
a political system organized by hierarchy of functions named from the top and crowned by the figure of the ‘leader,’ invested with a sacred charisma, who commands, directs, and coordinates the activities of the party and the regime;
-
corporative organization of the economy that suppresses trade union liberty, broadens the sphere of state intervention, and seeks to achieve, by principles of technocracy and solidarity, the collaboration of the ‘productive sectors’ under control of the regime, to achieve its goals of power, yet preserving private property and class divisions;
-
a foreign policy inspired by the myth of national power and greatness, with the goal of imperialist expansion.
Dann fand ich diese wie ich finde gute Liste von Robert Soucy (meine Übersetzung):
-
Opposition zum Marximus
-
Opposition zur parlamentarischen Demokratie
-
Opposition gegen politischen und kulturellen Liberalismus
-
Totalitäre Ambitionen
-
Konservatives Wirtschaftsprogramm
-
Korporatismus
-
Angebliche Gleichheit in sozialem Status
-
Imperialismus
-
Militärische Werte
-
Volksgemeinschaft
-
Mobilisierung der Massen
-
Das Führer-Prinzip
-
Der “neue Mensch”
-
Glorifizierung der Jugend
-
Bildung primär zwecks Charakterbildung
-
Vorgeblicher Kampf gege Dekadenz und für “Spiritualität”
-
Gewaltanwendung gegen Gegner
-
Extremer Nationalismus
-
Sündenböcke
-
Populismus
-
Revolutionäres Selbstbild
-
Anti-urbanismus
-
Sexismus und Misogynie
Ich habe mir überlegt ob ich auch noch Umberto Ecos 14 Kriterien zum “Urfaschismus” auflisten sollte. Ich habe aber dann, weil sie mir etwas zu allgemein scheinen und wegen der Länge dieses Posts darauf verzichtet.
Kommentare (60)