So gut wie alles was wir sehen, besteht aus Materie. Materie, die eigentlich gar nicht da sein sollte. Denn nach dem Urknall sollte in gleicher Menge Materie und Antimaterie entstanden sein. Und beides hätte sich gegenseitig auslöschen sollen, so dass nur Energie übrig bleibt. Aber anscheinend gab es damals ein bisschen mehr Materie als Antimaterie. Warum das so war, weiß niemand. Aber ein hypothetisches Phänomen in der Teilchenphysik könnte vielleicht bald Hinweise auf die Vorgänge im frühen Universum geben: Der neutrinolose doppelte Betazerfall!
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Transkription
Sternengeschichten Folge 120: Materie, Antimaterie und der neutrinolose doppelte Betazerfall
Als das Universum vor 14 Milliarden Jahren entstanden ist, muss irgendetwas seltsames geschehen sein. Ok, man kann die Entstehung eines ganzen Universums aus dem Nichts an sich schon als seltsam bezeichnen. Aber darum geht es mir diesmal nicht, sondern um das, was danach passiert ist. Kurz nach dem Urknall ist aus all der Energie Materie entstanden. Und nach allem, was wir wissen, muss dabei eigentlich in gleichem Ausmaß auch ANTImaterie gebildet worden sein. Wenn Energie in Materie umgewandelt wird, entstehen immer Materie und Antimaterie gleichzeitig. Und normalerweise löschen sich Materie und Antimaterie danach auch wieder gegenseitig aus und verwandeln sich zurück in Energie.
Das kann aber in unserem Universum nicht passiert sein. Denn ansonsten gäbe es heute nur Energie – wir sehen aber einen Kosmos voller Materie. Überall sind Galaxien, Sterne und Planeten, die aus Materie bestehen. Genau so wie wir Menschen und alles um uns herum. Das Universum ist voll mit Materie, aber Antimaterie findet sich darin so gut wie gar keine.
Nach dem Urknall muss also aus irgendeinem Grund ein klein wenig mehr Materie entstanden sein als Antimaterie. Und als sich dann alles gegenseitig ausgelöscht hat, blieb diese überschüssige Materie übrig und formte das Universum, das wir heute sehen. Aber warum das so war, weiß niemand. Es könnte aber sein, das ein Phänomen mit dem komplizierten Namen “Neutrinoloser doppelter Betazerfall” in naher Zukunft Hinweise zur Lösung dieses Rätsel liefert.
Neutrinoloser doppelter Betazerfall klingt kompliziert – aber so schwierig ist es eigentlich gar nicht. Gehen wir es der Reihe nach durch. “Betazerfall” ist eine Art, auf die radioaktive Atome zerfallen können. Ein Atomkern besteht aus positiv geladenen Protonen und elektrisch nicht geladenen Neutronen. Die Zahl der Protonen im Kern bestimmt, um welches chemische Element es sich handelt. Wasserstoff hat ein Proton, Helium hat zwei, Lithium hat drei, und so weiter. Die Zahl der Neutronen im Kern ändert nichts an den chemischen Eigenschaften eines Elements – kann es aber instabil machen. Ist das Verhältnis von Protonen und Neutronen im Kern nicht mehr ausgewogen genug, zerfällt das Atom. Das nennt sich Radioaktivität und kommt überall in der Natur vor.
Man unterscheidet dabei verschiedene Arten des Zerfalls: Wenn der Kern selbst auseinanderbricht, dann nennt man das “Alphazerfall”. Aus einem großen Atomkern entsteht ein kleinerer; es wird also ein schweres chemisches Element in ein leichteres umgewandelt. Ein Teil des Kerns verlässt dabei den Atomkern; man nennt es “Alphateilchen” und den Strom dieser Teilchen die “Alphastrahlung”. Der Betazerfall funktioniert ein wenig anders. Hier bricht nicht der Kern auseinander, sondern ein Neutron verwandelt sich in ein Proton – oder umgekehrt.
Protonen und Neutronen sind ja selbst keine fundamentalen Teilchen sondern bestehen aus jeweils drei Quarks. Ein Proton wird aus zwei sogenannten Up-Quark und einem Down-Quark gebildet; ein Neutron aus zwei Down-Quarks und einem Up-Quark. Wenn sich nun ein Up-Quark eines Protons in ein Down-Quark umwandelt, wird das Proton zum Neutron. Dabei wird auch ein Elektron erzeugt, das den Kern verlässt. Nach dem Betazerfall hat der Atomkern also nicht mehr die gleiche Anzahl an Protonen bzw. Neutronen wie zuvor und die davon fliegenden Elektronen werden “Betastrahlung” genannt.
Diese Form der Radioaktivität wurde Anfang des 20. Jahrhunderts von vielen Wissenschaftlern untersucht und man stieß dabei schnell auf ein paar seltsame Anomalien. Der Betazerfall schien sich nicht um die Energieerhaltung zu kümmern. Die Energiehaltung gehört zu den fundamentalsten Regeln der Physik. Energie kann nicht erzeugt oder vernichtet werden. Wenn eine gewisse Menge an Energie in einem Atomkern steckt, dann kann sie nicht einfach verschwinden. Auch wenn es zerfällt, müssen die neu entstanden Bruchstücke zusammen die gleiche Energie haben wie das intakte Atom zuvor. Aber das war nicht der Fall – der neue Atomkern und das wegfliegende Elektron hatten weniger Energie. Irgendwo war also etwas verschwunden… 1930 stellte deswegen der deutsche Physiker Wolfgang Pauli die Vermutung auf, dass da noch ein weiteres Teilchen sein müsse, das man bis jetzt übersehen hatte. Wenn beim Betazerfall nicht nur ein Elektron davon fliegen würde, sondern NOCH ein Teilchen, dann würde die Energiebilanz wieder stimmen. Dieses fehlende Teilchen wurde Neutrino genannt und 1956 tatsächlich experimentell nachgewiesen. Nun war klar, dass beim Betazerfall keine Energie verschwindet – Elektron und Neutrino hatten zusammen genug Energie, damit am Ende alles stimmt.
Das war also der normale Betazerfall. Ein “doppelter Betazerfall” ist dann logischerweise eine Variante dieser Form der Radioaktivität, bei der sich nicht nur ein einziges Proton bzw. Neutron des Kerns verwandelt, sondern zwei von ihnen das gleichzeitig tun. Da diese Vorgänge alle im wesentlichen zufällig passieren, ist so etwas natürlich viel unwahrscheinlicher als ein normaler Betazerfall. Aber es kann vorkommen. Aus zwei Protonen werden dann zum Beispiel zwei Neutronen und dabei werden zwei Elektronen und zwei Neutrinos abgestrahlt.
Genauer gesagt: Zwei Antineutrinos. Denn so wie der Rest der Materie haben auch die Neutrinos ihre Antiteilchen. Antimaterie ist ja nichts großartig mysteriöses. Sie hat exakt die gleichen Eigenschaften wie die normale Materie, und ist einfach nur elektrisch umgekehrt geladen. Das negativ geladene Elektron hat ein positiv geladenes Positron als Antiteilchen. Man kann ein Atom Wasserstoff aus einem normalen Proton und einem normalen Elektron zusammensetzen. Oder man nimmt ein Antiproton und ein Positron und bekommt ein Atom Antiwasserstoff. Das hat man in Teilchenbeschleunigern sogar schon gemacht. Jedes Stück Materie hat seine Antimaterie – aber wenn wir diese Antimaterie beobachten wollen, müssen wir sie mühsam selbst herstellen. Von selbst entstehen Antiteilchen nur sehr selten bei natürlichen Vorgängen und nirgendwo im Universum finden sich größere Mengen davon.
Es könnte aber sein, dass es Teilchen gibt, die ihre eigenen Antiteilchen sind. Teilchen und Antiteilchen wären dann also tatsächlich identisch, könnten sich aber trotzdem gegenseitig auslöschen, wenn sie aufeinander treffen. Diese Art von Teilchen nennt man “Majorana-Fermionen”, nach dem italienischen Physiker Ettore Majorana, der diese Idee im Jahr 1937 hatte. Alle Elementarteilchen die wir bis jetzt kennen, gehören allerdings nicht dazu. Bis auf die Neutrinos – bei denen weiß man es nicht so genau.
Wie ich in Folge 103 der Sternengeschichten ja schon erzählt habe, sind die Neutrinos äußerst flüchtig und wechselwirken so gut wie gar nicht mit sich selbst oder dem Rest der Materie. Es ist daher auch nicht leicht sie zu untersuchen und mehr über sie herauszufinden. Wir kennen zum Beispiel noch nicht einmal ihre Masse. Früher dachte man, dass sie komplett masselos wären, so wie es auch die Lichtteilchen, die Photonen sind. Und auch das Standardmodell der Teilchenphysik beschreibt die Neutrinos als masselos. Aber wir wissen mittlerweile, dass die Neutrinos eine Masse haben müssen – sie ist nicht groß, aber sie ist auch nicht null. Diverse Beobachtungen haben gezeigt, dass sich bestimmte Eigenschaften der Neutrinos nur erklären lassen, wenn sie eben nicht völlig masselos sind. Aber wie groß ihre Masse wirklich ist, ist unbekannt. Genau so wenig weiß man, wie man den Widerspruch zur Vorhersage des Standardmodells auflösen kann.
Es ist klar, dass das Standardmodell der Teilchenphysik irgendwie erweitert werden muss. Immerhin fehlt in diesem Modell ja auch noch die Gravitation. Aber noch hat man diese Erweiterung noch nicht hin bekommen. Womit wir wieder beim neutrinolosen doppelten Betazerfall wären. Wenn Neutrinos tatsächlich ihre eigenen Antiteilchen sind, dann kann es bei einem doppelten Betazerfall vorkommen, dass sich die beiden dabei entstehenden Neutrinos gegenseitig auslöschen. Zwei Kernbausteine eines Atoms würden sich dann also umwandeln, ohne das dabei irgendwelche Neutrinos frei werden.
Mit der Energieerhaltung hätte man dabei keine Probleme. Aber dafür mit einem anderen wichtigen Erhaltungsgröße der Physik, der sogenannten Leptonenzahl. Als Leptonen bezeichnet man eine Gruppe der Teilchen, aus denen Materie bestehen kann. Elektronen und Neutrinos sind Leptonen und auch noch die Myonen und Tauonen. Das sind quasi schwerere Versionen des Elektrons, die in normaler Materie zwar nicht vorkommen, aber bei diversen Zerfallsprozessen auftreten. Außerdem gibt es noch Myon- und Tauon-Neutrinos; Variationen des normalen Elektron-Neutrinos, das beim Betazerfall auftritt. Zusammen mit ihren jeweiligen Antiteilchen bilden diese sechs Teilchen die Leptonen. Ein einzelnes Lepton hat eine Leptonenzahl von 1 und Antileptonen von -1. Das Standardmodell der Teilchenphysik fordert, dass die Zahl der Leptonen bei allen Vorgängen immer konstant sein muss. Beim normalen doppelten Betazerfall passt das auch. Aber beim neutrinolosen doppelten Betazerfall gibt es ein Problem. Da sind am Ende zwei Neutrinos verschwunden und die Leptonenzahl hat sich im Vergleich zum Ausgangszustand geändert.
Wenn der neutrinolose doppelte Betazerfall tatsächlich stattfindet, dann wäre das ein deutliches Zeichen für einen physikalischen Vorgang, der über das normale Standardmodell hinaus geht. Es wäre auch ein Zeichen dafür, dass bestimmte Erhaltungssätze nicht immer erfüllt sein müssen. Und irgendeine Verletzung eines Erhaltungssatzes muss auch für den Überschuss an Materie kurz nach dem Urknall verantwortlich sein. Könnte man den neutrinolosen doppelten Betazerfall erforschen, dann würde man vielleicht auch Hinweise darauf finden, was damals abgelaufen ist.
Ach ja – und man könnte aus den Beobachtungsdaten so eines Zerfalls auch die Masse der Neutrinos berechne. Es ist also kein Wunder, dass sich die Physiker schon seit längerem bemühen, dieses Phänomen zu beobachten. Bis jetzt ist es allerdings noch nicht gelungen. Die Ergebnisse sind allerdings nicht wirklich zufriedenstellend. 2006 hat eine Arbeitsgruppe des sogenannten Heidelberg-Moskau-Experiments behauptet, den neutrinolosen doppelten Betazerfall beobachtet zu haben; diese Beobachtung ist allerdings heute immer noch kontrovers und nicht allgemein anerkannt. Andere Experimente haben bis heute keinen Befund geliefert. Aber man sucht weiter! Etwa ein halbes Dutzend Teilchendetektoren überall auf der Welt sind gerade dabei, Daten zu sammeln und ebenso viele neue Detektoren sind für die Zukunft geplant. Vielleicht wissen wir bald, was nach dem Urknall für seltsame Dinge passiert sind…
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