Das ganze System der naturwissenschaftlichen Fachpublikationen ist im Arsch! Ja, jetzt regen sich wieder einige darüber auf, dass ich das Wort “Arsch” verwendet habe. Aber es beschreibt die Sachlage absolut treffend und wer sich unbedingt aufregen will, sollte sich lieber über die Verlage wissenschaftlicher Fachzeitschriften, Impact-Faktoren & Co aufregen. Denn genau die sind das Problem! Ich habe über all das schon in vielen früheren Artikeln geschrieben. Aber weil das Thema immer noch aktuell ist und weil ich alles einmal gesammelt aufschreiben wollte, tue ich das hier.
Wie wissenschaftliche Fachpublikationen entstehen
Gestern habe ich ausführlich erklärt, warum der Impact-Faktor-Fetischismus und die Konzentration auf “wichtige” Fachzeitschriften bei der Bewertung von wissenschaftlichen Leistungen absolut kontraproduktiv ist und große Probleme beim wissenschaftlichen Publikationssystem schafft. Das zweite große Problem sind die Fachzeitschriften selbst. Wenn Wissenschaftler etwas veröffentlichen wollen, dann tun sie das in dem sie ihre Artikel bei einer Fachzeitschrift zur Publikation einreichen. Diese Fachzeitschriften können dann später von der wissenschaftlichen Gemeinschaft bzw. der Öffentlichkeit gelesen werden. Das ist wichtig – aber es ist, zumindest im derzeitigen System, auch ein Problem.
Momentan läuft der Prozess einer wissenschaftlichen Publikation so ab:
- Wissenschaftler forschen und erhalten ein Ergebnis, das sie publizieren wollen.
- Wissenschaftler schreiben die Ergebnisse in einem Fachartikel auf.
- Wissenschaftler schicken den Artikel an eine Fachzeitschrift.
- Die Fachzeitschrift ernennt Gutachter die den Artikel prüfen.
- Nach erfolgreicher Prüfung bzw. Korrektur etwaiger Fehler wird der Artikel veröffentlicht.
- Nach der Veröffentlichung steht der Artikel für alle interessierten Personen zur Lektüre bereit.
Das klingt nach einem vernünftigen System. Das ist im Prinzip auch ein vernünftiges System. Nur das es eben völlig unvernünftig umgesetzt wird. Und das hat mit den Kosten zu tun. Welche Leistungen müssen erbracht werden, damit das System funktioniert? 1) Es muss geforscht werden. 2) Es muss geschrieben werden. 3) Es muss begutachtet werden. 4) Es muss publiziert werden.
Punkt 1) erledigen die Wissenschaftler und sie werden dafür im Allgemeinen von den Forschungseinrichtungen (das ist so gut wie immer der Staat, also die Steuerzahler) bezahlt. Punkt 2) erledigen ebenfalls die Wissenschaftler im Rahmen ihrer bezahlten Arbeit. Punkt 3) – und das ist für viele Menschen außerhalb des wissenschaftlichen Systems immer wieder ein wenig überraschend – erledigen ebenfalls Wissenschaftler. Die Fachzeitschriften beschäftigen keine eigenen Gutachter! Sie wählen Wissenschaftler aus, von denen sie denken, dass sie ausreichend Ahnung für ein qualifiziertes Urteil haben. Und diese Wissenschaftler, die mit den Fachzeitschriften nichts zu tun haben, schreiben die Gutachten. Ohne Bezahlung! Und dann muss noch publiziert werden. Man könnte nun denken, dass Punkt 4) der ist, bei dem die Fachzeitschriften die wirkliche Leistung erbringen. Die Artikel müssen layoutet werden, sie müssen lektoriert und korrigiert werden, gedruckt werden, etc. Aber auch hier wird der Großteil der Arbeit von den Wissenschaftlern selbst erledigt. Üblicherweise gibt es bei jeder Fachzeitschrift sehr strenge formale Richtlinien. Artikel müssen im Prinzip fix und fertig formatiert eingereicht werden; quasi druckfertig. Nur dass viele Zeitschriften heute kaum noch gedruckt werden sondern nur noch elektronisch publizieren. Bzw. werden sie so gut wie ausschließlich online gelesen, selbst wenn in irgendwelchen Bibliotheken noch gedruckte Exemplare Staub ansammeln.
Viel Geld für wenig Leistung
Der Arbeitsaufwand für die Fachzeitschriften hält sich also in Grenzen. Die komplette inhaltliche Arbeit und ein großer Teil der “handwerklichen” Arbeit bei der Publikation wird von den Wissenschaftlern erledigt. Die übrigens – und auch das überrascht viele – kein Geld für eine Publikation bekommen! Ganz im Gegenteil: Oft genug verlangen die Fachzeitschriften noch “page charges”, damit sie den Artikel überhaupt veröffentlichen. Das hindert die Verlage aber nicht daran, die Zeitschriften später für sehr viel Geld zu verkaufen. Natürlich nicht am Zeitungskiosk um die Ecke. Die Zielgruppe besteht fast ausschließlich aus den Bibliotheken der Forschungseinrichtungen, die die Zeitschriften beziehen müssen, damit ihre Wissenschaftler Zugriff auf die Texte haben. Natürlich kann man auch als Privatperson die entsprechenden Artikel lesen – muss dann aber dafür extrem hohen Gebühren bezahlen (pro Artikel).
Die Situation ist absurd. Gehen wir davon aus, dass die meisten Wissenschaftler von öffentlichen Geldern, also uns Steuerzahlern, bezahlt werden. Dann bezahlen wir bis zu dreimal für die Forschung. Ein erstes Mal bezahlen wir die Wissenschaftler dafür, dass sie forschen und zu ihren Ergebnissen kommen. Dann bezahlen wir die Wissenschaftler, dass sie die Publikations- und Begutachtsungsarbeit erledigen und geben ihnen Geld, um die Fachzeitschriften für die Publikation zu bezahlen. Und dann bezahlen wir noch einmal die Fachzeitschriften, damit wir die Forschungsergebnisse (für die wir schon zweimal bezahlt haben) auch tatsächlich lesen können.
Die Verlage für wissenschaftliche Fachzeitschriften sind eigentlich nichts anderes als Gelddruckmaschinen. Die den absurden Status Quo natürlich ausnutzen, wo es nur geht. Wissenschaftler sind darauf angewiesen, die Artikel in den Fachzeitschriften lesen zu können. Die Bibliotheken müssen die Zeitschriften also kaufen (wobei ein Jahresabo typischerweise mehrere tausend Euro kostet). Sie müssen allerdings nicht nur die Zeitschriften kaufen, die sie wirklich wollen, sondern auch jede Menge andere. Denn die Verlage bieten die Abos oft nur noch gebündelt an und entweder man kauft alles oder nichts. Viele Forschungseinrichtungen können sich diese Ausgaben nicht mehr leisten – und das führt oft zu absurden Situationen, wo Wissenschaftler keinen Zugriff mehr auf ihre eigenen Fachartikel haben. Es führt aber auch zu konkreten Problemen: Gerade die Forschung in ärmeren Ländern wird so vom wissenschaftlichen Mainstream abgekoppelt. Und die Öffentlichkeit hat überhaupt keinen Zugriff mehr auf die Ergebnisse (wenn man nicht zufällig das Glück hat, in der Nähe einer Bibliothek zu wohnen, wo man Zugriff auf die Artikel hat). Was nicht nur eine Frechheit ist (immerhin hat sie dafür mit Steuergeld bezahlt) sondern auch für schlechte Wissenschaftskommunikation sorgt (denn dann bleiben oft nur noch Pressemitteilungen als Informationsquelle und die sind naturgemäß keine objektiven Quellen).
Open Access
Als Lösung für dieses Problem wird oft “Open Access” genannt. Hier kann man kostenlos auf die Fachartikel zugreifen. Was einerseits natürlich sehr gut ist. Andererseits aber auch neue Probleme schafft. Denn auch hier muss jemand bezahlen. Beim Open Access holen sich die Verlage das Geld nicht mehr von den Bibliotheken, sondern den Wissenschaftlern. Hier muss man auf jeden Fall vorab für eine Publikation bezahlen (und deutlich mehr als bei den normalen page charges); nur dann ist sie danach für alle “kostenfrei” verfügbar. Das Geld für diese Open-Access-Gebühren muss dann selbstverständlich wieder von den Forschungseinrichtungen (d.h. dem Steuerzahler) kommen. Es können nun zwar alle leicht und schnell und online auf die Artikel zugreifen. Dafür ist der Publikationsprozess ein weiteres Mal teurer geworden.
Und es entstehen weitere Probleme: Es sind jede Menge neue Zeitschriften entstanden, die mit verdienen wollen. Sie verlangen Geld und veröffentlichen alles. Und auch wenn sie behaupten, die Artikel vor der Publikation zu prüfen, geschieht das nicht oder nur sehr, sehr schlecht. Das ist für all diejenigen interessant, die unbedingt etwas in einer “wissenschaftlichen” Fachzeitschrift publiziert haben wollen (Pseudowissenschaftler, etc). Die müssen halt einfach nur dafür bezahlen und können sich danach mit einer Publikation schmücken. Aber es diskreditiert die eigentlich wichtige “Open Access”-Bewegung die sich nun dem Vorwurf aussetzen muss, nur “klassische” Publikationen wären gute Publikationen und Open Access wäre Mist.
Dadurch und auch durch die gestiegenen Kosten auf Seiten der Wissenschaftler wird immer noch viel zu wenig Open Access publiziert. Das führt zu einem weiteren Problem. Ich habe gestern erklärt, wie wichtig der Impact-Faktor ist (obwohl er es nicht sein sollte). Dadurch, dass viele Wissenschaftler nicht in Open-Access-Journalen publizieren, haben diese einen niedrigeren Impact-Faktor. Und werden deswegen als weniger “wichtig” angesehen. Solange eine Publikation in “Nature” oder “Science” mit ihrem großen Impact-Faktoren immer noch als Krönung einer wissenschaftlichen Forschungsarbeit angesehen wird, werden sich andere Journale nicht durchsetzen können.
Fachzeitschriften abschaffen
Die Lösung liegt auch hier auf der Hand. Man müsste die Fachzeitschriften einfach abschaffen. Dieser Vorschlag stößt oft auf Widerstand. “Wer soll denn dann garantieren, dass die Fachartikel von guter Qualität sind?”, lautet der Einwand, den ich meistens zu hören bekomme, wenn ich diesen Vorschlag mache. “Wer garantiert es denn jetzt?”, lautet in dem Fall meine Gegenfrage. Das sind nämlich nicht die Fachzeitschriften. Sondern die Gutachter, also ganz normale Wissenschaftler, die mit den Zeitschriften nichts zu tun haben und die Gutachten unbezahlt im Rahmen ihrer normalen Arbeit (bzw. ihrer Freizeit) erledigen. Jeder, der lange genug in der Wissenschaft arbeitet, wird früher oder später gebeten, Gutachten zu schreiben. Das gehört quasi zur wissenschaftlichen Arbeit dazu.
Man braucht die Zeitschriften auch nicht mehr, um die Artikel zu publizieren und verteilen. Niemand liest mehr gedruckte Zeitschriften, das geschieht alles nur noch online. Und entsprechende Datenbanken wie arXiv oder bioRxiv existieren schon längst. Dort können alle Wissenschaftler ihre Artikel hochladen und sie sind für alle kostenlos verfügbar.
Und die Begutachtung? Die könnte man genau so einfach ohne Journal erledigen. Was spräche gegen einen “Open Peer Review”? Es ist ja jetzt schon sehr schade, dass Gutachten für die Öffentlichkeit nicht einsehbar sind. Ich fände es sehr interessant, könnte ich nicht nur den Fachartikel selbst, sondern auch die Gutachten dazu lesen. Dann könnte ich mir selbst ein Bild machen, ob die Autoren alle Einwände der Gutachter tatsächlich berücksichtigt haben und wie sie das getan haben.
Ich (und die Idee ist nicht von mir) stelle mir eine Datenbank vor, in der alle Wissenschaftler ihre Artikel einfach hochladen können. Dort stehen sie dann frei verfügbar – und alle Wissenschaftler können Gutachten dazu abgeben. Um Missbrauch vorzubeugen und das ganze brauchbar zu machen, muss es natürlich entsprechende Regeln geben. Es muss nach dem Hochladen zumindest einen formalen Check geben, um offensichtlichen Unsinn auszusondern. Das geschieht ja jetzt auch schon bei den Fachzeitschriften. Die Leute sollten entsprechend transparent registriert sein, damit klar ist, wer wo an welcher Institution forscht. Bei den Gutachten muss es ebenso laufen: Sie müssen transparent sein und es muss klar sein, wer ein Gutachten geschrieben hat und wie seine/ihre Qualifikation ist.
Über die Details kann (und soll) man diskutieren. Der organisatorische Aufwand wäre – nach dem alles aufgesetzt ist – nicht größer (eher geringer) als beim aktuellen System. Was allerdings aufwendiger wird, ist die Beurteilung der Qualität eines Artikels. Will ich wissen, ob ein Artikel gut oder schlecht ist, muss ich ihn tatsächlich aufmerksam lesen! Ich muss mir die Gutachten ansehen und beurteilen, ob die Gutachter qualifiziert genug waren, ein Urteil abzugeben. Ich muss mich also mit der Forschungsarbeit beschäftigen und kann nicht einfach sagen: “Das ist ein Nature-Artikel, der muss gut und wichtig sein!”. Und genau darum geht es! Genau das war auch der Punkt meines gestrigen Artikels. Es gibt nur einen Weg, wie man die Qualität eines Artikels beurteilen kann, und das ist, ihn zu lesen und sich damit zu beschäftigen. Jede Abkürzung über Impact-Faktoren & Co ist nur eine scheinbare Abkürzung die mehr Probleme schafft als sie löst.
Politik und Bürokratie verhindern den Fortschritt
Wenn es keine Impact-Faktoren mehr gibt, braucht man auch keine Fachzeitschriften und hat man keine Fachzeitschriften braucht es auch keine Impact-Faktoren mehr. Aber so wie bei den Impact-Faktoren kann meiner Meinung nach eine Veränderung auch hier nur von oben kommen. Solange weiterhin “gute” und “schlechte” Fachzeitschriften existieren, werden alle Wissenschaftler in “guten” Zeitschriften publizieren wollen und Bibliotheken werden sie kaufen müssen. Solange Publikationen in “guten” Fachzeitschriften weiterhin bessere Karrierechancen versprechen, werden es sich Forscherinnen und Forscher nicht leisten können, das System zu verlassen.
Die Förderorganisationen, die Uni-Bürokratie und die Wissenschaftspolitik müssten darauf bestehen, dass nur noch diejenigen Artikel bei der Beurteilung von Karrieren und Förderanträgen berücksichtigt werden, die nicht im klassischen System publiziert worden sind. Und sie müssten die Möglichkeit schaffen, einen neuen Weg der Publikation gehen zu können! Sie müssten die oben beschriebenen Datenbankstrukturen schaffen und genau da liegt das Problem. Idealerweise ist so ein System international, als ein System das auf EU- oder gar UN-Ebene funktioniert (obwohl es vermutlich auch technisch möglich wäre, wenn es viele einzelne Systeme gibt, die dann von einem “Meta-System” kuratiert und abgefragt werden). Und ich kann mir leider nicht vorstellen, dass das passiert. Es ist eben viel “einfacher”, weiterhin der Verlockung der Impact-Faktoren und “wichtigen” Zeitschriften zu erliegen. Wieso soll man sich die Mühe machen, eine offene und transparente internationale Publikationsdatenbank zu schaffen, wenn man einfach auf eine Zahl schauen kann und den Job/das Geld denen gibt, bei denen die Zahl am größten ist?
Es wird also alles so weiter gehen wie bisher. Wissenschaftler werden sich weiterhin dem Diktat des Impact-Faktors beugen und sich nach Kräften bemühen, ihre Artikel bei Nature, Science & Co unterzubringen. Und wir alle werden weiterhin viel Geld an die Fachverlage bezahlen ohne einen entsprechenden Gegenwert dafür zu bekommen. Das wissenschaftliche Publikationssystem ist kaputt.
Weitere Infos:
- Aktuell gibt es Verhandlungen zwischen dem Elsevier-Verlag (einem der größten Fachverlage) und deutschen Forschungseinrichtungen um die Bedingungen im Publikationswesen zu verändern. Warum das nicht so gut ist, wie es klingt könnt ihr in diesem Artikel nachlesen.
- In dieser Folge des “Nachgefragt”-Podcast erklärt Physiker Nicolas Wöhrl sehr ausführlich die vielen Probleme im wissenschaftlichen Publikationswesen.
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