Dass die Quantenmechanik merkwürdig ist, liest man ja immer wieder. Da gibt es all diese seltsamen Verschränkungen und lauter so Zeugs. Aber was bedeutet das wirklich? Was sagt uns die Quantenmechanik über unsere Welt und darüber, wie sie wirklich ist? In diesem Text will ich versuchen, mit ein paar einfachen (Gedanken-)experimenten deutlich zu machen, was denn nun wirklich so seltsam an der Quantenmechanik ist und welche Auswirkungen sie für unser Bild von der Wirklichkeit hat.
Ein Anlass (wenn auch nicht der einzige) zu diesem Text war der Text von Florian drüben auf naklar und die nachfolgende Diskussion. Florian vertrat darin den Standpunkt, dass die Quantenmechanik den Ruf, etwas philosophisch Neues zu sein, zu Unrecht habe und sagte dann, dass auch in der Quantenmechanik gelte:
Die Wirklichkeit gibt es wirklich, der Mond ist auch da, wenn niemand hinsieht
In den Kommentaren habe ich mich dagegen gewehrt, dass man die Quantenmechanik ohne weiteres so interpretieren kann. Da die Diskussion im Tonfall zum Teil etwas scharf war (teilweise sicherlich auch, weil ich mal wieder dem Motto “tact is for people not witty enough for sarcasm” gefolgt bin…) und da solche Diskussionen es ohnehin für Außenstehende schwer machen den Argumenten zu folgen, will ich hier etwas genauer erklären, warum die Quantenmechanik meiner Ansicht nach sehr wohl eine Menge philosophischen Zündstoff bietet.
Für alle praktischen Zwecke…
Damit eins ganz klar ist: in diesem Text geht es um die philosophischen Implikationen der Quantenmechanik – was können wir daraus über das Wesen der Realität folgern? Hierzu gibt es unterschiedliche Ansichten. Über eins sind sich aber alle, die etwas von Quantenmechanik verstehen, einig (auch – na klar – Florian und ich): die Quantenmechanik taugt nicht dazu, irgendwelche esoterischen Konzepte der Art “Wenn man nur fest genug dran glaubt” zu stützen. Für alle praktischen Zwecke ist es egal, welcher Interpretation der Quantenmechanik ihr anhängt und welches Bild von der Realität ihr euch macht – ihr könnt euch trotzdem keine Reichtümer her- oder Krankheiten wegwünschen. (Gerade in dieser Woche gab es ein Interview im Zeitmagazin, wo irgendeine Schauspielerin, die jetzt einen Film mit Woody Allan gedreht hat, sagt, dass es kein Glück war, sondern dass sie dank Ihrer Lektüre über Talumd und Quantenphysik (huh??) verstanden hat, dass sie ihr Ziel visualisieren musste, um es zu erreichen. Mich regen solche Aussagen auf – nicht nur wegen der damit verbundenen Dummheit (jeder kann ja so dumm sein, wie er will), sondern wegen des impliziten Vorwurfs an alle Menschen, die leiden, dass sie an ihrem Leiden selbst schuld sind. Sagt mal einer Mutter, deren Baby eine tödliche Krankheit hat, dass sie die Krankheit nur hätte rechtzeitig weg-visualisieren müssen…) Auch wenn es – wie ich gleich zeigen werde – eine Wahrscheinlichkeit dafür gibt, dass Objekte plötzlich ganz woanders sind oder sich in etwas anderes umwandeln, so ist diese Wahrscheinlichkeit so klein, dass sie für alle praktischen Zwecke Null ist. (Falls ihr es nicht glaubt, denkt immer dran: es gibt eine endliche Wahrscheinlichkeit, dass sich jedes Exemplar der neusten (4.!) Auflage des Buches “Mechanisches Verhalten der Werkstoffe” nächste Woche in pures Gold verwandelt. Besser, ihr sichert euch ein paar Exemplare, bevor es zu spät ist.)
Nachdem das somit hoffentlich ausgeräumt ist, möchte ich euch jetzt mit ein paar kleinen Gedankenexperimenten zeigen, wo die konzeptionellen und philosophischen Schwierigkeiten stecken, wenn man versucht zu argumentieren, dass Objekte auch dann “da sind”, wenn man sie nicht beobachtet.
1. Wo ist das Photon?
Fangen wir ganz einfach an: Wir schicken ein Photon (also ein Lichtquant) auf einen halbdurchlässigen Spiegel.
Das Photon kommt von links und trifft auf den Spiegel. Es hat eine 50%-Wahrscheinlichkeit dafür, nach A zu laufen, und eine 50%-Wahrscheinlichkeit für den Weg nach B. (Das ist die Definition von “halbdurchlässig”.) Die Regeln der Quantenmechanik sagen uns, dass das Photon tatsächlich beide Wege geht: Solange wir das Photon nicht beobachten, ist es in einem Mischzustand (auch Überlagerungszustand genannt) – es hat eine Wahrscheinlichkeit, auf dem Weg nach A zu sein, und eine, auf dem Weg nach B zu sein. Das gilt auch dann, wenn A und B extrem weit voneinander entfernt sind. Sobald einer der beiden Detektoren anspricht, wissen wir, dass das Photon jetzt bei diesem Detektor ist, (und wir werden es dann nicht auch noch beim anderen Detektor messen). Die Energieerhaltung lässt keinen Zweifel daran zu, dass das Photon die ganze Zeit existiert, aber wo es sich aufhält, ist bis zur Messung nicht eindeutig – man kann sagen, es ist an zwei Orten gleichzeitig, solange, bis wir es gemessen haben.
Das Photon ist also sicher “da” – die Frage ist nur, wo zum Geier ist “da”?
(Man darf hier nicht den Fehler machen zu glauben, dass das Problem nur darin steckt, dass wir einfach nur nicht wissen, wo das Photon hingelaufen ist – der Überlagerungszustand ist tatsächlich real und mit geeigneten Experimenten lässt sich das auch nachweisen – hier ginge das dadurch, dass man die beiden Wege des Photons durch weitere Spiegel wieder zusammenführt und die Interferenz ausnutzt. Das will ich aber in diesem Text nicht erklären, hier soll es nur darum gehen, was wir wissen, nicht, wie wir es herausgefunden haben.)
2. Wo ist das Elektron?
Betrachten wir als nächstes ein Elektron. Wir schließen es in einem Kasten ein, so dass wir ganz sicher wissen, dass es drin ist. (Beispielsweise können wir seine elektrische Ladung messen.) Dann öffnen wir den Kasten, warten eine Weile, und schließen ihn wieder. Jetzt schauen wir nach, ob das Elektron immer noch drin ist – siehe da, das ist es. Es ist also sicherlich vernünftig anzunehmen, das Elektron wäre die ganze Zeit im Inneren des Kastens gewesen. Wir wiederholen das Experiment noch ein zweites, drittes und viertes Mal, immer mit demselben Ergebnis. Dann plötzlich, beim fünften Mal, ist der Kasten leer. Stattdessen spricht kurz danach unser Elektronendetektor an, den wir ein ganzes Stück weit weg vom Kasten aufgestellt haben.
Was ist da passiert? Warum war das Elektron vier Mal im Kasten und beim fünften Mal nicht, obwohl wir immer genau dasselbe getan haben?
Die Quantenmechanik gibt auf diese Frage zumindest eine Teilantwort: Ein Elektron ist normalerweise nicht an einem wohldefinierten Ort lokalisiert. Vielmehr hat es eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass man es an einem bestimmten Ort finden kann. (Bei unserem Photon war das genau so, da habe ich den Versuchsaufbau aber so gebastelt, dass es nur zwei Möglichkeiten hatte – auf dem Weg nach A oder B.) Am Anfang unseres Experiments wussten wir, dass das Elektron im Kasten ist – seine Wahrscheinlichkeit, drinnen zu sein, war also 1, die Wahrscheinlichkeit, nicht drinnen zu sein, war Null. Öffnen wir den Kasten, so “leckt” die Wahrscheinlichkeit (oder die Wellenfunktion) nach Draußen – je länger wir den Kasten offen lassen, um so größer ist die Wahrscheinlichkeit, das Elektron draußen zu finden.
Mathematisch beschreibt man das mit der sogenannten Wellenfunktion, die gibt die Wahrscheinlichkeit an (naja, genauer gesagt ist das Quadrat der Wellenfunktion die Wahrscheinlichkeitsdichte, aber das sind mathematische Feinheiten, die für das prinzipielle Verständnis egal sind). Am Anfang ist die Wellenfunktion außerhalb des Kastens Null; wenn wir den Kasten öffnen, dann nimmt sie auch außerhalb Werte ungleich Null an. So etwa können wir das veranschaulichen (die Stärke des Rot-Tons ist ein Maß für die Wahrscheinlichkeit):
Links ist das Elektron irgendwo im Kasten, rechts ist der Kasten geöffnet, das Elektron hat jetzt auch eine Wahrscheinlichkeit, außerhalb des Kastens zu sein.
Wenn wir das Elektron dann wieder im Kasten messen, dann wissen wir jetzt, dass es wieder im Kasten ist. Dann kann es logischerweise nicht außerhalb des Kastens sein. Die Wellenfunktion ändert sich also und sieht wieder so aus wie links im Bild.
Man nennt das den “Kollaps” der Wellenfunktion – eben war sie noch an allen möglichen Orten ungleich Null, jetzt ist sie plötzlich überall Null, nur da nicht, wo wir das Elektron gemessen haben (und dort wird ihr Wert entsprechend größer).
Und wo war das Elektron, während wir es nicht gemessen haben? War es nun im Kasten, wie die ersten vier Experimente nahelegen, oder außerhalb, wie das letzte Experiment zu zeigen scheint? Darauf gibt es keine sinnvolle Antwort, das Elektron war nicht an einem bestimmten Ort, sondern über alle möglichen Orte “verschmiert”, so wie der rosafarbene Schimmer oben es zeigt.. (Dass das Elektron selbst existiert, ist aber unstrittig (oder auch nicht, siehe unten) – die Gesamtwahrscheinlichkeit, das Elektron irgendwo zu finden, ist immer gleich 1.)
Das gleiche gilt auch für ein Elektron, das beispielsweise an ein Proton gebunden ist und ein Wasserstoff-Atom formt: Es gibt bei einer Ortsmessung immer die Möglichkeit, das Elektron hundert, tausend oder zehntausend Kilometer vom Proton entfernt vorzufinden – was unserem Bild eines Atoms ein bisschen entgegensteht. (Die Wahrscheinlichkeit dafür ist natürlich unglaublich winzig, aber wie gesagt, hier geht es ums Prinzip der Sache.)
Also: Solange wir ein Teilchen nicht beobachten, ist es nicht an einem bestimmten Ort, sondern es ist in einem Zustand, der eine Überlagerung aus unterschiedlichen Möglichkeiten ist. Erst wenn wir eine Messung durchführen, dann “realisieren” wir dadurch eine dieser Möglichkeiten. Mehr als diese Wahrscheinlichkeiten kann man mit den Mitteln der Quantenmechanik nicht vorhersagen – was in einem konkreten Einzelfall passiert, ist absolut zufällig.
3. Wo ist das Molekül?
Statt mit Elektronen kann man dasselbe Spiel auch mit größeren Objekten machen. Wie groß? Das ist eine zur Zeit heiß diskutierte Frage, aber zumindest mit ganzen Molekülen klappt das Experiment in ganz ähnlicher Weise, wie ich neulich erklärt habe. Schickt man Moleküle durch einen Doppelspalt, dann kann man ein hübsches Interferenzmuster beobachten, das zeigt, dass die Moleküle tatsächlich “an zwei Orten gleichzeitig” sind – jedenfalls gilt das für ihre Wellenfunktion. Auch ganze Moleküle sind also nicht an einem bestimmten Ort, wenn niemand sie misst, auch sie haben eine Wellenfunktion . Ob es irgendwo eine Grenze gibt, oberhalb derer Objekte nicht mehr in einem solchen Überlagerungszustand sein können, ist unklar – bisher gibt es keine eindeutige experimentelle Grenze, aber es ist möglich, dass sie existiert.
Wir halten fest:
In der QM werden Objekte durch ihre Wellenfunktion beschrieben. Wenn man sie nicht beobachtet, haben sie eine Wahrscheinlichkeit, sich an unterschiedlichen Orten aufzuhalten; erst wenn man sie misst, dann kollabiert die Wellenfunktion und ist am Ort der Messung 1, überall sonst Null.
Dieser Kollaps der Wellenfunktion passiert “sofort” – denn wenn ich das Objekt an einem Ort messe, kann es ja nicht erst eine Weile dauern, bevor seine Wahrscheinlichkeit, anderswo zu sein, verschwindet. Die Wellenfunktion kollabiert also “unendlich schnell”. Gäbe es die Relativitätstheorie nicht, könnte man das so akzeptieren, aber dass die Wellenfunktion anscheinend mit Überlichtgeschwindigkeit kollabiert, ist schon ein bisschen schwer verdaulich (auch wenn es der Relativitätstheorie nicht explizit widerspricht, weil man mit einer kollabierenden Wellenfunktion keine Signale übertragen kann – das habe ich hier mal kurz diskutiert.)
Intermezzo: Was ist eine Messung? Um die Frage, wann denn nun eine Messung stattfindet, habe ich mich bisher gedrückt. Warum ist denn nicht auch der Detektor bei A in einem Überlagerungszustand, und dann der Experimentator usw.? Das ist das Problem von Schrödingers berühmter Katze. Nach der Standard-Interpretation der Quantenmechanik findet eine Messung durch eine Wechselwirkung mit einem “klassischen Objekt” statt, also einem Objekt, das hinreichend groß ist, um den Regeln der klassischen Physik zu genügen. Nach dieser Interpretation kann sich ein Objekt wie der Mond also sozusagen “selbst messen”, weil er groß genug ist. Das Problem dieser Deutung ist, dass sich der Mond ja aus lauter quantenmechanisch zu beschreibenden Einzelteilchen zusammensetzt, so dass konzeptionell nicht klar ist, wie so ein “klassisches Objekt” entstehen soll. Das klassische Lehrbuch von Landau-Lifshitz spricht in diesem Zusammenhang von der “zwiespältigen Rolle der klassischen Mechanik als Grenzfall und gleichzeitig als Grundlage der Quantenmechanik”. (In den letzten Jahren hat man zwar experimentell einiges darüber herausgefunden, wie Quantensysteme sich durch Kontakt mit einer großen Außenwelt verändern (Stichwort “Dekohärenz”), das fundamentale Problem wird dadurch aber nicht gelöst.) Was genau eine Messung ist, ist also nicht wirklich klar – Einigkeit herrscht aber darüber, dass wir bei einer Messung niemals einen Überlagerungszustand sehen (es gibt nie zwei “halbe” Signale unserer Photonen-Detektoren). Auch dazu könnte man noch viieel mehr schreiben, aber dieser Text ist eh schon viel zu lang… (Ende des Intermezzos)
Aber gut, dann ist ein Elektron eben ein Objekt, das zwar nicht immer an einem bestimmten Ort ist, aber es hat eine Wellenfunktion – das Elektron “ist” also seine Wellenfunktion, könnte man annehmen. Oder?
4. Welches Atom ist es?
Auch das ist nicht ganz so klar, wie man hoffen könnte. Nehmen wir als Beispiel erst einmal einen Atomkern eines radioaktiven Atoms.
Uran-238 beispielsweise kann ein Alpha-Teilchen aussenden und somit radioaktiv zerfallen – dabei wird aus dem Urankern ein Thorium-Kern. Stellt euch also einen Urankern vor, der irgendwo ganz allein im Weltall herumfliegt. Er könnte zerfallen – aber ist er zu einem bestimmten Moment schon zerfallen? Auch das kann man nicht sagen – wenn wir nicht messen, dann ist das System in einem Überlagerungszustand aus “Ich bin ein Urankern” und “Ich bin ein Alpha-Teilchen und ein Thorium-Kern”. Ein radioaktiver Atomkern hat also nicht mal eine eindeutige Identität, wenn wir ihn nicht messen – er liegt in einem Überlagerungszustand aus zwei unterschiedlichen Identitäten vor.
Nun könnte man natürlich einwenden, dass der Urankern ja ein zusammengesetztes Objekt ist – aber dasselbe funktioniert auch mit Elementarteilchen, die nicht zusammengesetzt sind. Beispielsweise können Myonen in Elektronen und zwei Neutrinos zerfallen – ein Myon, das ich gerade nicht beobachte, ist also nicht einfach ein Myon, sondern immer in einem Überlagerungszustand aus “Myon” und “Elektron plus zwei Neutrinos”.
(Ich beschreibe hier das Myon als Teilchen, nicht mit den Mitteln der Quantenfeldtheorie, was ich natürlich tun sollte – an der Logik des Arguments ändert das wenig, die entsprechenden Quantenfelder müssen dann halt in einem passenden Überlagerungszustand existieren.)
Wenn wir uns also auf den Standpunkt stellen wollen, dass die Wellenfunktion das ist, was ein Objekt beschreibt, dann müssen wir in Kauf nehmen, dass das Objekt auch teilweise ein anderes Objekt sein kann – so wie unser Urankern mit Identitätskrise. Ist ein Urankern einfach “da”, wenn ich ihn nicht beobachte – auch wenn seine Wellenfunktion zum Teil einen Thoriumkern und ein Alpha-Teilchen beschreibt?
Nun gut, radioaktive Atome sind ja ein Spezialfall – unsere normalen Alltagsobjekte enthalten nur wenige radioaktive Atome. Insofern ist das nicht so dramatisch, oder?
Doch, ist es. Denn es schwirren ja immer alle möglichen Teilchen durch die Gegend (oder besser gesagt: Es gibt an allen möglichen orten einen nicht verschwindenden Wert der Wellenfunktion für alle möglichen Objekte). Nehmen wir zum Beispiel ein Uran-238-Atom irgendwo in der Erdkruste. Es könnte ein Alpha-Teilchen aussenden (ist also in einem Überlagerungszustand) und dieses Alpha-Teilchen könnte von einem der Atome meines Körpers absorbiert werden und beispielsweise ein Kohlenstoff- in ein Sauerstoffatom verwandeln. Und das gilt natürlich für jedes Atom meines Körpers. Jedes Kohlenstoffatom in mir ist eigentlich immer (wenn ich es nicht beobachte) in einem Überlagerungszustand, in dem es eine winzige Wahrscheinlichkeit dafür hat, eigentlich ein Sauerstoffatom zu sein (oder auch etwas anderes, es gibt neben der Absorption von Alpha-Teilchen noch viele andere Prozesse, die die Atomsorte ändern können.)
Auch unser einzelnes Elektron hat eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, beispielsweise durch irgendein vorbeifliegendes Teilchen der kosmischen Strahlung in ein anderes Teilchen umgewandelt zu werden – und wieder gilt, dass es in einem Überlagerungszustand ist, solange wir nicht nachschauen. Insofern habe ich oben ein bisschen geschwindelt, als ich gesagt habe, dass die Wahrscheinlichkeit, das Elektron irgendwo zu finden, immer genau gleich 1 ist.
Wir halten fest:
Die Wellenfunktion eines Teilchens kann auch im Zustand einer Überlagerung sein, in der das Teilchen seine Identität geändert hat. Ein Objekt also einfach mit “seiner” Wellenfunktion zu identifizieren, wird dadurch nicht gerade einfacher, oder? Jedes Atom eines Objekts hat immer eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, ein anderes Atom zu sein. Trotzdem könnte man ja immer noch argumentieren, dass man eben eine gigantische Wellenfunktion betrachtet, die all diese Kopplungen (in der Fachsprache “Verschränkungen”) zwischen den Teilchen berücksichtigt.
Aber es kommt noch schlimmer.
5. Wann kollabiert die Wellenfunktion?
Betrachten wir noch einmal unser erstes Experiment mit dem Photon. Ich wandle das Experiment ein bisschen ab, indem ich den halbdurchlässigen Spiegel senkrecht stelle. Dann wird das Photon entweder durchgelassen oder zum Anfang zurückreflektiert:
Die dicke Linie zeigt das ankommende Photon, das dann nach A und/oder B läuft, wo es gemessen wird.
Bei der Messung kollabiert seine Wellenfunktion. Nehmen wir (ohne Beschränkung der Allgemeinheit, wie die MathematInnen sagen) an, wir messen das Photon bei A. Wir bauen unsere Apparate so, dass die Messung an beiden Orten genau gleichzeitig stattfindet (im Ruhesystem der Messapparate, die relativ zu einander stillstehen). Weil die Messungen gleichzeitig waren, können wir nicht sagen, ob es die Messung bei A oder die bei B ist, die die Wellenfunktion kollabieren lässt, beides passiert gleichzeitig.
Um das etwas besser darstellen zu können, zeichne ich hier ein Raum-Zeit-Diagramm des Versuchs. Die Zeitachse läuft nach oben. (Ja, ich war etwas schlampig, das Photon müsste genau unter 45° laufen, was es nicht ganz tut, weil ich gerade erst lerne, wie inkscape funktioniert…) Alles, was auf einer horizontalen Achse liegt, passiert in so einem Diagramm gleichzeitig. Das Photon trifft also auf den Spiegel und hat dann eine Wahrscheinlichkeit für beide Richtungen (wobei ich jetzt kurze Pfeile nehme, um zu zeigen, wo die Wellenfunktion des Photons nicht Null ist), bis es schließlich bei A gemessen wird und die Wellenfunktion kollabiert:
Wenn ich mich auf den Standpunkt stelle, dass die Wellenfunktion ein reales physikalisches Objekt ist, dann ist sie am Ort B kurz vor der Messung noch nicht kollabiert – das Photon hat noch eine Wahrscheinlichkeit, hier gemessen zu werden. Die Wellenfunktion ist hier also nicht Null – das wird sie erst, wenn ich bei A gemessen habe. Einen winzigen Moment vor dem Messereignis ist die Wellenfunktion also am Ort B noch nicht Null, deswegen sitzt dort noch ein kleiner Pfeil.
Leider gibt es mit dieser Ansicht ein kleines Problem: Wir leihen uns mal wieder eine Space-Jet bei Perry Rhodan und brettern mit hoher Geschwindigkeit von B nach A. Nach den Regeln der Relativitätstheorie sind jetzt die Messungen bei A und B für mich nicht mehr gleichzeitig, sondern die Messung bei A findet vor der Messung bei B statt. So sieht das im Raumzeit-Diagramm aus (die Regeln für das Hantieren mit solchen Diagrammen habe ich hier mal erklärt):
In Grün ist jetzt eingezeichnet, wie die Zeit- und Ortsachse für denjenigen aussehen, der im Raumschiff sitzt. Von den Apparaten A und B aus gesehen ist seine Zeitachse nach links gekippt, weil er sich ja nach links bewegt; die Regeln der Relativitätstheorie sagen, dass deshalb diejenigen Ereignisse, die für ihn gleichzeitig aussehen, auf einer passend nach rechts unten gekippten Achse liegen.
In diesem Bezugssystem findet die Messung A vor der Messung bei B statt – es ist eindeutig die Messung bei A, die die Wellenfunktion kollabieren lässt, die Messung bei B bestätigt nur das, was wir schon wissen. Einen winzigen Moment vor dem Messereignis bei B (rechts oben) ist deshalb im grünen Bezugssystem die Wellenfunktion schon kollabiert und hat den Wert Null. Für den Beobachter im grünen Bezugssystem müssten wir den letzten Photonenpfeil rechts oben also entfernen.
Umgekehrt lässt sich auch ein Bezugssystem finden (dazu muss ich nur in die andere Richtung fliegen), in dem die Messung bei B vor der Messung bei A stattfindet – in diesem Bezugssystem ist es also die Messung bei B, die den Kollaps verursacht, nicht die bei A, und ich müsste entsprechend den Photonenpfeil links oben weglassen (das zeichne ich jetzt aus Faulheit nicht).
Wichtig ist hier, dass sich kein messbarer Widerspruch ergibt – denn um das Ergebnis der Messung bei B zu erfahren, wenn ich mich bei A befinde, muss erst einmal ein Signal von B nach A geschickt werden, und das läuft mit Lichtgeschwindigkeit. Wenn das Signal aber bei mir ankommt, dann kann ich rekonstruieren, wann die Wellenfunktion bei B kollabiert sein muss, damit alles stimmt. Die Quantenmechanik und die Relativitätstheorie stehen also nicht in direktem Widerspruch zueinander und alle Beobachter sind sich vollkommen einig darüber, was sie gemessen haben (und alle werden für alle Messprozesse immer dieselben Vorhersagen machen).
Wenn ich allerdings annehme, dass die Wellenfunktion ein reales physikalisches Objekt ist, dann habe ich ein Problem: Welchen Wert hat sie denn nun direkt vor der Messung bei B? Ist sie schon zu Null kollabiert (wie das grüne Bezugssystem sagt) oder noch nicht (wie im schwarzen System)? Auf diese Frage gibt es keine eindeutige Antwort. Da ich die Wellenfunktion nicht direkt messen kann (ich kann natürlich direkt vor der Messung bei B eine andere Messung machen, aber dann ändere ich den Versuchsaufbau), ist das – wie gesagt – kein physikalischer Widerspruch, wohl aber ein konzeptioneller. Wenn der Wert der Wellenfunktion vom Beobachter abhängt, welches Recht habe ich dann zu behaupten, dass die Wellenfunktion ein reales physikalisches Objekt ist? Denn es ist doch gerade der Anspruch der “Realität”, dass sie eben nicht vom Beobachter abhängen soll, sondern beobachterunabhängig ist.
Tatsächlich gibt es Interpretationen der Quantenmechanik, die von einer physikalisch realistischen Wellenfunktion ausgehen. Das Problem kann umgangen werden, indem man davon ausgeht, dass es einen “bevorzugten Beobachter” gibt (vornehm ausgedrückt, eine “preferred foliation”). so dass immer eindeutig ist, wie die Wellenfunktion kollabiert. (Es wird also beispielsweise die grüne Linie als die Kollaps-Linie festgelegt.) Das ist prinzipiell nicht im Widerspruch zu unseren Beobachtungen, wohl aber zur Idee der speziellen Relativitätstheorie, nach der es ja keine ausgezeichneten Beobachter geben sollte. (Für den Fall der de-Broglie-Bohm-Theorie findet ihr das ausführlich bei Wikipedia diskutiert.) Und schlimmer: Es führt dazu, dass es Beobachter gibt, für die der Kollaps der Wellenfunktion sich rückwärts in der Zeit ausbreitet – die Wirkung liegt also vor der Ursache. (Wenn wir das grüne Bezugssystem als das bevorzugte nehmen, dann ist im schwarzen System die Wellenfunktion bei B schon kollabiert, obwohl das Photon noch keinen der beiden Detektoren erreichen konnte. ) Da wir den Kollaps nicht direkt beobachten können, ist auch das kein echt physikalisches Problem, wohl aber ein konzeptionelles: Sind wir wirklich bereit, eine solche “Rückwärts-Verursachung” zu akzeptieren?
Die meisten PhysikerInnen halten deshalb die Wellenfunktion nicht für ein reales physikalisches Objekt. (Um ehrlich zu sein, die meisten PhysikerInnen scheren sich keine Deut um diese Fragen und folgen dem Motto “shut up and calculate”.) Viele folgen der “Kopenhagener Deutung” der Quantenmechanik, bei der man sich auf den Standpunkt zurückzieht, dass letztlich nur Messprozesse eine “echte” Realität haben. Die Wellenfunktion ist hier ein Hilfswerkzeug, das uns erlaubt, Prozesse korrekt zu beschreiben, aber wie die Welt “wirklich” ist, darüber macht die Kopenhagener Deutung keine Aussage.
Fazit
Zu behaupten, in der QM wären Objekte auch dann “da”, wenn man nicht hinsieht, ist problematisch: jedes Teilchen des Mondes hat eine Wahrscheinlichkeit, ganz woanders zu sein und nicht am Mond, jedes Atom im Mond ist ohne Beobachtung in einem Überlagerungszustand, in dem es auch ein anderes Atom sein kann. Wenn wir den Mond als die Summe seiner Teilchen (bzw. deren Wellenfunktionen) ansehen, dann ist es nicht unproblematisch zu sagen, dass er da ist, wenn wir ihn nicht beobachten – jedenfalls, wenn wir die herkömmliche Definition von “da sein” betrachten. Immerhin könnte jedes seiner Teilchen gerade woanders sein oder gerade eine Umwandlung gemacht haben.
Und wenn wir die Wellenfunktion als reales physikalisches Objekt ansehen, dann bekommen wir Schwierigkeiten mit dem Konzept der Kausalität – Messungen können sich dann für einige Beobachter “rückwärts in der Zeit” auswirken (auch wenn wir das nicht nutzen können, um irgendwelche Zeitparadoxa heraufzubeschwören).
Ihr seht, dass es in der Quantenmechanik nicht so klar ist, was eigentlich an den Messungen, die wir machen, “real” ist. Man kann sich auf unterschiedliche Standpunkte stellen (das sind dann die Interpretationen der Quantenmechanik), aber eine, die keinerlei philosophische Probleme mit sich bringt, gibt es nicht:
- Halte ich die Wellenfunktion für ein reales Objekt, dann kann sich diese Wellenfunktion nichtlokal ändern, so dass man (entgegen dem Geist der speziellen Relativitätstheorie) einen bevorzugten Beobachter annehmen muss. Außerdem gibt es Beobachter, für die sich der Kollaps der Wellenfunktion “rückwärts in der Zeit” ausbreitet, .
- Umgekehrt kann ich auch sagen, dass die Wellenfunktion eben kein reales physikalisches Objekt ist (so wie es die Standard-Deutung tut) – dann aber habe ich eine Beschreibung der Welt, die mit einem Objekt hantiert, von dem ich behaupte, dass es in der realen Welt gar keine Entsprechung hat. In welchem Sinne ist ein Objekt “da”, wenn die einzige funktionierende Beschreibung des Objekts eine ist, die selbst nicht real ist?
Das ist der Grund für die oft zitierte Aussage, dass eine Interpretation der Quantenmechanik nicht-lokal oder nicht-realistisch sein muss (oder auch beides), und das ist etwas, das es in der klassischen Physik nicht gibt.
Es gibt natürlich noch eine dritte Möglichkeit: Nämlich die, dass unsere Quantenmechanik nicht der Weisheit letzter Schluss ist und dass es eine tieferliegende realistische Theorie gibt (die dann hoffentlich auch noch gleich mit dem Messproblem aufräumt). Da jede korrekte Theorie aber entweder nicht-realistisch oder nicht-lokal sein muss, kann man spekulieren, dass eine realistische und tieferliegende Theorie unser Konzept von “lokal” radikal verändern dürfte. Wir müssten dann unsere Ansichten über Raum und Zeit noch mehr revolutionieren, als wir es eh schon getan haben.
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