Dies ist eine Rezension eines Kapitels aus dem Buch “Der große Entwurf” von Stephen Hawking und Leonard Mlodinow. Die Rezensionen der anderen Kapitel können hier gefunden werden.
Im letzten Kapitel haben Hawking und Mlodinow über die Entwicklung der Naturgesetze geschrieben – und bevor es nun mit den Antworten auf die großen Fragen weitergeht machen sie sich noch Gedanken über die Frage nach der Wirklichkeit. Was ist Wirklichkeit? Ist das, was die physikalischen Theorien beschreiben wirklich real?
Als Beispiel dient den Autoren ein Goldfisch, der in seinem kugelförmigen Aquarium schwimmt und durch das Glas die Welt außerhalb betrachtet. Zwangsläufig sieht er nur eine verzerrte Version der Realität. Aber das gilt eigentlich nur für unsere Außensicht. Wir können genaugenommen nicht behaupten, das unsere, unverzerrte Sicht der Wirklichkeit irgendwie “realer” ist als die Beobachtung des Goldfisch. Ein hypothetischer Goldfischphysiker konnte in seinem Glas genauso gültige Naturgesetze über das Verhalten der Objekte außerhalb ableiten wie wir es tun. Seine Version der Gesetze wäre zwar komplizierter als unsere – aber das Weltbild des Goldfisch wäre ebenso real wie unseres.
Ein zweites Beispiel sind die unterschiedlichen Weltbilder des Ptolemaeus und des Kopernikus. Ptolemaeus stellte die Erde ins Zentrum seines Universum. Um die Planetenbahnen halbwegs genau vorhersagen zu können, musste er sie aber auf komplizierte Bahnen setzen. Kopernikus war der Meinung, dass die Planeten die Sonne umkreisten und konnte ihren Bahnen so viel einfacher beschreiben. Welches System beschreibt die Realität? Wir wissen heute, dass die Planeten tatsächlich die Sonne umkreisen – aber wir könnten, so wie der Goldfisch in seinem Glas, die Welt im Prinzip genauso konsistent und schlüssig beschreiben, wenn wir die Welt ins Zentrum setzen. Die Theorie wäre zwar komplizierter – aber sie würde funktionieren.
Hawking und Mlodinow kommen zu folgender Schlussfolgerung:
“Es gibt keinen abbild- und theorieunabhängigen Realitätsbegriff. Stattdessen werden wir uns eine Auffassung zu eigen machen, die wir modellabhängigen Realismus nennen wollen: die Vorstellung, dass eine physikalische Theorie oder ein Weltbild ein (meist mathematisches) Modell ist und einen Satz Regeln besitzt, die die Elemente des Modells mit den Beobachtungen verbinden. Das liefert uns ein Gerüst zur Interpretation der modernen Wissenschaft.”
Die Frage, ob das, was die Wissenschaft beschreibt auch tatsächlich real ist, ist natürlich keine neue. Da hat schon Platon drüber nachgedacht und heute nennt man die Überzeugung, dass Beobachter und Beobachtungsgegenstand Teil einer Welt sind, die objektiv existiert Realismus. Hawking und Mlodinow sind allerdings der Ansicht, dass diese Position angesichts der Erkenntnisse der modernen Physik nicht zu halten ist.
Schon die Quantenphysik macht hier Probleme. Wir können nicht sagen, dass eine Messung deswegen ein bestimmtes Ergebnis bringt, weil irgendein Objekt eine gewisse Eigenschaft hatte. In der Quantentheorie kann man oft nichtmal sagen, dass gewisse Objekte eine unabhängige Existenz haben; sie existieren nur “als Elemente einer Gesamtheit von vielen Teilen”.
Die Gegensposition zum Realismus ist der Antirealismus. In der Wissenschaft waren die Antirealisten bestrebt, sich nur mit Dingen zu beschäftigen, die man beobachten kann. Zum Beispiel lehnten im 19. Jahrhundert viele Wissenschaftler den Begriff des Atoms ab, weil man es nicht beobachten konnten. Hawking und Mlodinow meinen allerdings, dass die Frage nach der “Realität” eines Modells sinnlos ist. Im modellabhängigen Realismus ist nur entscheidend, ob ein Modell mit den Beobachtungen übereinstimmt oder nicht. Gibt es zwei Modelle, die sich beide mit den Beobachtungen decken, so kann man nicht sagen, dass eines realer sei als das andere. Man kann dann immer das Modell verwenden, das in der jeweiligen Situation praktischer ist.
Auch unser Gehirn arbeitet nach dem modellabhängigen Realismus. Unsere Sinne sind nur mangelhaft. Unsere Augen sehen eigentlich nur ein stark verzerrtes Bild, mit einem Loch in der Mitte. Erst unser Gehirn konstruiert daraus ein Modell, das wir dann als “Wirklichkeit” wahrnehmen. Wir können beispielsweise eine Brille aufsetzen, die unser Bild von der Welt auf den Kopf stellt – und nach einer gewissen Eingewöhnungszeit bastelt unser Gehirn daraus trotzdem wieder eine “normale” Sicht der Welt. Nehmen wir die Brille dann ab, sehen wir die “Realität” dann erst wieder verkehrt herum und müssen warten, bis unser Gehirn das Modell der Wirklichkeit erneut umstellt.
Richtig interessant wird es dann, wenn es in die Welt der subatomaren Teilchen geht. Die ist unserer Sinneswahrnehmung prinzipiell unzugänglich und es die Frage nach der “Realität” stellt sich hier besonders dringlich. Wie real sind beispielsweise die Quarks? Die Existenz dieser Elementarteilchen ist heute allgemein anerkannt, obwohl wir sie nicht mal prinzipiell als einzelne Objekte wahrnehmen können. Quarks existieren immer nur in Kombination und nie isoliert. Drei Quarks zusammen bilden dann beispielsweise ein Proton oder Neutron. Die Kraft, die die Quarks zusammenhält wird stärker wenn man probiert, die Quarks voneinander zu entfernen – es ist also nicht möglich, eines davon zu isolieren. Dem modellabhänigen Realismus zu Folge existieren die Quarks aber in einem Modell, dass mit unseren Beobachtungen der subatomaren Teilchen übereinstimmt.
Ein weiteres Beispiel für zwei konkurrierende Modelle der Realität ist der Welle-Teilchen-Dualismus des Lichts. Manche Eigenschaften des Lichts lassen sich am besten beschreiben, wenn man davon ausgeht, dass es aus Teilchen besteht (Albert Einstein bekam für seine Teilchenbeschreibung des Lichts und die Erklärung des photoelektrischen Effekts sogar den Nobelpreis) – andere Eigenschaften scheinen zu belegen, dass das Licht eine Welle ist. Dieser scheinbare Widerspruch ist mit dem modellabhängigen Realismus konsistent – es gibt eben keine einzelne Theorie, die alle Aspekte des Lichts beschreiben kann. Diese Situation gilt laut Hawking und Mlodinow für das gesamte Universum:
“Es scheint so, als könne kein einzelnes mathematisches Modell, keine einzelne Theorie jeden Aspekt des Universums beschreiben. Wie im einleitenden Kapitel erwähnt, gibt es anscheinend ein Netz von Theorien, die sogenannte M-Theorie. Jeder Theorie im Netz der M-Theorie gelingt es, die Erscheinungen innerhalb eines bestimmten Bereichs zu beschreiben. Wo sich die Geltungsbereiche überschneiden, stimmen die verschiedenen Theorien des Netzes überein, daher können sie alle als Teile derselben Theorie angesehen werden. Doch keine einzelne Theorie des Netzes kann jeden Aspekt des Universums erklären – alle Naturkräfte, die Teilchen die diesen Kräften unterworfen sind, und das Bezugssystem von Raum und Zeit, in dem alles stattfindet.”
Das mag zwar manche Physiker enttäuschen, die sich eine echte “Theorie von allem” gewünscht haben (auch Hawking gehörte früher dazu) – aber im modellabhängigen Realismus ist das alles, was man sich erhoffen kann.
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