Und andersrum funktioniert das ganze leider auch: Wir haben weniger Mitleid mit denen, die es im Leben nicht so gut haben, als wir vielleicht haben sollten, weil wir insgeheim überzeugt sind, dass sie es eben nicht anders verdient haben. Unsere Erwartungen bestimmen, was wir denken. Wer kein Geld hat und obdachlos auf der Straße lebt, der muss selbst dran Schuld sein. Wer in der psychiatrischen Anstalt landet ist offensichtlich verrückt – denn sonst wäre er ja nicht dort, oder? Mlodinow stellt einige äußerst interessante Experimente vor, die genau das belegen. Wenn Versuchspersonen dabei zusehen, wie zwei Menschen Aufgaben erledigen und das Experiment so aufgebaut ist, das beide objektiv gesehen gleich gut darin sind, dann sollten die Versuchspersonen sie eigentlich auch als gleich gut bewerten. Sagt man den Leuten aber, dass nur eine der beiden Personen für die Lösung der Aufgabe bezahlt, dann führt das dazu, dass die Leistung der bezahlten Person besser bewertet wird. Denn wer Geld kriegt, muss ja auch etwas können, oder? (und das funktioniert selbst dann, wenn man dazu sagt, dass die bezahlte Person per Zufall ausgewählt wurde). Und auch die Sache mit der psychiatrischen Anstalt wurde getestet: Völlig normale Menschen die sich völlig normal verhielten wurden vom Personal der Anstalt trotzdem für psychisch krank gehalten und ihr normales Verhalten als gestört interpretiert (nur die anderen, echten Patienten erkannten den Schwindel meistens gleich…).
Was heißt das für unser Leben? Es klingt ein wenig pessimistisch, wenn der Zufall tatsächlich so eine große Rolle spielen sollten. Aber Mlodinow sagt am Ende des Buches, dass wir damit eben leben müssen. Wir müssen probieren, uns des Zufalls bewusst zu werden, ihn nicht zu ignorieren und den einzigen Parameter zu kontrollieren, denn wir kontrollieren können: Wenn das Leben nur ein Glücksspiel ist, dann sollten wir so oft spielen wie möglich um die Chancen auf Gewinn zu erhöhen. Wenn wir nicht aufgeben und es immer wieder probieren, erhöhen wir unsere Chancen auf Erfolg im Leben. Wenn wir erfolgreich sein sollen, müssen wir unsere Fehlerrate erhöhen…
Ich persönlich bin mir noch nicht ganz sicher, ob der Zufall wirklich diese extrem bestimmende Rolle im Leben spielt, die Mlodinow ihm zuweist. Natürlich stimmt es: Bei genauer Betrachtung hängt enorm viel von winzigen Details ab. Ich zum Beispiel lebe heute in Jena. Da bin ich nur gelandet, weil ich nach meiner Doktorarbeit dort einen Job bekommen habe. Den habe ich aber nur bekommen, weil mein damaliger Chef in Wien den Professor in Jena kannte, der einen neuen Mitarbeiter suchte und mir davon erzählt hat. Die beiden kannten sich aber nur, weil sie sich zwei Jahre davor bei einer Konferenz kennengelernt haben. Dort haben sie sich aber nur kennengelernt, weil mein Chef dorthin von einem seiner ehemaligen Studenten eingeladen wurde. Und so weiter. Dass ich heute in Jena lebe, ist tatsächlich reiner Zufall und ich hätte genau so gut irgendwo anders auf der Welt landen können. Und auch das ich heute mein Geld als Wissenschaftsautor verdiene, ist reiner Zufall (ich spar mir jetzt die Auflistung der Ereignisse die dazu geführt haben). Ich könnte also auch irgendwo anders leben und irgendetwas anderes tun. Insofern bestimmt der Zufall tatsächlich, was uns das Leben bringt. Aber wie wir mit dem umgehen, was uns der Zufall vorsetzt, hängt immer noch von dem ab, was wir sind. Wir sind dem Zufall also nicht ganz hilflos ausgeliefert…
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