Denn “The book nobody read” handelt natürlich auch von Astronomie. Der Inhalt von Kopernikus’ Werk war Gingerich selbstverständlich bekannt; nur dafür hätte er nicht jedes einzelne Exemplar lesen müssen. Er war daran interessiert, was andere von der Lektüre gehalten haben. Viele Forscher im 16. und 17. Jahrhundert haben ihre Ausgabe von “De revolutionibus” mit ausführlichen Anmerkungen versehen und die wollte Gingerich dokumentieren und verstehen. Und auch das sind enorm spannende wissenschaftliche Detektivgeschichten. Da müssen Handschriften entschlüsselt und zugeordnet werden. Manche Bücher enthalten Anmerkungen verschiedener Leute; manche Bücher enthalten Anmerkungen die aus früheren Ausgaben kopiert wurden, und so weiter.
Gingerich konnte viele “prominente” Exemplare entdecken, zum Beispiel die Bücher, die Tycho Brahe besessen hat. Ein besonders spannender Teil von “The book nobody read” beschäftigt sich mit der Entwicklung des tychonischen Weltbilds, das einen Kompromiss zwischen Geozentrismus und Heliozentrismus darstellt. Tycho Brahe beließ darin die Erde im Mittelpunkt des Universums, die von Mond und Sonne umkreist wurde. Die restlichen Planeten aber umkreisten die Sonne. In verschiedenen Anmerkungen verschiedener Forscher die Gingerich in “De revolutionibus” gefunden hat, probierte er den Ursprung und die Entwicklung dieses Konzepts nachzuvollziehen und fand dabei die gleichen wissenschaftlichen Rivalitäten, die auch heute noch überall vorhanden sind. Es ist auch interessant, die von der katholischen Kirche angeordneten Zensuren des Buchs zu untersuchen und nachzusehen, wo sie tatsächlich umgesetzt worden sind und wo nicht.
Gingerich verfolgt, wie sich Kopernikus’ Thesen langsam durch die frühe wissenschaftliche Welt verbreiten und hat untersucht, wer in welchem Ausmaß dazu beigetragen hat, dass sich die Idee schließlich durchsetzte. Eine sehr wichtige Rolle spielt dabei zum Beispiel Erasmus Reinhold, von dem ich bisher noch nie gehört hatte, obwohl er aus Saalfeld stammt, das ja gleich neben meiner Heimatstadt Jena liegt. Auch sonst lernt man in Gingerichs Buch jede Menge andere “unbekannte” Forscher kennen, die trotzdem wichtige und höchst interessante Arbeit gemacht haben. Und man lernt vor allem Kopernikus kennen. Die meisten werden wissen, dass Kopernikus ein Weltbild vorschlug, in dem sich die Erde um die Sonne dreht und nicht umgekehrt. Aber das war natürlich bei weitem noch nicht alles. Die meisten werden vermutlich nicht wissen, dass Kopernikus’ Weltbild rein wissenschaftlich nicht wesentlich besser war als das alte, geozentrische von Ptolemäus. Auch mit Kopernikus’ Ansatz ließen sich die Positionen der Planeten nicht wesentlich genauer vorhersagen und auch er musste in seinem Modell diverse Modifikationen anbringen, so wie es Ptolemäus mit seinen Epizyklen tat (und Gingerich demontiert gleich auch noch den Mythos, dass man im Mittelalter “Epizykel an Epizykel” reihte, um das geozentrische Weltbild noch irgendwie “zu retten”). Denn Kopernikus war in gewisser Hinsicht genau so konservativ wie seine Vorgänger und wollte sich nicht von der Vorstellung lösen, dass am Himmel alles in Kreisform abzulaufen hat. Diesen Schritt hat dann erst Johannes Kepler geschafft…
“The book nobody read” ist ein wirklich großartiges Buch, für Freunde der Wissenschaftsgeschichte ebenso wie für Menschen, die einfach nur Bücher sehr gerne haben. Mich hat es wieder einmal daran erinnert, dass ich ja doch eigentlich gerne Wissenschaftshistoriker geworden wäre (aber gut, in diesem Bereich hat man wahrscheinlich noch schlechtere Berufsaussichten als in der Astronomie). Und ich habe mich darüber geärgert, dass ich es in meiner gesamten Zeit an der Unisternwarte Wien nie geschafft habe, mal einen Blick auf die Erstausgabe von “De revolutionibus” zu werfen, die dort in der Bibliothek aufbewahrt wird…
P.S. Und bleibt dran; heute Nachmittag gibt es dann die Buchempfehlung zur zweiten Überraschungsentdeckung – diesmal zu einem ganz anderen Thema.
*Affiliate-Links
Kommentare (15)