So ist der Weise, der die Menschen lenkt:
wünscht er sich nichts, wird ihm alles geschenkt.
Ohne an seine Begierden zu denken,
kann er die Begierden aller lenken!

Tao Te King 8

So wie der Weg des Wassers ist,
so ist auch der Weg des Weges!
Und was der Weise mit Geist ermisst,
siehst du, blickst du vom Rand des Steges:

Sie hinab auf des Wassers Lauf.
Frei fließt es von Ort zu Ort,
und vernimmst du des Wassers Wort –
dann höre und höre zu denken auf.

Wie ein stiller See am Morgen,
unbewegt und unendlich tief.
So sei dein Herz und ohne Sorgen,
hilfst du dem Menschen der dich rief.

Genau dies ist der Weg des Weisen.
Und wie das Wasser auf seinen Reisen,
ist er zufrieden, wo er sich befindet.
Und so wie das Wasser im Boden verschwindet,
Und so wie das Wasser die Felsen umfließt,
Und sich von oben nach unten ergießt,
so weicht der Weise der Gewalt.
In haltlosem Fließen findet er Halt –
Und bleibt dadurch schadlos für alle Zeit.
So wie es das fließende Wasser bleibt.

Tao Te King 9

Ein voller Krug hat keinen Wert,
gerät er aus dem Gleichgewicht.
Das neue, scharf geschliffene Schwert,
wird stumpf und glänzt nicht mehr im Licht.
Ein mit Gold gefüllter Saal,
ist von dir nicht zu bewachen.
Zuviel Besitz bringt zuviel Qual:
darum lass ab von allen Sachen.

Denn kannst du dich nicht von deinen Werken trennen.
Dann kannst du das Tao auch nicht erkennen!

Tao Te King 10

Kannst du deine Seele nähren und dabei das Eine mit Einssein umfangen?
Kannst du dein Qi sammeln und stärken und so die Weisheit des Kindes erlangen?
Kannst du dein geistiges Schauen klären, so dass es nur mehr Klarheit gibt?
Kannst du ein Mensch sein, der ohne zu wissen, doch alle anderen Menschen liebt?
Kannst du dich selbst zur Umkehr bringen, das Yin über dich wachsen lassen?
Kannst du die Welt in ihrer Größe, so wie sie ist, als Ganzes umfassen?

Das Leben immer aufs neue gebärend,
erhaltend und auf ewig nährend.
Das Tao wirkt so für alle Zeiten!
Das Tao wird so immer alle leiten!
Alles gibt es, ohne selbst zu behalten.
Alles weiß es, und ist doch verhalten.

Still und klar ohne Wollen und Streben.
Das ist des Taos Ursprung und Leben!

Tao Te King 11

Ein Wagenrad hat 30 Speichen,
die allesamt zu Mitte streben.
Doch Stoff muss in der Mitte weichen,
und dort den Raum der Leere geben.

Das was den Becher nützlich macht,
ist der Hohlraum innendrin.
Wie das Licht in dunkler Nacht,
gibt erst die Leere ihm den Sinn.

Ein Haus ist Heim für dich erst dann,
wenn es betreten werden kann.
Türen und Fenster, die sind leer –
erst Leere macht aus all dem mehr!

Stoff kann nur den Zweck bedingen,
doch Nutzen kann nur die Leere bringen!

Tao Te King 12

Fünf Farben leuchten und machen das Auge blind.
Fünf Töne klingen, bis sie unhörbar sind.
Fünf Dinge schmecken – und du schmeckst gar nichts mehr.
Alles wird nichts, begehrst du zu sehr.

Rennen und Jagen machen dein Herz zu toll.
Kostbarkeiten machen dein Herz nicht voll.

Drum handelt der Weise Mensch nicht vermessen
und wird all seine Wünsche vergessen.

Tao Te King 13

Die meisten Menschen streben nach Ehre:
Jeder wünscht sich, dass er jemand Besseres wäre.
Doch hast du dies Ziel erst einmal erreicht,
fürchtest du nur mehr, dass das Glück wieder weicht.

Nur weil du glaubst, du bist im Zentrum von allem,
kann das Übel der Welt überhaupt auf dich fallen.
Der Weise wird das Zentrum in seiner Mitte verwahren.
Und kann darum auch kein Übel erfahren.

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Kommentare (24)

  1. #1 baba
    25. Juni 2015

    Das ist mal eine Überraschung! Ich habe mich im Rahmen meiner Diplomarbeit (Musik) viel mit Taoismus beschäftigt und hätte nicht erwartet, hier im Blog eine Übersetzung des Tao Te King zu finden. Ich finde die gereimte Version sehr gut gelungen! Man merkt, dass Du Dich mit den Versen echt befasst hast. Ich bin auch kein Taoist, aber Du hast recht: Die Gedichte regen wirklich zum Nachdenken an.
    Danke für diesen schönen Einstieg in den Tag und überhaupt mal ein RIESEN Dankeschön für Deine Arbeit!! Ich habe extrem viel von Deinen Texte und den Sternengeschichten gelernt und habe nach wie vor fast täglich Aha-Erlebnisse dadurch 🙂
    Ich kann nur sagen: Erhol Dich gut und dann – WEITER SO 🙂 !!

  2. #2 Florian Freistetter
    25. Juni 2015

    @baba: “eine Übersetzung des Tao Te King zu finden”

    Wie gesagt – es ist eher eine “Übersetzung”. Denn das Original hab ich ja nie gelesen (bzw. schon, ich hab auch ne Fassung des Originaltextes zuhause – aber verstanden hab ich halt nix 😉 )

  3. #3 Crazee
    25. Juni 2015

    Coole Sache das. Da werde ich ein wenig für brauchen.

    Wenn ich mal wieder so viel Zeit hätte wie in Studententagen…

  4. #4 Kyllyeti
    25. Juni 2015

    Es ist halt oft so mit schwierigen Sachen
    die dem Verständis Probleme machen
    Du kannst es probieren,
    sie mit Wortkunst neu zu formulieren
    und am Ende kannst du dir einen Reim darauf machen.

    (Losung eines unbekannten alten deutschen Meisters irischer Abstammung)

  5. #5 Braunschweiger
    25. Juni 2015

    @Kyllyeti: Ahh, frisch hergestellte “alte” Chinesische Sprichworte…

    Vielleicht sollten wir solche Reimweisheiten mal sammeln. Vielleicht sogar in einem Extra-Artikel. Ein gewisses Niveau sollte allerdings gewahrt bleiben.
    Ich hätte da einen älteren Beitrag, der von Wilhelm Busch genauso gut wie von Erich Kästner stammen könnte, vielleicht auch von einem früheren “Leserbriefschreiber” an passender Stelle:

    Witz mit Geist ist sehr beliebt,
    da es ihn recht selten gibt.

  6. #6 bikerdet
    25. Juni 2015

    Es war früher üblich Geschichten in Versform vorzutragen. So merkt es sich der Vortragende leichter und die Zuhörer ebenfalls. Bei einer rein mündlichen Überlieferung wird so relativ zuverlässig verhindert, das Texte VERSEHENDLICH falsch weitergegeben werden. Gegen eine absichtliche Verfälschung hilft das nicht, solange der Reim komplett angepasst wird.
    Auch heute noch sind alle unsere ‘Eselsbrücken’ in Reimform, man lernt sie so einfach schneller.

  7. #7 Florian Freistetter
    25. Juni 2015

    Also wenn ich hier mal die ersten Zeilen des Originaltextes kopiere, dann scheinen da schon irgendwelche Reime drin zu sein. Zumindest sind die jeweils letzten Symbole immer gleich (ist aber im Rest des Textes nicht durchgehend so):

    道可道,
    非常道。
    名可名,
    非常名

    (von hier: https://ctext.org/dao-de-jing)

  8. #8 rolak
    25. Juni 2015

    die ersten Zeilen

    Da haste aber gerade noch rechtzeitig aufgehört, Florian, beim dritten Zeilenpaar paßt es nicht mehr. Zeichen 1, 3 und 6 sind übrigens, wie am Anfang des Textes nicht anders zu erwarten, das Zeichen für ‘Dao’.

    Hättest auch ganz lässig eine FortsetzungsPublikation starten können, bummelig bis Mitte Juli wärst Du ganz unauffällig gekommen 😉

  9. #9 LasurCyan
    25. Juni 2015

    Das ist ja fast musikalisch strukturiert^^

    ABA
    CDA
    EBE
    CDE

  10. #10 rolak
    25. Juni 2015

    musikalisch strukturiert

    Das ist im Chinesischen durchaus eingebaut, LasurCyan, deswegen könnte ich mir (im Gegensatz zu sonst) es als Hörbuch sehr unterhaltsam vorstellen (nein, Chinesisch beherrsche ich nicht, nicht einmal ansatzweise).

  11. #11 Dampier
    25. Juni 2015

    Geil. Ich habe mir vor Jahren mal eine Sammlung von Tao Te King-Übersetzungen angelegt (<– immer noch meine Lieblingsschreibweise). Da kommt diese natürlich auch rein. Das muss ich nochmal in Ruhe lesen und mit den anderen Texten vergleichen :]

    Eine Übersetzung kann es gar nicht geben, es werden immer nur Interpretationen sein. Ich fand es ungeheuer faszinierend und es regt wirklich zu Diskussionen an. Eine Zeitlang hab ich es auch als Schriftrolle verschenkt.

  12. #12 Dampier
    25. Juni 2015

    Hier ein freies Audio-Book. Ziemlich abgefahren vorgelesen.

    https://librivox.org/daodejing-by-laozi/

  13. #13 PDP10
    26. Juni 2015

    Ich habe ja mal so meine eigene Erfahrung mit Übersetzungen aus dem Chinesischen gemacht – nicht als Übersetzer, versteht sich (ich kann kein bischen Chinesisch), sondern als Käufer.

    Ich hatte vor einigen Jahren versucht eine möglichst “amtliche” Übersetzung von Sun Tsu’s “Kunst des Krieges” zu finden ..

    Und musste lernen, dass die gefühlten 372tausend deutschen Ausgaben praktisch alle aus dem englischen oder französischen übersetzt waren … äh, ja super. Stille Post.

    Letztlich habe ich genau eine gefunden, die tatsächlich vom chinesischen direkt ins deutsche Übersetzt war …

  14. #14 rolak
    26. Juni 2015

    Letztlich .. genau eine

    Boah wie gemein, PDP10: Welche?

  15. #15 rolak
    26. Juni 2015

    öhm, das war ein wenig flott… Mittlerweile (=gestern schon) fand sich auch eine Lesung in Mandarin, nicht in BambusSchachteln, sondern in Tuben.

    Und eine schräge Animation, von der ich allerdings wegen der bereits erwähnten Sprachfertigkeit überhaupt nicht sagen kann, was genau es ist.

  16. #16 Giannozzo
    26. Juni 2015

    rolak, das Youtube-Video ist eine Einführung in den Laozi, gezeichnet von Tsai Chih-chung. Das Buch dazu gibt es sogar auf deutsch:
    https://www.amazon.de/Das-Tao-King-Laotse-interpretiert/dp/3981114825/ref=sr_1_1?s=books&ie=UTF8&qid=1435310131&sr=1-1&keywords=tsai+chih+chung
    Das Daodejing ist im Original übrigens tatsächlich nicht durchgehend gereimt, sondern nur abschnittsweise – soweit sich das heute feststellen lässt. Denn die Zeichen wurden vor 2.500 Jahren natürlich ganz anders ausgesprochen als heute, und die phonetische Rekonstruktion ist eine Wissenschaft für sich.
    Schließlich, eine gute Übersicht über deutsche DDJ-Ausgaben gibt es hier:
    https://www.das-klassische-china.de/Tao/Ubersicht%20der%20versch%20Ausgaben/index.htm

  17. #17 rolak
    26. Juni 2015

    Schönen Dank für die MetaInformation, Giannozzo, statt FleißKärtchen gabs eine Verlinkung des Kommentars zur Ergänzung der hiesigen MetaDaten 😉

    phonetische Rekonstruktion

    Das wäre ja auch zu einfach, wenn es für jede Sprache solch gut erhaltene AusspracheLehrsysteme gäbe wie für Latein.

  18. #18 PDP10
    26. Juni 2015

    @rolak:

    “Boah wie gemein, PDP10: Welche?”

    Äh, tschuldigung … 🙂

    Jene:

    https://www.amazon.de/%C3%9Cber-die-Kriegskunst-Sun-Zi/dp/7119044869/ref=sr_1_1?ie=UTF8&qid=1435346812&sr=8-1&keywords=sun+zi+%C3%BCber+die+kriegskunst

    Leider “derzeit nicht verfügbar”. Aber vielleicht lässt die sich irgendwo gebraucht / antiquarisch auftreiben.

  19. #19 rolak
    26. Juni 2015

    nicht verfügbar

    Und auch auf die Schnelle nicht auffindbar, PDP10, doch Danhe!, so kann es immerhin schon mal auf die Suchliste…

  20. #20 Johannes
    1. Juli 2015

    Hier noch eine extreme Kurzfassung 😉 https://weirdoverse.com/weird-comix/tao-raw/

  21. #21 aam
    4. Januar 2016

    Pierre Martin: Dao-De-Ging (Tao-Te-King): Die Gnosis im Alten China

    https://laotse-dao-de-ching.blogspot.com/2007/11/daodejing-tao-te-ching-spruchkapitel-1.html

  22. […] zeitversetzte, Übersetzung des Textes, wie des Dao selbst, immer nur ein Kompromiss ist, der Mehrdeutigkeit möglichst eindeutig zu vermitteln versucht. Gesamtbewusstsein ist auch so ein Begriff, wie das […]

  23. #23 Aleksandar
    31. März 2017

    Wow!Ich bin ihnen sehr dankbar für diese Übersetzung.Das kann ich sehr gut verstehen.Und es war bestimmt sehr viel Arbeit für Sie,aber Sie haben es geschafft und zwar alles so perfekt gemacht!.Und Sie zeigen es kostenlos.Ich bin Ihnen sehr dankbar und bin positiv überrascht,dass es solche Menschen wie Sie gibt.

  24. #24 Michael Hammes
    Bad Homburg
    1. November 2019

    Also, die Übersetzung von Richard Wilhelm ist mehr als in die Jahre gekommen und sicher kein Standard mehr. Mit den vielen nachempfundenen Übertragungen ist es so eine Sache: irgendwann besagen sie mehr über den Verfasser als über Laozi und das Daodejing. Der chinesische Text ist zu tiefgründig, als dass man ihn in der Zielsprache auch noch in Reime fassen könnte, selbst wenn das im Originaltext so vorkommt. Dort gibt es zum Teil Reime aber auch häufig parallelen Satzbau, was in der Poesie ebenfalls genutzt wird. Nicht alle Aspekte kann man sinnvoll in der Zielsprache unterbringen.