Denn ehrst du die Welt in deinem Leben,
kann man sie dir getrost übergeben.
Und liebst du die Welt in deiner Person,
dann dienst du ihr und sie lebt davon!

Tao Te King 14

Suchst du etwas und kannst es nicht sehen;
Lauscht du etwas und kannst nichts verstehen;
Greifst du etwas und kannst es nicht fassen:
Die Drei, die sich nicht begreifen lassen,
wurden zu einem einzigen Einem,
untrennbar für dich und begreifbar von keinem!

Oben ist es ohne Licht,
und unten nicht in Dunkelheit.
Entgegengehend hat es kein Gesicht,
kein Rücken folgt in Offenheit.
Beschreiben und kennen lässt es sich nicht –
verschwindend in Nichtwesenheit.

Würden die Menschen den alten Weg gehen,
wären sie Herren über die Zeit.
Und bist du für den Weg bereit –
dann wirst du den Weg des Tao sehen !

Tao Te King 15

Wie Magier waren die alten Meister,
geheimnisvoll auf all ihren Reisen.
Niemand konnte ihr Handeln erkennen
und niemand ihre Ziele nennen.

Wie Soldaten die einen Fluß durchschreiten,
waren sie zögernd und umsichtig.
Wie jemand der um Gefahren weiß,
waren sie wachsam und vorsichtig,
Nachgiebig waren sie wie schmelzendes Eis.
Höflich und absolut undurchsichtig.
Und offen wie der Täler Weiten.

Sie wussten das Trübe in Ruhe zu wandeln –
vermagst du das auch, dann vermagst du zu handeln.
Kannst du so die Klarheit sehen,
dann wirst du das Tao der Alten verstehen!

Tao Te King 16

Der Weise regiert ohne das es ihm nützt –
ganz auf Stille und Frieden gestützt.
Er betrachtet der Zeiten Kommen und Gehen.
Er kann die Dinge wachsen sehen.
Und da er dies sieht, so hat er verstanden:
nur durch die Wurzeln ist Nahrung vorhanden.
Der Rückkehr zur Wurzel kann sich kein Ding erwehren –
dort muss es wachsen und blühen und wiederkehren.

Jedes Ding muss seine Wurzeln haben –
doch findest du sie nicht durch graben.
Unsichtbar wirken die Fasern nur –
dies stille Nähren ist das Prinzip der Natur.

Erkenne das Chang – das Prinzip des Nährens:
und dein Begreifen wird ewig währen.
Doch weißt du das Chang nicht zu begreifen,
werden Unheil und Leid im Inneren reifen.

Der Weise vergisst dies zu keiner Zeit.
Und herrscht darum mit Gerechtigkeit.
Doch jeder kann diese Wahrheit verstehen,
und so den Weg des Himmels gehen.
Und wirst du diesen Weg beschreiten,
wirst du als weiser Mann betrachtet.

Das Leben kann dem Schmerzen bereiten,
der den Weg des Taos nicht achtet.
Doch folgst du ihm, dann wird es dir nützen
das Tao wird dich für immer beschützen !

Tao Te King 17

Der weiseste Herrscher lässt in all seinen Werken
niemanden seine Handlungen merken.
Niedriger wird ein Herrscher betrachtet,
den das Volk liebt und den es achtet.
Noch niedriger steht jener Mann,
der nur durch Angst und Gewalt herrschen kann.
Doch auf der untersten Stufe steht der,
der lügt – denn niemand achtet ihn mehr.

Der weise Herrscher ist ein schweigender Mann.
Er legt seinem Volk keine Fesseln an.
So leben die Menschen zufrieden und sehen,
das alle Dinge von selber geschehen!

Tao Te King 18

Gibt es unter Verwandten Streit,
verkommt die Beziehung zu Förmlichkeit.
Und ist ein Land für loyale Beamte bekannt,
dann herrschen oft Lüge und Missgunst im Land.

Wenn die Menschen vom Weg des Tao abweichen,
wollen sie zwanghaft die Güte erreichen.
Sie versuchen auch oft diesen Verlust,
durch Klugheit und Wissen zu überspielen.
Doch was du als Weiser erkennen musst:
Dies führt nur zur Lüge – zum Leiden von Vielen.

Tao Te King 19

Könnte der Weise von seiner Weisheit ablassen:
hundertfach wäre der Gewinn der Massen!
Und vergäße der Weise die Sittlichkeit:
das Volk wäre dann für Harmonie bereit!
Und verzichtet der Weise auf Gewinn und Streben,
wird es auch keinen Diebstahl mehr geben!

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Kommentare (24)

  1. #1 baba
    25. Juni 2015

    Das ist mal eine Überraschung! Ich habe mich im Rahmen meiner Diplomarbeit (Musik) viel mit Taoismus beschäftigt und hätte nicht erwartet, hier im Blog eine Übersetzung des Tao Te King zu finden. Ich finde die gereimte Version sehr gut gelungen! Man merkt, dass Du Dich mit den Versen echt befasst hast. Ich bin auch kein Taoist, aber Du hast recht: Die Gedichte regen wirklich zum Nachdenken an.
    Danke für diesen schönen Einstieg in den Tag und überhaupt mal ein RIESEN Dankeschön für Deine Arbeit!! Ich habe extrem viel von Deinen Texte und den Sternengeschichten gelernt und habe nach wie vor fast täglich Aha-Erlebnisse dadurch 🙂
    Ich kann nur sagen: Erhol Dich gut und dann – WEITER SO 🙂 !!

  2. #2 Florian Freistetter
    25. Juni 2015

    @baba: “eine Übersetzung des Tao Te King zu finden”

    Wie gesagt – es ist eher eine “Übersetzung”. Denn das Original hab ich ja nie gelesen (bzw. schon, ich hab auch ne Fassung des Originaltextes zuhause – aber verstanden hab ich halt nix 😉 )

  3. #3 Crazee
    25. Juni 2015

    Coole Sache das. Da werde ich ein wenig für brauchen.

    Wenn ich mal wieder so viel Zeit hätte wie in Studententagen…

  4. #4 Kyllyeti
    25. Juni 2015

    Es ist halt oft so mit schwierigen Sachen
    die dem Verständis Probleme machen
    Du kannst es probieren,
    sie mit Wortkunst neu zu formulieren
    und am Ende kannst du dir einen Reim darauf machen.

    (Losung eines unbekannten alten deutschen Meisters irischer Abstammung)

  5. #5 Braunschweiger
    25. Juni 2015

    @Kyllyeti: Ahh, frisch hergestellte “alte” Chinesische Sprichworte…

    Vielleicht sollten wir solche Reimweisheiten mal sammeln. Vielleicht sogar in einem Extra-Artikel. Ein gewisses Niveau sollte allerdings gewahrt bleiben.
    Ich hätte da einen älteren Beitrag, der von Wilhelm Busch genauso gut wie von Erich Kästner stammen könnte, vielleicht auch von einem früheren “Leserbriefschreiber” an passender Stelle:

    Witz mit Geist ist sehr beliebt,
    da es ihn recht selten gibt.

  6. #6 bikerdet
    25. Juni 2015

    Es war früher üblich Geschichten in Versform vorzutragen. So merkt es sich der Vortragende leichter und die Zuhörer ebenfalls. Bei einer rein mündlichen Überlieferung wird so relativ zuverlässig verhindert, das Texte VERSEHENDLICH falsch weitergegeben werden. Gegen eine absichtliche Verfälschung hilft das nicht, solange der Reim komplett angepasst wird.
    Auch heute noch sind alle unsere ‘Eselsbrücken’ in Reimform, man lernt sie so einfach schneller.

  7. #7 Florian Freistetter
    25. Juni 2015

    Also wenn ich hier mal die ersten Zeilen des Originaltextes kopiere, dann scheinen da schon irgendwelche Reime drin zu sein. Zumindest sind die jeweils letzten Symbole immer gleich (ist aber im Rest des Textes nicht durchgehend so):

    道可道,
    非常道。
    名可名,
    非常名

    (von hier: https://ctext.org/dao-de-jing)

  8. #8 rolak
    25. Juni 2015

    die ersten Zeilen

    Da haste aber gerade noch rechtzeitig aufgehört, Florian, beim dritten Zeilenpaar paßt es nicht mehr. Zeichen 1, 3 und 6 sind übrigens, wie am Anfang des Textes nicht anders zu erwarten, das Zeichen für ‘Dao’.

    Hättest auch ganz lässig eine FortsetzungsPublikation starten können, bummelig bis Mitte Juli wärst Du ganz unauffällig gekommen 😉

  9. #9 LasurCyan
    25. Juni 2015

    Das ist ja fast musikalisch strukturiert^^

    ABA
    CDA
    EBE
    CDE

  10. #10 rolak
    25. Juni 2015

    musikalisch strukturiert

    Das ist im Chinesischen durchaus eingebaut, LasurCyan, deswegen könnte ich mir (im Gegensatz zu sonst) es als Hörbuch sehr unterhaltsam vorstellen (nein, Chinesisch beherrsche ich nicht, nicht einmal ansatzweise).

  11. #11 Dampier
    25. Juni 2015

    Geil. Ich habe mir vor Jahren mal eine Sammlung von Tao Te King-Übersetzungen angelegt (<– immer noch meine Lieblingsschreibweise). Da kommt diese natürlich auch rein. Das muss ich nochmal in Ruhe lesen und mit den anderen Texten vergleichen :]

    Eine Übersetzung kann es gar nicht geben, es werden immer nur Interpretationen sein. Ich fand es ungeheuer faszinierend und es regt wirklich zu Diskussionen an. Eine Zeitlang hab ich es auch als Schriftrolle verschenkt.

  12. #12 Dampier
    25. Juni 2015

    Hier ein freies Audio-Book. Ziemlich abgefahren vorgelesen.

    https://librivox.org/daodejing-by-laozi/

  13. #13 PDP10
    26. Juni 2015

    Ich habe ja mal so meine eigene Erfahrung mit Übersetzungen aus dem Chinesischen gemacht – nicht als Übersetzer, versteht sich (ich kann kein bischen Chinesisch), sondern als Käufer.

    Ich hatte vor einigen Jahren versucht eine möglichst “amtliche” Übersetzung von Sun Tsu’s “Kunst des Krieges” zu finden ..

    Und musste lernen, dass die gefühlten 372tausend deutschen Ausgaben praktisch alle aus dem englischen oder französischen übersetzt waren … äh, ja super. Stille Post.

    Letztlich habe ich genau eine gefunden, die tatsächlich vom chinesischen direkt ins deutsche Übersetzt war …

  14. #14 rolak
    26. Juni 2015

    Letztlich .. genau eine

    Boah wie gemein, PDP10: Welche?

  15. #15 rolak
    26. Juni 2015

    öhm, das war ein wenig flott… Mittlerweile (=gestern schon) fand sich auch eine Lesung in Mandarin, nicht in BambusSchachteln, sondern in Tuben.

    Und eine schräge Animation, von der ich allerdings wegen der bereits erwähnten Sprachfertigkeit überhaupt nicht sagen kann, was genau es ist.

  16. #16 Giannozzo
    26. Juni 2015

    rolak, das Youtube-Video ist eine Einführung in den Laozi, gezeichnet von Tsai Chih-chung. Das Buch dazu gibt es sogar auf deutsch:
    https://www.amazon.de/Das-Tao-King-Laotse-interpretiert/dp/3981114825/ref=sr_1_1?s=books&ie=UTF8&qid=1435310131&sr=1-1&keywords=tsai+chih+chung
    Das Daodejing ist im Original übrigens tatsächlich nicht durchgehend gereimt, sondern nur abschnittsweise – soweit sich das heute feststellen lässt. Denn die Zeichen wurden vor 2.500 Jahren natürlich ganz anders ausgesprochen als heute, und die phonetische Rekonstruktion ist eine Wissenschaft für sich.
    Schließlich, eine gute Übersicht über deutsche DDJ-Ausgaben gibt es hier:
    https://www.das-klassische-china.de/Tao/Ubersicht%20der%20versch%20Ausgaben/index.htm

  17. #17 rolak
    26. Juni 2015

    Schönen Dank für die MetaInformation, Giannozzo, statt FleißKärtchen gabs eine Verlinkung des Kommentars zur Ergänzung der hiesigen MetaDaten 😉

    phonetische Rekonstruktion

    Das wäre ja auch zu einfach, wenn es für jede Sprache solch gut erhaltene AusspracheLehrsysteme gäbe wie für Latein.

  18. #18 PDP10
    26. Juni 2015

    @rolak:

    “Boah wie gemein, PDP10: Welche?”

    Äh, tschuldigung … 🙂

    Jene:

    https://www.amazon.de/%C3%9Cber-die-Kriegskunst-Sun-Zi/dp/7119044869/ref=sr_1_1?ie=UTF8&qid=1435346812&sr=8-1&keywords=sun+zi+%C3%BCber+die+kriegskunst

    Leider “derzeit nicht verfügbar”. Aber vielleicht lässt die sich irgendwo gebraucht / antiquarisch auftreiben.

  19. #19 rolak
    26. Juni 2015

    nicht verfügbar

    Und auch auf die Schnelle nicht auffindbar, PDP10, doch Danhe!, so kann es immerhin schon mal auf die Suchliste…

  20. #20 Johannes
    1. Juli 2015

    Hier noch eine extreme Kurzfassung 😉 https://weirdoverse.com/weird-comix/tao-raw/

  21. #21 aam
    4. Januar 2016

    Pierre Martin: Dao-De-Ging (Tao-Te-King): Die Gnosis im Alten China

    https://laotse-dao-de-ching.blogspot.com/2007/11/daodejing-tao-te-ching-spruchkapitel-1.html

  22. […] zeitversetzte, Übersetzung des Textes, wie des Dao selbst, immer nur ein Kompromiss ist, der Mehrdeutigkeit möglichst eindeutig zu vermitteln versucht. Gesamtbewusstsein ist auch so ein Begriff, wie das […]

  23. #23 Aleksandar
    31. März 2017

    Wow!Ich bin ihnen sehr dankbar für diese Übersetzung.Das kann ich sehr gut verstehen.Und es war bestimmt sehr viel Arbeit für Sie,aber Sie haben es geschafft und zwar alles so perfekt gemacht!.Und Sie zeigen es kostenlos.Ich bin Ihnen sehr dankbar und bin positiv überrascht,dass es solche Menschen wie Sie gibt.

  24. #24 Michael Hammes
    Bad Homburg
    1. November 2019

    Also, die Übersetzung von Richard Wilhelm ist mehr als in die Jahre gekommen und sicher kein Standard mehr. Mit den vielen nachempfundenen Übertragungen ist es so eine Sache: irgendwann besagen sie mehr über den Verfasser als über Laozi und das Daodejing. Der chinesische Text ist zu tiefgründig, als dass man ihn in der Zielsprache auch noch in Reime fassen könnte, selbst wenn das im Originaltext so vorkommt. Dort gibt es zum Teil Reime aber auch häufig parallelen Satzbau, was in der Poesie ebenfalls genutzt wird. Nicht alle Aspekte kann man sinnvoll in der Zielsprache unterbringen.