“Wie soll man beispielsweise etwas Sinnvolles über Joyce und den stream of consciousness oder die Form der Inversion in Hölderlins Dichtungstheorie schriftlich an das Publikum adressieren – in Blocksatz ohne Silbentrennung?”
Ja, wie nur, verdammt noch mal! All die tausenden Menschen da draußen, die verwirrt vor den großen Bücherstapeln mit den Unmengen von Texten über die Form der Inversion in Hölderlins Dichtungstheorie stehen und kein Wort kapieren, weil der unfähige Autor sie in Blocksatz ohne Silbentrennung geschrieben hat, können einem wirklich leid tun! Und wie oft habe ich schon probiert, etwas Sinnvolles über Joyce und den stream of consciousness zu vermitteln und dabei nicht bemerkt, dass nur deswegen niemand etwas verstanden hat, weil ich Vollidiot die falsche Blocksatzvariante verwendet habe!
Ernsthaft: Es mag ja sein, das in den hohen Sphären der Literaturwissenschaft und Textkritik tatsächlich ein akademisches Interesse daran besteht, nicht nur seriöse Inhalte zu produzieren sondern einen Teil des Inhalts auch über dessen Form zu kommunizieren. Und ohne Zweifel gibt es anderswo Bücher, deren Wert nicht nur aus dem Inhalt allein besteht. Große Bildbände (Übrigens: Die Verwendung von Farbfotos findet Reuß auch schrecklich; nur schwarz-weiß ist seriös) machen sich auf einem Ebook-Reader natürlich nicht so gut. Und viele bibliografische Kostbarkeiten sind nur ob ihrer Gegenständlichkeit kostbar und nicht wegen des Inhalts. Manchmal liegt der Wert eines Buchs in den Anmerkungen früherer Besitzer (wie zum Beispiel in diesem Fall).
Aber bei all der Liebe für das Buch scheint Reuß einen ganz wesentlichen Punkt zu vergessen: Ein Buch ist mehr als ein Gegenstand. Viel mehr. Das hat der große Astronom und Wissensvermittler Carl Sagan so gut gesagt wie kein anderer:
“Über die Jahrtausende hinweg spricht ein Autor leise aber klar direkt in deinem Kopf. Das Schreiben ist vielleicht die größte aller menschlichen Erfindung und verbindet Menschen, die einander nie kennen gelernt haben; Bürger verschiedener Epochen. Bücher brechen die Fesseln der Zeit. Bücher sind der Beweis, das Menschen imstande sind, Magie zu entfalten.”
Bücher sind vor allem dazu da, Geschichten zu erzählen. Und damit sind nicht Romane und andere Belletristik gemeint. Sachbücher erzählen genau so Geschichten wie wissenschaftliche Aufsätze, Lyrik oder Comics. Ich hab das vor ein paar Monaten schon mal betont: Wer Bücher liest, lernt die gesamte Welt kennen! Die Zukunft und die Vergangenheit, die Heimat und die Fremde, die Welt draußen vor der Tür und die Welt in den Köpfen anderer Menschen. Ja, die äußere Form eines Textes kann durchaus dazu beitragen, das Verständnis zu fördern oder zu behindern. Aber im Allgemeinen ist das Buch ein Medium, das die Geschichte vom Kopf eines Menschen in den Kopf eines anderen Menschen transportiert. Und das funktioniert mit einem gedruckten Buch genau so wie mit einem elektronischen Text. Es funktioniert mit einem Hörbuch auf CD genau so wie bei der vorgelesenen Gute-Nacht-Geschichte für Kind (das überhaupt kein physisches Medium braucht, um von einer Geschichte gefesselt zu werden). Den Wert der Geschichten in den Büchern zu ignorieren und stattdessen rein auf der äußeren Form zu beharren, ist keine Buchliebhaberei mehr, sondern reiner Fetischismus!
Aber natürlich hält Reuß auch das, was ich gerade gesagt habe, für großen Unsinn:
“Das allgegenwärtige content-Gerede und in seinem Gefolge oder als Parallelaktion (man weiß es gar nicht) die Verlotterung in der Behandlung von Schrift tritt dagegen nicht nur 2500 Jahre ästhetischer Reflexion mit Füßen. Mit seinem Implikat, es käme bei Zu-Lesendem auf die spezifische Form nicht an; mit der naiv zu nennenden Vorstellung, irgendwo auf der Welt läge unformierter ‘Inhalt’ einfach so vor, verrät es nur, daß es geistigen Gehalt so geringschätzt, daß es ihm nicht einmal mehr eine angemessene Inkarnation zu wünschen vermag. Im Kierkgaardschen Sinn ist diese ganze Art zu denken (wenn man diese Verweigerung, die Tradition des Nachdenkens über das Verhältnis von Materie und Form überhaupt nur zur Kenntnis zu nehmen, noch so nennen kann) Ausdruck tiefer Verzweiflung.”
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