Die angebliche Entdeckung eines neuen Planeten im äußeren Sonnensystem hat in den letzten Tagen für viel Aufsehen gesorgt. Dabei sind die Menschen schon seit mehr als 200 Jahren damit beschäftigt, neue Planeten im äußeren Sonnensystem zu vermuten, zu suchen und auch zu finden. In einer kurzen vierteiligen Artikel-Serie möchte ich diese lange Geschichte ein wenig ausführlicher darstellen um am Ende die aktuellen Ergebnisse vernünftig darstellen und einordnen zu können.
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Die Suche nach Planeten im äußeren Sonnensystem ist schon seit mehr als 200 Jahren im Gange. Während man im 19. und 20. Jahrhundert tatsächlich neue Himmelskörper fand, war der Beginn des 21. Jahrhunderts eher von Konfusion geprägt. Wie ich im letzten Teil der Serie erzählt habe, stellte man einerseits fest, dass es eigentlich keinen Grund mehr gab, nach “Planet X” zu suchen, andererseits in den äußersten Regionen des Sonnensystems doch mehr los zu sein schien, als man ursprünglich dachte. Und im Laufe der Zeit verdichteten sich auch die Hinweise, dass man dort unter Umständen vielleicht doch noch einen Planeten finden könnte!
Im 19. Jahrhundert war die Beobachtung des Planeten Uranus der Ausgangspunkt für die Suche nach einem “Planet X”. Seine Bahn zeigte Auffälligkeiten, die man durch die gravitativen Störungen eines noch unentdeckten Planeten erklärte. Dieser Planet wurde dann auch tatsächlich entdeckt und ist seitdem als “Neptun” bekannt. Weitere Anomalien, anhand der man die Existenz weiterer unbeobachteter Himmelskörper postulieren hätte können, gab es allerdings nicht. Alles was entdeckt worden war, verhielt sich im wesentlichen so, wie es sollte. Erst als um die Jahrtausendwende immer mehr neue Asteroiden im Kuipergürtel hinter der Neptunbahn gefunden wurden, änderte sich die Lage. Und es gab ein weiteres Mal Hinweise auf einen “Planet X”.
Vor den Asteroiden waren aber die Kometen an der Reihe! Ihr Verhalten ließ einige Astronomen schon länger vermuten, dass es fern der Sonne noch viel mehr geben könnte, als wir bisher beobachtet hatten.
(Kurzer Einschub: In der Wissenschaft passiert selten etwas aus dem Nichts heraus; neue Erkenntnisse gewinnt man nur in Ausnahmefällen von heute auf morgen. So ist es auch bei der Suche nach Planet X. Wenn man die Fachliteratur durchsieht, findet man eine Vielzahl von Arbeiten, die anhand von Kometen über weitere Planeten im äußeren Sonnensystem spekulieren und teilweise bis in die 1990er Jahre oder noch weiter zurückreichen. Auch rein theoretische Überlegungen zur Planetenentstehung enthalten oft Vermutungen über weitere Planeten. Einen kompletten historischen Überblick über all diese Arbeiten zu geben liegt außerhalb der Möglichkeiten meiner Artikel-Serie; ich habe mich daher im folgenden auf einige der aktuelleren Arbeiten konzentriert, die seit 2010 erschienen sind.)
Asteroiden hinter der Bahn des Neptun kennt man erst seit 1992 (oder 1930, wenn man Pluto inkludiert). Kometen dagegen schon viel länger. Sie wurden beobachtet, sobald Menschen in der Lage waren, zum Himmel zu schauen und zu verstehen, was dort vor sich geht. Neben den sogenannten kurzperiodischen Kometen, die Teil des “normalen” Bereichs des Sonnensystems sind und nicht länger als 200 Jahren für einen Umlauf brauchen, gibt es auch die langperiodischen Kometen. Die sehen wir meist nur einmal: Sie brauchen Jahrtausende oder Jahrzehntausende für eine Runde um die Sonne. Sie waren es auch, die uns auf die Existenz der Oortschen Wolke hingewiesen haben, das Reservoir aus dem all die fernen Besucher kommen müssen. Und sie sind es, die uns einen kleinen Blick auf das ermöglichen könnten, was dort vor sich geht.
Man geht davon aus, dass die Oortsche Wolke eine kugel(schalen)förmige Region ist, die das Sonnensystem umgibt. Die Objekte die sich dort befinden sollen in der chaotischen Frühzeit unseres Systems dort hinaus geschleudert worden sein und sich deswegen eben auch überall rund um die Sonne herum angesammelt haben. Wenn nun Brocken aus Fels und Eis von dort ab und zu zurück in Richtung des inneren Sonnensystems gelangen, dann erwarten wir daher auch, dass sie das aus allen Richtungen tun. Und im Prinzip beobachtet man das auch (ansonsten wäre man damals ja gar nicht erst auf die Idee gekommen, dass es die Oortsche Wolke gibt).
Je mehr Kometen im Laufe der Zeit aber entdeckt wurden, desto interessanter wurde die Sache. Eine genaue Analyse der Bahnen langperiodischer Kometen lies vermuten, dass sie eben nicht gleichmäßig aus allen Richtungen kommen. Eine bestimmte Gruppe von Kometen hatte ungewöhnliche Bahnen; die kleiner waren und deren sonnennächste Punkte viel weiter weg lagen als erwartet. Eine Erklärung für dieses Verhalten könnte der Einfluss der galaktischen Gezeiten sein (die im Prinzip so funktionieren wie die auf der Erde vom Mond ausgelösten Gezeiten, nur das diesmal eben die Gravitation aller Sterne der Milchstraße dafür verantwortlich ist). Aber das scheint nicht zu reichen!
Im April 2010 haben die beiden amerikanischen Astronomen John Matese und Daniel Whitmire eine ausführliche Analyse dieser Kometenbahnen veröffentlicht (“Persistent Evidence of a Jovian Mass Solar Companion in the Oort Cloud”). Wenn man nur den Einfluss der bekannten Planeten und der galaktischen Gezeiten berücksichtigt, so ihre Modellrechungen, dann erhält man eine Verteilung von Kometenbahnen, die von der beobachteten Verteilung abweicht. Es braucht also noch zusätzliche Faktoren um erklären zu können, warum die beobachteten Kometen sich so verhalten wie sie es tun. Natürlich besteht auch immer die Möglichkeit, dass wir einfach noch zu wenig Kometen beobachtet haben und alles nur eine zufällige statistische Fluktuation ist. Es könnte aber auch sein, dass die Kometen durch einen Stern beeinflusst worden sind, der früher einmal in der Nähe der Oortschen Wolke vorüber gezogen ist.
Diese Hypothese ist gar nicht so weit hergeholt wie sie vielleicht klingt. Wir wissen, dass Sterne so gut wie nie allein entstehen sondern immer gemeinsam mit vielen anderen Sternen aus riesigen kosmischen Gaswolken. Das ist auch bei unserer Sonne so gewesen und es hat ein wenig gedauert, bis all ihre “Geschwister” sich entfernt haben. Einer dieser Sterne könnte für die Verteilung der Kometenbahnen verantwortlich gewesen sein und das ist auch einer der Gründe, der diese Art von Forschung für die Astronomen so interessant macht. Es geht nicht unbedingt nur darum, einen “Planet X” zu finden – sondern darum, mehr über die Vergangenheit unseres Sonnensystems und seine Entstehung zu erfahren.
Aber neben Zufall und störenden Geschwistersternen ist eben auch der Einfluss eines großen Planeten eine mögliche Erklärung für das Verhalten der Kometen. Matese und Whitmire kommen in ihrer Arbeit zu dem Schluss, dass so ein Planet, dem sie den Namen Tyche gegeben haben, ungefähr vier mal so schwer wie Jupiter sein muss und ungefähr 15.000 Mal weiter von der Sonne entfernt ist als die Erde.
Ein ganz schöner Brocken also, der da in den äußeren Bereichen des Sonnensystems seine Runden zieht! Oder besser gesagt: Ziemlich sicher nicht zieht. Denn mittlerweile haben Weltraumteleskope wie WISE den Himmel durchmustert. Jeder Planet, der so groß wie Jupiter oder größer ist, wäre dabei entdeckt worden wenn er nicht weiter als 26.000 Mal von der Sonne entfernt ist als die Erde. Wenn es Tyche gäbe, dann wäre er von WISE gefunden worden. Ein unbekannter Planet im äußeren Sonnensystem wird durch WISE zwar nicht ausgeschlossen – aber er muss entweder weiter weg sein oder aber viel kleiner.
Die Kometen konnten vorerst also nicht weiterhelfen. Aber dafür die Asteroiden! Von denen fand man immer mehr und im Jahr 2014 dann auch einen, der sich noch weiter entfernt befindet als der bisherige Rekordhalter Sedna. Der Asteroid 2012 VP113 und mit ihm eine kleine Gruppe neu entdeckter weiterer Asteroiden im Übergangsbereich zwischen Kuipergürtel und Oortscher Wolke zeigten nicht nur, dass man da draußen noch etwas finden konnte. So wie die Kometen verhielten auch sie sich nicht ganz so, wie es erwartet wurde.
Chad Trujillo und Scott Sheppard, die Entdecker von 2012 VP113, der selbst an seinem sonnennächsten Punkt noch 80 Mal weiter von ihr entfernt ist als die Erde, wiesen in ihrer Arbeit (“A Sedna-like body with a perihelion of 80 astronomical units” auf eine interessante Anomalie hin, die mit dem sogenannten “Argument des Perihels” zu tun hat.
Das ist eine der sechs Zahlen, mit der Astronomen die Bahn eines Himmelskörpers beschreiben. In diesem Fall der Winkel zwischen der Linie die den sonnennächsten Punkt der Bahn mit der Sonne selbst verbindet und der Linie, die die Sonne mit dem “aufsteigender Knoten” verbindet, also dem Schnittpunkt zwischen der Bahnebene des Asteroiden und der Bahnebene der Erde:
Oder anders und etwas einfacher gesagt: Die Bahnellipse eines Himmelskörpers kann irgendwie im Raum orientiert sein und die genaue Art der Orientierung muss durch drei Winkel angegeben werden; einen für jede Richtung im Raum. Das “Argument des Perihels” ist einer dieser Winkel (die “Inklination” und die “Länge des aufsteigenden Knotens” die anderen). Trujillo und Sheppard haben nun alle bekannten Asteroiden betrachtet, die immer mindestens 30 mal weiter von der Sonne entfernt sind als die Erde. Das Argument des Perihels ist bei all diesen Asteroiden unterschiedlich und deckt alle Werte zwischen 0 und 360 Grad ab. Eigentlich genau das, was zu erwarten wäre. Auf diese fernen Asteroiden wirken die Gravitationskräfte der Planeten im inneren Sonnensystem nicht mehr “gezielt”; sie spüren nur den kombinierten Einfluss aller Störungen und das führt dazu, dass ihre Bahnen sich aufgrund der Störung mit irgendwelchen zufälligen Geschwindigkeiten im Raum herum drehen. Was dann eben auch dazu führt, dass man heute alle möglichen Werte für den aktuellen Winkel der Orientierung der Bahn im Raum beobachtet.
Aber: Das galt nicht für die wirklich weit entfernten Asteroiden! Alle diejenigen, die mehr als 150 mal weiter von der Sonne entfernt waren als die Erde, zeigten Bahnen deren Argument des Perihels in der Nähe von 0 Grad lag. Gut, es waren insgesamt nur 13 Stück, aber der Befund war auffällig.
Trujillo und Sheppard schlugen als Erklärung die gezielte Störung dieser fernen Asteroiden durch einen noch unbekannten Planeten vor. Wenn der sich genau am richtigen Ort befindet, kann es zu Resonanzen kommen, d.h. bestimmte Bahnparameter wie eben das Argument des Perihels können sich nicht beliebig ändern sondern nur in Einklang mit den Veränderungen des störenden Planeten selbst. Wenn Asteroiden in so einer Resonanz “gefangen” sind, dann könnte das die Auffälligkeiten in ihren Bahnen erklären. Laut Trujillo und Sheppard bräuchte man dafür einen Planeten der etwas größer als die Erde ist und ungefähr 250 Mal weiter von der Sonne entfernt als unser Planet. Wirklich exakt konnten sie es aber nicht eingrenzen – und es gab durchaus auch andere Möglichkeiten um das Verhalten der Asteroiden zu erklären.
Lucie Jílková von der Universtät Leiden und ihre Kollegen schlugen im März 2015 eine faszinierende
Alternative vor (“How Sedna and family were captured in a close encounter with a solar sibling”). Auch sie gehen davon aus, dass die Sonne in der Zeit nach ihrer Entstehung einige nahe Begegnungen mit Geschwistersternen hatte. Mit ausführlichen Computersimulationen zeigten sie, dass dabei Asteroiden aus den äußeren Asteroidengürteln des vorbeiziehenden Sterns von der Sonne eingefangen werden können (und die Sonne auch Asteroiden an den anderen Stern verlieren kann). Dabei können genau solche Gruppen von Asteroiden mit seltsamen Eigenschaften entstehen, wie Trujillo und Sheppard sie beobachtet haben.
Die Sache mit “Planet X” bliebt weiterhin unklar. Eine neue Analyse der Daten von Trujillo und Sheppard (“Extreme trans-Neptunian objects and the Kozai mechanism: signalling the presence of trans-Plutonian planets”) zeigte, dass die Sache mit dem Argument des Perihels aller Wahrscheinlichkeit nach kein zufälliger Effekt ist, der sich auf die geringe Zahl der beobachteten Objekte zurück führen lässt. Sie zeigte aber auch, dass vermutlich nicht nur ein Planet sondern sogar zwei unbekannte Himmelskörper nötig sind, um die Beobachtungen zu erklären (Ich habe damals hier ausführlich über diese Arbeit geschrieben).
Also zwei Planeten? Oder vielleicht doch gar keiner? Eine Arbeit aus dem September 2015 (“A new inclination instability reshapes Keplerian disks into cones: application to the outer Solar System”) erklärte die Auffälligkeiten der fernen Asteroiden ganz ohne zusätzliche Planeten sondern mit einer “inclination instability”; also einer Phase, bei der sich – vereinfacht gesagt – alle vorhandenen Himmelskörper gegenseitig so sehr stören, dass es zu großräumigen Veränderungen in den Umlaufbahnen kommt. So etwas könnte in der Frühzeit des Sonnensystems im Kuipergürtel stattgefunden und die beobachteten Anomalien erzeugt haben, wie in der entsprechenden Arbeit demonstriert wird.
Auch in der Gegenwart ist die Sache mit “Planet X” also ziemlich verwirrend. Wenn es da draußen irgendwo einen wirklich großen Himmelskörper gäbe, hätten unsere Weltraumteleskope ihn schon längst gefunden. Wenn es noch unbekannte Planeten gibt, müssen sie entweder, enorm weit weg (und damit so gut wie gar nicht zu finden) sein oder aber kleiner und in der Größe vergleichbar mit der Erde. Die Hinweise, die wir von Kometen und Asteroiden auf die Existenz eines unbekannten Planeten haben, sind vielversprechend aber auch leider nicht eindeutig. Und vor allem nicht zwingend; es gibt noch genug andere Möglichkeiten, die Beobachtungen ohne Rückgriff auf unbekannte Planeten zu erklären.
Aber die Astronomen lassen sich nicht aufhalten! Wir wollen Bescheid wissen, was in unserem Sonnensystem abgeht! Wenn da noch Planeten sind, wollen wir sie finden und wenn nicht, wollen wir das ebenfalls wissen. In der nächsten und letzten Folge dieser Mini-Serie werde ich daher von den aktuellen Entwicklungen bei der Suche nach Planet X erzählen und von den Möglichkeiten, das Ding zu finden, falls es irgendwo da draußen sein sollte!
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