Das ist die Transkription einer Folge meines Sternengeschichten-Podcasts. Die Folge gibt es auch als MP3-Download und YouTube-Video.
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Sternengeschichten Folge 274: Der Gravitationslinseneffekt
Im Jahr 1804 hat der deutsche Mathematiker Johann Georg von Soldner einen Artikel veröffentlicht. Der trug den Titel “Ueber die Ablenkung eines Lichtstrals von seiner geradlinigen Bewegung, durch die Attraktion eines Weltkörpers, an welchem er nahe vorbei geht”. Der aus dem mittelfränkischen Feuchtwangen stammende Wissenschaftler hatte darin eine auf den ersten Blick seltsame Idee betrachtet: Lichtstrahlen verändern ihre Richtung, wenn sie in der Nähe einer großen Masse vorbei kommen.
Wie soll das gehen? Heute wissen wir ja, das Lichtteilchen keine Masse haben und damit auch nichts, wodurch sie von der Gravitationskraft eines Sternes oder eines Planeten beeinflusst werden können. Aber das stimmt so nicht. Zumindest nicht exakt. Licht hat keine “Ruhemasse” – das bedeutet, dass die Masse von Lichtteilchen gleich Null ist, solange Licht sich nicht bewegt. Licht bewegt sich aber IMMER und zwar immer mit der schnellstmöglichen Geschwindigkeit, nämlich der Lichtgeschwindigkeit. Diese Bewegung entspricht einer gewissen Energie. Und wenn Licht eine Energie hat, dann entspricht diese Energie auch einer gewissen Masse. Nichts anderes sagt Albert Einsteins berühmte Gleichung E=mc².
Von Einstein wusste Johann Georg von Soldner Anfang des 19. Jahrhunderts natürlich noch nichts. Die Frage nach der Ablenkung von Lichtstrahlen machte aber trotzdem Sinn. Denn immerhin gab es ja schon die Arbeit von Isaac Newton und sein Gravitationsgesetz. Und auch mit dem konnte man berechnen, wie die Masse etwa eines Sterns einen Lichtstrahl anziehen und ablenken würde.
Genau das hat von Soldner getan und er kam zu dem Ergebnis, das Licht, das von fernen Sternen direkt an der Sonne vorbei strahlen würde, durch deren Masse um einen Winkel von 0,02 Grad abgelenkt wird. In seiner Arbeit schrieb er damals:
“Wenn man Fixsterne sehr nahe an der Sonne beobachten könnte, so würde man wohl darauf Rücksicht nehmen müssen.”
Anders gesagt: Würde man die Position eines Sterns beobachten, der gerade in der Nähe der Sonne am Himmel zu sehen ist und dann ein zweites Mal, wenn die Sonne gerade nicht in der Nähe ist, müsste man einen Positionsunterschied von 0,02 Grad feststellen. Von Soldner hielt es damals aber für technisch nicht machbar, solche Sterne zu beobachten. Vor allem, weil das Licht der Sonne jeden Stern natürlich komplett überstrahlt.
Mehr als 100 Jahre nach Soldner veröffentlichte Albert Einstein die Arbeit, die wir heute als “Allgemeine Relativitätstheorie” kennen. Er stellte darin eine völlig neue Idee zur Gravitation vor. Jede Masse krümmt den Raum und Lichtstrahlen folgen dieser Krümmung. Wenn ein Lichtstrahl aus den Tiefen des Alls auf dem Weg zur Erde nun auf die Krümmung im Raum trifft, die von der Masse der Sonne verursacht wird, dann wird er dadurch abgelenkt. So wie Soldner sagte also auch Einstein voraus, dass sich die gemessene Position von Sternen verändern müsste, je nachdem ob sie gerade in der Nähe der Sonne oder weit von ihr entfernt am Himmel zu sehen sind. Der von ihm vorhergesagte Wert war allerdings doppelt so groß wie der aus der Arbeit von Soldner.
Mittlerweile war auch die Technik weiter fortgeschritten. Und passenderweise fand im Jahr 1919 eine totale Sonnenfinsternis statt, die die Möglichkeit bot, Einsteins Vorhersage zu überprüfen. Denn wenn die Sonne vom Mond verdunkelt wird, hat man für wenige Minuten die Chance, die Sterne in ihrer unmittelbaren Nähe am Himmel zu beobachten. Genau das tat der englische Astronom Arthur Eddington und stellte fest, dass die Verschiebung der Position exakt dem Wert entsprach, den Einstein vorhergesagt hatte. Seine neue Theorie der Gravitation hatte sich als korrekt herausgestellt, die auf Newtons Theorie basierende Vorhersage von Soldner war falsch.
Einstein erkannte aber auch noch etwas anderes. Wenn Massen Lichtstrahlen ablenken können, dann tun sie ja eigentlich genau das gleiche, was optische Elemente wie Linsen tun. In einer Brille oder etwa einem Teleskop benutzen wir Linsen aus Glas, um den Weg eines Lichtstrahls zu verändern. Eine Masse kann das aber ebenfalls tun und so als “Gravitationslinse” wirken. Und das hat seltsame Auswirkungen.
Stellen wir uns ein Objekt im Weltall mit einer großen Masse vor. Eine Galaxie zum Beispiel. Von uns aus gesehen genau hinter dieser Galaxie, also weiter entfernt, befindet sich eine andere Galaxie. Von uns aus gesehen verdeckt die vordere Galaxie also die hintere Galaxie und wir können sie nicht sehen. Wenn sich nun das Licht dieser Hintergrundgalaxie aber auf die Vordergrundgalaxie zu bewegt, wird es durch deren Masse abgelenkt. Es wird quasi um die Vordergrundgalaxie herum gebogen und wir können es sehen. Die Sache wird aber noch seltsamer: Das Licht kann nicht nur auf einem Weg um die Vordergrundgalaxie herum gebogen werden, sondern auf vielen Wegen. Von uns aus gesehen scheint ein Teil des Lichts der Hintergrundgalaxie also dann von “unten” zu kommen; ein Teil von “oben”; ein Teil von “links”; ein Teil von “rechts”, usw. Wir sehen also nicht nur ein Bild der Galaxie, sondern mehrere!
Im idealen Fall sehen wir keine Galaxie mehr, sondern ein ringförmiges Bild der Galaxie, das um die Vordergrundgalaxie angeordnet ist. So etwas nennt man “Einsteinring” und man kann so etwas tatsächlich am Himmel beobachten. Die Auswirkungen einer Gravitationslinse hatte man 1979 das erste Mal beobachtet. Die Briten Dennis Walsh und Robert Carswell und der Amerikaner Ray Weymann nutzen das 2,1-Meter-Teleskopes am Kitt-Peak-Nationalobservatorium in Arizona um Quasare zu beobachten. Das sind die hellen Zentren ferner Galaxien von denen ich in Folge 52 ausführlich erzählt habe. Sie fanden dabei einen seltsamen Zwillingsquasar (mit dem schönen Namen QSO 0957+561A und B). Sie sahen zwei Quasare, die sich überraschend ähnlich waren. Nicht nur standen sie am Himmel sehr dicht beieinander, auch eine Analyse ihres Lichts zeigte jede Menge Ähnlichkeit. Ihre Vermutung: Es handelt sich nicht um zwei unterschiedliche Quasare sondern um zwei Bilder des gleichen Quasars, die von einer Gravitationslinse erzeugt worden sind.
Diese Vermutung hat sich bestätigt und mittlerweile haben Astronomen jede Menge solcher Effekte entdeckt. Sie haben vor allem auch gelernt, den Gravitationslinseneffekt für ihre Arbeit zu nutzen. So wie die Linsen optischer Instrumente Dinge sichtbar machen, die anders nicht sichtbar wären, machen das auch die Gravitationslinsen. Sie “biegen” Licht in unsere Richtung, das uns ansonsten gar nicht erreicht hätte. Ferne Galaxie, die eigentlich viel zu schwach leuchten würden um von uns beobachtet zu werden, erscheinen durch Gravitationslinsen für uns viel heller und wir können sie sehen.
Der Gravitationslinseneffekt kann uns aber nicht nur etwas über die Objekte verraten, deren Licht von der Linse beeinflusst wird, sondern auch über die Linse selbst. Wir wissen ja schon seit bald 100 Jahren, dass es im Universum jede Menge dunkle Materie gibt. Materie also, die selbst nicht leuchtet und nicht mit Licht wechselwirkt. Materie aber, die eine Gravitationskraft ausübt und das macht ihre Untersuchung möglich. Wir sehen zum Beispiel, wie sich Sterne oder Galaxien unter dem gravitativen Einfluss dieser dunklen Materie bewegen. Wir sehen aber auch, wie die dunkle Materie als Gravitationslinse wirkt. Eine statistische Auswertung von Gravitationslinsenbildern erlaubt es uns, die Verteilung von dunkler Materie im Universum zu kartografieren.
Wir können mit dem Gravitationslinseneffekt sogar Planeten entdecken. Aber das ist ein Thema für die nächste Folge der Sternengeschichten.
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