In meinem 50tägigen Countdown zum 50. Jubiläum der Mondlandung gibt es heute einen Gastbeitrag von Rüdiger. Er hat eine sehr schöne Geschichte über ein technisches, aber sehr interessantes (und wichtiges!) Detail der Apollo-Mondflüge aufgeschrieben. Ich wünsch euch viel Spaß damit – und wenn ihr auch eine Geschichte über den Mond, die Mondlandung oder ein verwandtes Thema als Gastbeitrag erzählen wollt, dann schreibt mir doch einfach ne Mail (aber bitte bis 30. Juni).
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SCE to AUX Oder: Wie Apollo 12 beinahe nicht zum Mond geflogen wäre
Gastbeitrag von Rüdiger
An einem regnerischen Freitagnachmittag, dem 14. November 1969 um 16:22 Uhr Ortszeit startete die Apollo 12 Mission mit den Astronauten Charles “Pete” Conrad, Richard F. Gordon und Alan L. Bean mit einer Saturn V Rakete von der Startrampe 39A in Cape Canaveral.
Nach der geglückten Landung von Apollo 11 und den ersten Schritten auf dem Mond, sollte diese Mission im Oceanus Procellarum, dem Ozean der Stürme landen, in unmittelbarer Nähe der zwei Jahre zuvor dort gelandeten Sonde Surveyor 3. Dies war besonders spannend, weil man so die Gelegenheit hatte, zu untersuchen, wie sich ein längerer Aufenthalt auf dem Mond auf die Technik auswirkt.
Die Wetterbedingungen waren nicht ideal. Es regnete in Strömen und ein Gewitter zog über das Startgebiet. Der Start fand jedoch planmäßig statt. Die fünf mächtigen F1-Triebwerke der ersten Stufe brachten den Boden zum Erbeben und verbrannten ihre rund 60.000 bzw. 90.000 Liter an Kerosin und flüssigem Sauerstoff pro Minute. Eine unvorstellbare Leistung von 34.000 kN Schub wurden freigesetzt. Die mächtigen Haltearme, die die Saturn V bis jetzt an ihrem unteren Rand auf der mobilen Startplattform festgehalten haben, schwenkten nach oben, und während ein flammendes Inferno unter den Triebwerken sich den Weg durch den Flammengraben bahnte, erhob sich langsam und majestätisch die fast 3.000 Tonnen schwere Rakete, passierte den Launch Umbilical Tower und drehte sich planmäßig durch das für die Startphase vorgesehene Rollprogramm in die korrekte Position. Alles sah, trotz des schlechten Wetters, nach einem Bilderbuchstart aus.
Dann – genau 36,5 Sekunden nach dem Start – traf ein Blitz die startende Rakete. Der Abgasstrahl aus ionisiertem Gas fungierte wie ein Blitzableiter, an dem der Blitz entlang zum Boden wandern konnte. Sensoren in den Brennstoffzellen des Kommando-Service-Moduls, die für die Stromversorgung der Kommandokapsel zuständig waren, bemerkten eine Überladung und schalteten diese ab, was zum Ausfall eines Großteils der Cockpitinstrumente führte. Knapp 16 Sekunden später schlug ein weiterer Blitz in die Rakete ein. Diesmal fiel in der Kommandokapsel auch der sogenannte “Eight-Ball” aus, der Fluglageanzeiger. Zusätzlich wurde die Übermittlung der Telemetrie an Mission Control gestört, die Terminalbildschirme zeigten wirre Muster von blinkenden Zeichen an.
Pete Gordon blickte indessen an Bord der “Yankee Clipper” getauften Kommandokapsel auf einen, wie er ihn später bezeichnete, “beleuchteten Weihnachtsbaum” von Warn- und Alarmlichtern.
“I got three fuel cell lights, an AC bus light, a fuel cell disconnect, AC bus overload 1 and 2, Main Bus A and B out. We just lost the platform gang. I don’t know what happened here; we had everything in the world drop out.”, funkte er zu Gerald Carr, der als CAPCOM (Capsule Communicator) die Verbindung mit den Astronauten über Sprechfunk hielt.
Die Techniker in Mission Control hatten nicht die geringste Ahnung, was passiert war. Sie wussten nichts von dem Blitzschlag. Die Anzeigen auf ihren Bildschirmen waren ein einziger Kauderwelsch. John Aaron, ein Techniker in Mission Control, bezeichnete sie untertrieben als “non-sensical”.
Man stand also mit einem Problem da, das noch nie aufgetreten war, und von dem man noch nicht einmal genau wusste, was es war, geschweige denn, wo es herkam. Guter Rat war mehr als teuer.
Zumindest flog die Rakete immer noch auf Kurs. Die Steuerung, die sogenannte Instrument Unit für die anfängliche Flugphase bis in den Orbit, befand sich nämlich nicht in der Kommandokapsel, sondern in einem Ring zwischen der zweiten und dritten Stufe. Dort waren die Fluglagesensoren, Gyroskope, Beschleunigungssensoren und ein Flugkontrollcomputer, der von IBM für die NASA entwickelt worden war, untergebracht. Die Instrument Unit war von den restlichen Systemen komplett unabhängig und schien trotz des Blitzeinschlags noch brav ihren Dienst zu tun, was den Astronauten und Mission Control zumindest noch ein paar Minuten Zeit verschaffte, bis eine Entscheidung über einen Missionsabbruch getroffen werden musste.
In so einem Fall würde der sogenannte Launch Escape Tower an der Spitze der Rakete gezündet werden, und die Kommandokapsel mit den Astronauten in eine sichere Entfernung bringen. Dann würde die komplette restliche Rakete kontrolliert gesprengt werden, was man natürlich vermeiden wollte. Aber was nutzten noch so viele zusätzliche Minuten, wenn man keine Telemetriedaten hatte, aufgrund derer man das Problem hätte analysieren oder gar beheben können?
John Aaron war für die Telemetrietechnik eigentlich gar nicht zuständig. Sein Bereich waren die Brennstoffzellen, die Elektrik der Kapsel, der Kabinendruck und andere Systeme. Die Mitarbeiter in Mission Control, die Ingenieure und Techniker saßen in den “Gräben”, den Trenches, wie die Reihen von Kontrollpulten im sogenannten MOCR, dem Mission Operations Control Room genannt wurden. Dort wurden die unterschiedlichen Kontrollstationen mit Akronymen bezeichnet. FIDO, TELMU, GNC, RETRO… überhaupt war die NASA immer groß darin, alles mögliche mit coolen Abkürzungen zu versehen. Das hatte jedoch auch einen Sinn: Es ermöglicht eindeutige Namen, die möglichst kurz sind, da sie beispielsweise auch im Funkverkehr ständig verwendet werden, und hier kommt es auf kurze, präzise Bezeichnungen an. Wer sich einen typischen “Flight Director’s Loop” (zum Beispiel von einem Start) anhört, wird merken, wie außerordentlich effizient diese “NASA-Speech” sein kann.
Effizient war auch die Arbeitsweise und Problemlösungstaktik in Mission Control, aber ohne Daten half auch dies nicht. Wirre Zeichen flimmerten über die Mattscheibe der Terminals.
Gerry Griffin, der als Flight Controller die Hauptaufsicht über den Missionsablauf hat, musste bald eine Entscheidung treffen. Go oder No Go. Er wollte nicht unbedingt als der erste Flight Controller in die Geschichte eingehen, der einen Missionsabbruch mit Selbstzerstörung der größten, jemals gebauten Rakete befahl.
Aber keine der Stationen konnte in dieser Situation ein “Go” geben. Man tappte immer noch im Dunkeln.
Ein sinnfreies Muster blinkte dort, wo Daten über den Zustand der Systeme angezeigt werden sollten. John Aaron starrte auf dieses Muster. Er hatte es irgendwo schon einmal gesehen. Er dachte angestrengt nach. Es war vor über einem Jahr gewesen. Damals wurden die Systeme der Kommandokapsel während einer Testsequenz am Boden versehentlich mit nur einer Batterie hochgefahren. Die Elektronik, die die Signalspannung anpasst und die Daten der Telemetriesensoren aufbereitet, erhielt nicht genügend Strom und erzeugte quasi Datenmüll. Genau so einen Datenmüll, wie der, auf den er gerade blickte.
“Flight, try SCE to AUX!” – John Aaron sprach Gerry Griffin über seine Konsole hinweg an, der verdutzt zurück fragte: “SCE to AUX? What is that?”, aber dennoch Gerald Carr instruierte, die Anweisung an die Crew weiterzugeben. Er vertraute selbstverständlich auf die Expertise seiner Mitarbeiter, so auch auf die von John Aaron.
Carr gab die Anweisung weiter: “Apollo 12, Houston. Try SCE to auxiliary. Over.”
Pete Conrad an Bord der Yankee Clipper antwortete prompt: “FCE to auxiliary… What the hell is that?”
Gordon fiel im Hintergrund ein: “FCE? Fuel Cells?”
“NCE..?”, fragte Conrad zurück.
Gerald Carr korrigierte: “SCE, SCE to AUX. SCE to auxiliary!”
Alan Bean, der als Lunar Module Pilot (LMP) auf der rechten Seite der Kapsel saß, wusste was gemeint war. Er sah den Schalter direkt vor sich. Er betätigte ihn. SCE. Signal Conditoning Electronics. Die Elektronik zur Signalaufbereitung auf Hilfsstrom schalten.
Bingo.
Die Daten waren wieder da. Die Telemetrie funktionierte. Jetzt konnten die Mitarbeiter in Mission Control wieder etwas tun. Schnell war das Problem eingekreist: Die Brennstoffzellen waren ausgefallen – sicherheitshalber von den Bordsystemen abgeschaltet worden. Man musste sie nur resetten und neu starten, wollte aber warten, bis der Orbit sicher erreicht war.
Mittlerweile war auch die erste Stufe der Saturn V leergebrannt und abgetrennt worden. Die Instrument Unit spulte beharrlich ihr Programm ab. Für die Astronauten fühlte sich das Staging, das Abtrennen der Stufe, in etwa so an, als ginge man bei 300 Sachen voll in die Eisen, um ein paar Sekunden darauf von null auf 300 in einer Sekunde zu beschleunigen. “A hell of a ride”, wie mancher Astronaut es beschrieb.
All das lief jedoch perfekt nach Plan ab, die Instrument Unit hatte während all dieser aufregenden Minuten die Rakete auf Kurs gehalten und die Abtrennung der ersten Stufe veranlasst. Diese Unit der Saturn V basierte übrigens auf einem Versuchssystem, das Wernher von Braun und Konrad Dannenberg bereits über 20 Jahre zuvor in Peenemünde in ihrer A4 (Aggregat 4) getestet hatten; jener Rakete, die seinerzeit als “Vergeltungswaffe” V2 traurige Berühmtheit erlangte. IBM hatte diese weiterentwickelte Version für die NASA gebaut.
John Aaron, der durch eine Kombination aus Zufall, Wissen und Neugier, über den Tellerrand seiner Zuständigkeit hinaus über Systeme Bescheid zu wissen, genau im richtigen Moment die richtige Entscheidung treffen konnte und damit Apollo 12 vor einer Katastrophe bewahrt hat, wurde für diese Aktion mit dem Spitznamen “Steely-Eyed Missile Man” bedacht. Seitdem ist dies im NASA-Jargon ein feststehender Begriff für einen Ingenieur oder Astronauten, der schnell eine geniale Lösung für ein schwieriges Problem unter extremem Druck findet.
Aaron war übrigens auch bei der Beinahe-Katastrophe von Apollo 13 mit von entscheidender Bedeutung. Nachdem bei der Mission auf ungefähr halbem Weg zum Mond eine Explosion die Sauerstofftanks des Versorgungsmoduls zerstört hatte, war er es, der die einzig mögliche Vorgehensweise benannte: Die Kommandokapsel abzuschalten und die Mondlandefähre als Rettungsboot zu nutzen, obwohl man zu dem Zeitpunkt noch nicht wusste, ob man die Kapsel überhaupt jemals würde reaktivieren können. Dies nicht zu tun, hätte jedoch in einem sicheren Tod der Besatzung in den nächsten Stunden resultiert.
Und wer zufällig den Film “Der Marsianer” im Originalton schaut (oder das Buch liest), wird bemerken, dass in der Szene, wo die Besatzung der Hermes ohne Wissen der NASA ein Manöver zur Kursänderung vornimmt, die Kommandantin folgende Nachricht an Mission Control übermittelt:
“Houston, Be Advised: Rich Purnell is a Steely-Eyed Missile Man.”
Rich Purnell ist in der Geschichte ein Astrodynamiker, der in einer brenzligen Situation eine funktionierende Lösung für ein in dem Moment unmöglich scheinendes Problem findet. Durch sein komplexes “Purnell-Manöver” wird die Rettung von Mark Watney überhaupt möglich gemacht.
Es gibt aber auch noch andere “Steely-Eyed Missile Men”, auch wenn sie vielleicht offiziell nicht so genannt werden. Alle Mitarbeiter in Misson Control, jeder Flight Director, jeder Techniker und Ingenieur. All diese Menschen leisten eine großartige Arbeit. Die Pioniere in Mission Control haben diesen Job nicht nur erlernt, sondern auch von quasi Null an entwickelt. Als Alan Shepard als erster US-Amerikaner mit einer Mercury Redstone Rakete, einer umgebauten militärischen Langstreckenrakete zu seinem ersten Suborbitalflug aufbracht, waren die Arbeitsabläufe und Prozeduren noch in den Kinderschuhen. Die Technik war immer gerade so weit und so gut, dass sie das tat, wofür man sie brauchte. Man war ungeheuer kreativ, musste alles quasi neu erfinden. Hier war hauptsächlich Christopher Columbus Kraft (ja, er heißt wirklich so…) für verantwortlich. Er und Gene Kranz, der sowohl die Mondlandung als Flight Director begleitet hat, als auch bei Apollo 13 während der Rettungsaktion die Fäden in der Hand hatte, haben Mission Control maßgeblich mit aufgebaut und all die Prozeduren entwickelt, die dafür gesorgt haben, dass ein “SCE to AUX” im richtigen Moment eine ganze Mission, das Raumfahrtzeug und vor allem die Astronauten rettet.
Wer sich übrigens näher für die Geschichte und Technik von Mission Control interessiert, dem seien folgende Videos ans Herz gelegt:
• Failure Is Not An Option – A Flight Control History of NASA:
• Mission Control – The Unsung Heroes of Apollo
https://www.netflix.com/title/80175483
Zu den amerikanischen Weltraummissionen generell:
• When We Left Earth – The NASA Missions
Und hier zu der Technik, die speziell für das Mondprogramm entwickelt wurde:
• Moon Machines
Und wer die Landung multimedial nachverfolgen will, wird hier fündig. Die echten Audio-Loops, zusätzlich repräsentiert als Kurznachrichten im Twitter-Style, plus synchrone Videosequenzen. Sehr beeindruckend.
• First Men on the Moon
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Der komplette Countdown: 50 | 49 | 48 | 47 | 46 | 45 | 44 | 43 | 42 | 41 | 40 | 39 | 38 | 37 | 36 | 35 | 34 | 33 | 32 | 31 | 30 | 29 | 28 | 27 | 26 | 25 | 24 | 23 | 22 | 21 | 20 |19 | 18 | 17 | 16 | 15 | 14 | 13 | 12 | 11 | 10 | 09 | 08 | 07 | 06 | 05 | 04 | 03 | 02 | 01 | 0
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