Das ist die Transkription einer Folge meines Sternengeschichten-Podcasts. Die Folge gibt es auch als MP3-Download und YouTube-Video. Und den ganzen Podcast findet ihr auch bei Spotify.
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Sternengeschichten Folge 398: Nichteuklidische Geometrie und die Form des Universums
Heute geht es in den Sternengeschichten um nichteuklidische Geometrie. Und weil das etwas kompliziert und abschreckend klingt habe ich auch gleich im Titel dazu gesagt, warum das für die Astronomie relevant ist. Nämlich wenn man wissen will, welche Form das Universum hat. Das IST mit Sicherheit eine sehr spannende Frage und die nichteuklidische Geometrie ist übrigens auch ziemlich cool!
Bevor wir zur nichteuklidischen Geometrie kommen müssen wir aber zuerst mal über die euklidische Geometrie reden. Die heißt deswegen so weil sie der griechische Mathematiker Euklid von Alexandria im 3. Jahrhundert vor Christus erfunden hat. Beziehungsweise hat er sie sicherlich nicht im Alleingang gefunden. Sondern das aufgeschrieben, was damals über Geometrie bekannt war. Aber er hat es auf eine ganz besondere Weise aufgeschrieben. Er hat nicht nur das bestehende Wissen zusammengefasst und systematisiert. Sondern auch gezeigt, wie Wissenschaft eigentlich laufen muss. Sein berühmtes Werk “Die Elemente” war nicht einfach nur eine Auflistung von Dingen die man wusste oder glaubte zu wissen. Es ging Euklid darum, all dieses Wissen auch streng mathematisch zu beweisen. Also logisch einwandfrei aus bestehendem Wissen abzuleiten. Damit das funktioniert muss man sich aber erstmal auf etwas einigen, das zweifelsfrei richtig ist. Beziehungsweise so fundamental, dass man es nicht extra beweisen muss.
Euklids Buch – das übrigens auch heute noch erhältlich ist und seit seiner Entstehung 2000 Jahre lang als Lehrbuch benutzt wurde – ist nicht nur ein absoluter Klassiker. Sondern beginnt nach ein paar allgemeinen Definitionen darüber, was zum Beispiel ein Punkt oder eine Linie ist, mit fünf Postulaten. Das sind genau die Aussagen, die das Fundament des restlichen Buches bilden. Also das, was ohne Beweis von Anfang an festgelegt wird und aus dem der ganze Rest dann abgeleitet wird.
Im ersten Postulat behauptet Euklid dass man von jedem Punkt nach jedem Punkt eine Linie ziehen kann. Darauf kann man sich tatsächlich ohne großen Streit einigen; dass man eine Linie zwischen zwei Punkten ziehen kann muss man wohl nicht wirklich extra beweisen. Das zweite Postulat sagt, dass man eine begrenzte gerade Linie zusammenhängend gerade verlängern kann. Oder anders gesagt: Wenn ich eine kurze Linie zeichne, kann ich die kurze Linie auch einfach verlängern. Wird auch keinen großen Widerspruch hervorrufen, ebenso wie Postulat Nummer 3: Hat man einen Punkt und gibt einen Abstand von diesem Punkt vor, kann man einen Kreis zeichnen. Postulat Nummer 4 lautet: Ein rechter Winkel ist jedem anderen rechten Winkel gleich. Dass man keine zwei rechten Winkel haben kann, die nicht gleich sind wird wohl auch niemand bestreiten. Bei diesen ersten vier Postulaten ist alles mehr als klar. Niemand würde auf die Idee kommen, Euklid hier zu widersprechen. Das sind wirklich extrem fundamentale Aussagen über die Geometrie. Wenn man sich darauf nicht einigen und sie ohne Beweis als wahr ansehen kann, dann ist sowieso alles verloren. Bleibt noch Postulat Nummer 5. Darin fordert Euklid, “dass, wenn eine gerade Linie beim Schnitt mit zwei geraden Linien bewirkt, dass innen auf derselben Seite entstehende Winkel zusammen kleiner als zwei rechte Winkel werden, dann treffen sich die zwei geraden Linien bei Verlängerung ins Unendliche auf der Seite, auf der die Winkel liegen, die zusammen kleiner als zwei rechte sind”. Hu – das klingt auf einmal gar nicht mehr so simpel. Da muss man schon ein wenig nachdenken um überhaupt zu verstehen was gemeint ist. In einer kurzen Version meint Euklid hier: Hat man eine Linie die durch einen Punkt verläuft, und macht man dann noch einen Punkt irgendwo hin, der nicht auf der Linie liegt, dann kann man durch diesen zweiten Punkt zwar jede Menge unterschiedliche Linien ziehen. Aber nur eine einzige dieser Linien wird exakt parallel zur ursprünglichen Linie verlaufen. Ist immer noch ein wenig kompliziert. Wir können auch diese Version probieren: Zu jeder Linie kann man nur genau eine einzige parallele Linie zeichnen. Aller anderen Linien schneiden sich irgendwann immer.
Jetzt versteht man zwar was Euklid damit meint. Aber unbefriedigend ist das irgendwie immer noch. Zuerst vier so kurze, leicht verständliche und sehr offensichtlich richtige Postulate. Und dann dieses seltsame fünfte Postulat, dass alles andere als kurz, elegant und leicht verständlich ist. Und im Gegensatz zu den restlichen vier ist auch absolut nicht offensichtlich, dass es ohne Beweis als richtig vorausgesetzt werden kann. Es sieht irgendwie so aus, als hätte Euklid es nicht geschafft zu beweisen, dass die Sache mit den parallelen Linien aus den ersten vier Postulaten logisch abgeleitet werden kann. Und es deswegen einfach ohne Beweis als fünftes Postulat hinzugefügt. Das dachten im Laufe der Zeit auch jede Menge Mathematikerinnen und Mathematiker. Und versuchten dieses hässliche “Parallenpostulat” los zu werden. Aber alle scheiterten. Niemand war in der Lage nur mit den vier eleganten Postulaten zu beweisen, dass es zu jeder Linie nur genau eine parallele Linie gibt.
Es sah ganz so aus, als würde man dieses Parallelenpostulat halt brauchen, wenn man daraus all die Aussagen über die euklidische Geometrie beweisen wollte. Die euklidische Geometrie ist übrigens das, was normalerweise einfach nur “Geometrie” heißt und was wir alle in der Schule lernen. Also der ganze Kram mit den gleichschenkeligen, gleichseitigen, rechtwinkeligen Dreiecken, mit den Kreisen, Quadraten, und so weiter. Die Sache mit den Parallelen hat den Leuten aber keine Ruhe gelassen. Es war aber schlicht und einfach kein Weg zu finden, dieses Postulat aus den anderen abzuleiten und zu beweisen. Und irgendwann kam man auf die Idee zu schauen, was denn eigentlich so passiert, wenn man aufhört es zu versuchen und stattdessen einfach mal so tut, als wäre es falsch. Beziehungsweise war das nicht “man” und nicht irgendwann, sondern es war der große Mathematiker Carl Friedrich Gauß und es war im Jahr 1813. Unabhängig von Gauß hat das 1818 auch der Jurist und Mathematiker Ferdinand Karl Schweikart getan. Sie waren die ersten, die sich über eine nichteuklidische Geometrie Gedanken machten, also eine Geometrie in der das fünfte Postulat von Euklid nicht gilt. Und bevor ich erzähle, was das Resultat dieser Gedanken war, erwähne ich noch kurz, dass weder Gauß noch Schweikart ihre Ergebnisse öffentlich publiziert haben. Weswegen auch der russische Mathematiker Nikolai Iwanowitsch Lobatschewski nichts davon wusste als er 1829 seine Forschung zur nichteuklidischen Geometrie publiziert hat und auch der Ungar János Bolyai wusste nichts von Gauß und Schweikart und auch die Arbeit von Lobatschewski hat er nicht bemerkt, als er 1832 unabhängig von allen anderen ebenfalls eine nichteuklidische Geometrie entwickelt hat.
Aber egal wen man jetzt offiziell als Entdecker benennen will: Viel interessanter sind die Ergebnisse. Was passiert, wenn das fünfte Postulat nicht gilt? Dann kann man es auf zwei Arten ändern. Man kann zum Beispiel behaupten, dass man zu einer Linie keinen Punkt außerhalb der Linie finden kann, durch den eine parallele Linie verlaufen kann. Oder anders gesagt: Zwei Linien müssen sich IMMER schneiden; Parallelen existieren nicht. Das klingt ein wenig komisch. Ist es aber nicht. Man kann sowas leicht selbst erleben. Stellen wir uns vor, wir stehen genau auf dem Äquator der Erde. Und zeichnen eine Linie, die exakt von Nord nach Süd verläuft. Dann gehen wir den Äquator ein paar Kilometer entlang und zeichnen einen zweite Linie auf den Boden, die ebenfalls exakt von Nord nach Süd verläuft. Sind die beiden nun parallel oder nicht? Das können wir herausfinden, wenn wir die Linien länger machen. Wenn wir die erste Linie nach Norden verlängern läuft sie – wenig überraschend – immer weiter nach Norden. Bis sie irgendwann auf den Nordpol trifft. Exakt das gleich passiert aber auch mit er zweiten Linie! Die beiden Linien die am Äquator noch parallel ausgesehen haben, schneiden sich! Es gibt noch weitere seltsame Beispiele. Alle lernen in der Schule, dass die Summe der drei Winkel in einem Dreieck immer 180 Grad ergibt. Stellen wir uns jetzt aber mal gedanklich auf den Nordpol. Und laufen die vorhin gezogene Linie zum Äquator entlang. Dort drehen wir uns um einen Winkel von 90 Grad, spazieren am Äquator dorthin wo wir die zweite Linie gezeichnet haben und drehen uns ein weiteres Mal um 90 Grad zurück Richtung Norden. Jetzt laufen wir auf dieser anderen Linie zurück zum Nordpol, den wir aus einer anderen Richtung erreichen als wir ihn verlassen haben. Wir müssen uns also ein letztes Mal um einen bestimmten Winkel drehen bis wir wieder in der Ausgangssituation sind. Wie groß dieser letzte Winkel ist hängt davon ab, wo genau wir die Linien gezeichnet haben. Ist aber auch egal. Denn unser Weg ist exakt entlang der Seiten eines Dreiecks erfolgt und zwei der Winkel dieses Dreiecks waren rechte Winkel mit jeweils 90 Grad. Zusammen also schon 180 Grad und da kommt noch der dritte Winkel dazu. Die Winkelsumme in unserem Dreieck ist also definitiv größer als 180 Grad!
Was ist hier los? Nix außergewöhnliches. Nur dass die Erde eben eine Kugel ist und keine flache Scheibe. Und die euklidische Geometrie nur für die Ebene gilt. Und die Erdoberfläche mag uns zwar aus unserer menschlichen Sicht sehr flach erscheinen. In Wahrheit wohnen wir aber auf einer großen Kugel deren Oberfläche gekrümmt ist. Und wenn man die Geometrie auf einer gekrümmten Fläche beschreiben will, braucht man eine nichteuklidische Geometrie, wo sich parallele Linien schneiden können und die Winkelsumme von Dreiecken größer als 180 Grad ist. Will man den Umfang eines Kreises auf einer gekrümmten Oberfläche berechnen ist der kleiner als das, was wir mit der üblichen Formel von U=2rpi berechnen und so weiter. Es ist eine andere Geometrie als die von Euklid, aber immer noch eine in sich logische Geometrie mit ihren eigenen Regeln. Die Krümmung der Erdoberfläche ist aber nur eine der beiden möglichen Krümmungen. Man kann das fünfte Postulat auch so ändern, dass man durch einen Punkt der nicht auf einer Linie liegt, mindestens zwei zur ersten parallelen Linie ziehen kann. Auch daraus leitet sich eine komplette nichteuklidische Geometrie ab, hier haben Dreiecke eine Winkelsumme von weniger als 180 Grad, der Umfang eines Kreises ist größer als 2rpi und so weiter. Eine gekrümmte Oberfläche auf der diese Regeln gelten kann man sich nicht mehr so leicht vorstellen wie die Erdoberfläche. Aber man kann sich zum Beispiel einen Sattel vorstellen. Oder, wer keinen Bezug zu Pferden hat, einfach einen Pringles-Chip, der ja auch wie ein Sattel gekrümmt ist. Genau diese Art von gekrümmter Oberfläche ist es, auf der die zweite Variante von nichteuklidischer Geometrie gilt.
Die erste nennt man “elliptische” oder “sphärische Geometrie”, die zweite “hyperbolische Geometrie” und die ursprüngliche, die “normale” Geometrie wird als “flache Geometrie” oder eben “euklidische Geometrie” bezeichnet. In der Mathematik hat man es ständig mit nichteuklidischer Geometrie zu tun, ihre Entdeckung war enorm wichtig. Aber ich habe ja zu Beginn angekündigt dass ich auch noch von der Form des Universums reden werde.
Hier wird es jetzt noch ein kleines bisschen schwieriger sich alles anschaulich vorzustellen. Die Erdoberfläche ist zweidimensional. Die Erde selbst ist natürlich eine dreidimensionale Kugel. Aber ihre Oberfläche ist eben nur eine zweidimensionale Fläche. Die gekrümmt ist, im Gegensatz zu einer nicht gekrümmten zweidimensionalen Fläche. Man kann sich das ganz einfach mit einer Landkarte und einem Globus vorstellen. Die Landkarte ist zweidimensional und flach. Ich kann sie problemlos flach auf den Tisch legen. Aber so sehr ich mich auch anstrege, ich werde es nicht schaffen, die Landkarte ohne Falten, Zerreißen oder andere Eingriffe flach um den Globus herumzulegen. Ein Problem das auch alle kennen die schon mal probiert haben einen Ball in Geschenkpapier einzupacken. Eine flache Fläche ist fundamental anders als eine gekrümmte Fläche und ich kann die eine nicht in die andere verformen. Für eine hyperbolisch gekrümmte Fläche gilt das alles übrigens genau so. Beim Universum haben wir es jetzt aber nicht mehr mit einer Fläche zu tun. Der Raum ist dreidimensional. Kann aber trotzdem gekrümmt sein. Das war ja die große Erkenntnis von Albert Einstein und seiner Relativitätstheorie: Masse krümmt den Raum und diese Krümmung im Raum nehmen wir als Gravitationskraft war. Es ist also auch nicht verwunderlich, dass man es mit nichteuklidischer Geometrie zu tun bekommt, wenn sich mit Einstein und der Gravitation beschäftigt.
Die durch die Massen im Raum verursachten Krümmungen sind aber nicht das, was uns im Moment interessant. Das sind quasi kleine Störungen. Genau so wie ja auch auf der Oberfläche der Erde Berge und Täler existieren, Löcher, Gräben und jede Menge andere geografische Eigenheiten die von der idealisierten gekrümmten Kugeloberfläche abweichen. Wir wollen wissen: Welche Form hat das Universum in seiner Gesamtheit? Oder anders gefragt: Welche Geometrie braucht man, wenn man das Universum als ganzes beschreiben will? Ich könnte jetzt noch fragen ob das Universum flach oder kugelförmig ist, aber das würde falsche Vorstellungen wecken. Wir reden hier von einem gekrümmten dreidimensionalen Raum und das können wir uns nicht mehr anschaulich vorstellen. Ein dreidimensionaler gekrümmter Raum wäre zum Beispiel die “Oberfläche” einer vierdimensionalen Kugel. Aber niemand kann sich eine vierdimensionale Kugel vorstellen und auch nicht ihre dreidimensionale Oberfläche. Bleiben wir daher bei der etwas abstrakteren Frage: Wenn ich die Geometrie im Universum richtig beschreiben will: Muss ich dann die Formeln der flachen Geometrie nehmen, die der sphärischen wo die Dreicke mehr als 180 Grad als Winkelsumme haben oder die hyperbolische Geometrie mit weniger als 180 Grad? Damit zusammen hängt auch die Frage ob das Universum unendlich oder endlich groß ist. Ein Universum mit sphärischer Geometrie hat nur ein endlich großes Volumen. Ein Universum mit flacher oder hyperbolischer Geometrie kann sowohl endlich als auch unendlich groß sein.
Es hilft leider auch nichts, irgendwo riesige Dreiecke ins All zu zeichen. Beziehungsweise es würde helfen, wenn sie WIRKLICH groß werden, einmal halb durchs beobachtbare Universum oder so. Aber das können wir nicht. Wir können aber indirekte Messungen anstellen die uns ein bisschen was darüber verraten, ob und wie der Kosmos gekrümmt ist. Man kann einerseits die kosmische Hintergrundstrahlung messen, von der ich in Folge 316 mehr erzählt habe. Das ist Strahlung, die aus allen Richtungen auf die Erde trifft und kurz nach dem Urknall entstanden ist. Sie war quasi durch das gesamte beobachtbare Universum unterwegs und wenn man die genau genug untersucht kann man – mit Methoden auf die ich jetzt nicht im Detail eingehen will – abschätzen wie das Universum gekrümmt ist. Andererseits kann man probieren möglichst genau zu messen, wie viel Masse und Energie im beobachtbaren Universum vorhanden ist. Denn dieser gesamte Masse/Energiehaushalt bestimmt ja auch die Krümmung des Raums. Beides hat man gemacht und innerhalb der Meßgenauigkeit – die leider nicht extrem genau ist – lautet das Ergebnis: Unser Universum ist flach! Die mehr als 2000 Jahre alte Geometrie von Euklid mit ihrem komischen fünften Postulat ist genau die Geometrie die man braucht um das Universum zu beschreiben.
Das muss aber leider noch nicht die definitive Antwort sein. Erstens müssen wir noch viel genauer messen. Und zweites können wir ja nur Aussagen über das beobachtbare Universum machen. Also von all den Regionen des Kosmos aus denen das Licht in den letzten 13,8 Milliarden Jahren seit dem Urknall Zeit hatte, bis zu uns zu kommen. Das gesamte Universum kann aber sehr viel größer sein als dieser für uns sichtbare Bereich. Und vielleicht erscheint uns unser beobachtbares Universum nur flach, genau so wie uns die Oberfläche der Erde flach erscheint, weil wir viel zu klein sind um sie als die enorme Kugel wahrzunehmen die sie ist.
Welche Form das Universum hat, ist eine der großen offenen Fragen in der Naturwissenschaft. Aber zumindest haben wir die Sache mit diesem nervigen fünften Postulat geklärt!
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