Wir haben die Sache mit der dunklen Materie nicht verstanden. Ok, das ist keine große Neuigkeit. Wäre es anders, dann würden wir das Zeug ja auch nicht mehr “dunkle Materie” nennen sondern hätten einen vernünftigen Namen dafür. Aber neue Beobachtungen haben uns nun gezeigt, dass die ganze Angelegenheit noch komplexer ist, als wir bisher gedacht haben.
Nur damit kein Missverständnis aufkommt: An dem Phänomen das wir “dunkle Materie” nennen herrscht kein Zweifel. Das ist nichts, was wir uns einfach so aus Spaß an der Freude ausgedacht haben. Sondern etwas was seit fast 100 Jahren durch konkrete Beobachtungen immer und immer wieder bestätigt wird (ich habe hier alles sehr ausführlich erklärt): Die Objekte im Universum bewegen sich nicht so wie sie sich bewegen müssten, wenn es nicht mehr als die sichtbare Materie gibt. Deswegen gehen wir davon aus, dass es auch noch eine unsichtbare Art von Materie gibt, die sich fundamental von der “normalen” Materie unterscheidet (auf die Alternative der MOND-Theorie gehe ich jetzt nicht ein). Es muss Materie sein, die nicht elektromagnetisch wechselwirkt, die also – kurz gesagt – weder Licht aussendet noch Licht absorbiert. Sie ist also nicht nur unsichtbar, sie ist quasi durchsichtig. Sie klumpt auch nicht zusammen, wie es die normale Materie tut. Sie bildet also keine Himmelskörper wie Planeten oder Sterne. Die dunkle Materie bildet gewaltige “Wolken” im Kosmos, sehr viel größer als Galaxien. In den Zentren dieser Wolken hat sich im Laufe der Zeit die normale Materie angesammelt und dort die sichtbaren Galaxien und Sterne gebildet. Denn Gravitation spürt die dunkle Materie schon und sie übt auch Gravitation aus. Und da es sehr viel mehr dunkle Materie geben muss als normale Materie, ist das was wir als das “normale” Universum kennen quasi nur ein Haufen leuchtender Punkte die in der dunklen Masse des unbekannten Rests schwimmen.
Wie gesagt: Das haben wir uns nicht einfach nur ausgedacht, das kann man durch konkrete Beobachtungen belegen. Einerseits kann man die Bewegung von Galaxien und Sternen beobachten und ihre Geschwindigkeit messen. Daraus folgt direkt, wie groß die Masse sein muss, die mit ihrer Gravitationskraft die Bewegung mit der beobachteten Geschwindigkeit auslöst. Und diese Masse ist eben viel größer als die Masse der normalen, sichtbaren Materie. Andererseits gibt es den Gravitationslinseneffekt. Masse krümmt den Raum und Lichtstrahlen folgen dieser Raumkrümmung. Große Massen können also ähnlich wirken wie die optischen Instrumente und Linsen aus Glas die wir zum Beispiel in Teleskopen nutzen um den Weg von Lichtstrahlen zu ändern. Wir können die großen Wolken aus dunkler Materie die sich zwischen den Galaxien befinden bzw. in die die Galaxien eingebettet sind nicht direkt sehen. Aber wir können beobachten, wie ihre Masse den Weg des Lichts verändern, das von Galaxien zu uns kommt, die hinter diesen Wolken liegen. Wir sehen verzerrte Bilder der Galaxien und aus dem Ausmaß der Verzerrung können wir berechnen, wie viel Masse da als “Gravitationslinse” wirkt. So können wir die Verteilung dunkler Materie kartografieren und genau das haben die großen Teleskope der NASA und ESO kürzlich wieder getan. Mit überraschenden Ergebnissen…
Die Daten wurden Anfang September veröffentlicht (“An excess of small-scale gravitational lenses observed in galaxy clusters”). Mit dem Hubble-Weltraumteleskop und dem VLT der Europäischen Südsternwarte wurden 11 ferne Galaxienhaufen beobachtet. Und zwar mit quasi großer und kleiner Auflösung. Im großräumigen Bild zeigte sich das, was man erwartet hat. Wolken aus dunkler Materie überall in und um die Galaxienhaufen herum. Der genauere Blick hat aber gezeigt dass es auch einige kleinräumige Verzerrungen gibt. Eine genaue Analyse hat gezeigt, dass die zugehörigen Gravitationslinsen vergleichsweise dichte Konzentrationen an dunkler Materie sein müssen, die sich in den Zentren der Galaxienhaufen befinden; genau dort sich die einzelnen Galaxien selbst befinden. In weiteren Beobachtungen konnte die Bewegung der Sterne in den Außenregionen dieser Galaxien beobachtet werden. Daraus konnte man ihre Gesamtmasse (sichtbare plus dunkle Materie) ableiten. Das hat man dann mit dem verglichen was die auf den bisherigen Daten basierenden Computersimulationen zur Verteilung von (dunkler) Materie in den Galaxien zu sagen haben. Was sich zur Überraschung aller deutlich von den neuen Beobachtungen unterscheidet. Die Computermodelle zeigen nicht die gleiche kleinräumige Konzentration an dunkler Materie wie sie tatsächlich beobachtet worden ist.
Soweit die Daten. Die Konsequenzen daraus sind noch offen. Klar ist derzeit nur: Nicht nur wissen wir immer noch nicht, aus was die dunkle Materie eigentlich besteht. Wir wissen darüber hinaus offensichtlich auch weniger gut darüber Bescheid wie sie sich verhält als wir gedacht haben. Die Forschung zur dunklen Materie hat es ja schon seit einiger Zeit ziemlich schwer. Seitdem die astronomischen Beobachtungen vor fast 100 Jahren das Phänomen entdeckt haben, bemüht man sich die Natur der dunklen Materie zu entschlüsseln. Lange Zeit war ein noch unentdecktes Elementarteilchen der Favorit; nur dass die Teilchenphysik leider bis jetzt nicht in der Lage war, so ein Ding auch tatsächlich nachzuweisen. Jede Menge Experimente dazu blieben ergebnislos. Was viele Menschen enttäuscht hat, weil die Modelle die so ein Teilchen vorhergesagt haben, sehr elegant waren und auch gleich noch ein paar andere offene Fragen der Physik beantwortet hätten. Aber vielleicht sollten wir uns in Zukunft wieder mehr von der Astronomie leiten lassen anstatt der Modelle der Teilchenphysik. Das, was wir beobachten, ist das was tatsächlich da ist. Die Phänomene die das Verhalten von Sternen, Galaxien und Galaxienhaufen bestimmen sind real. Wenn sie nicht zu den Modellen passen, müssen wir die Modelle anpassen oder komplett verwerfen. Egal wie schön die entsprechenden Hypothesen sind. Am Ende zählt die Beobachtung. Wir müssen also weiter hinaus ins Universum schauen!
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