“Der Erreger stammt aus Südostasien, wo der bei Wildtieren vorkommende Erreger über Märkte auf den Menschen übertragen wurde. Da die Tiere selbst nicht erkranken, war nicht erkennbar, dass eine Infektionsgefahr bestand. Durch diese zoonotische Übertragung in Gang gesetzte Infektketten konnten nur retrospektiv nachvollzogen werden;dies gelang nicht in allen Fällen. Die Inkubationszeit, also die Zeit von der Übertragung des Virus auf einen Menschen bis zu den ersten Symptomen der Erkrankung, beträgt meist drei bis fünf Tage, kann sichaber in einem Zeitraum von zwei bis 14 Tagen bewegen. Fast alle Infizierten erkranken auch. Die Symptome sind Fieber und trockenerHusten, die Mehrzahl der Patienten hat Atemnot, in Röntgenaufnahmen sichtbare Veränderungen in der Lunge, Schüttelfrost, Übelkeit und Muskelschmerzen. Die Infektionskrankheit breitet sich sporadisch und in Clustern aus. Eine Übertragung findet insbesondere über Haushaltskontakte und im Krankenhausumfeld, aber auch in öffentlichen Transportmitteln, am Arbeitsplatz und in der Freizeit statt.”
Diese Sätze beschreiben nicht die aktuelle Corona-Pandemie. Man kann sie in einem Dokument lesen, das am 3. Januar 2013 veröffentlicht worden ist. Es handelt sich um den “Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012” (pdf). Erstellt hat den entsprechenden Teil des Berichts das Robert-Koch-Institut, beauftragt von der deutschen Bundesregierung. Die Existenz dieser “Deutschen Pandemie-Risikoanalyse” ist keine große Enthüllung; in den letzten Monaten wurde immer wieder darauf hingewiesen. Aber eben erst in den letzten Monaten. Davor hat sich – von der Wissenschaft abgesehen – niemand groß für das Risiko einer Pandemie interessiert. Obwohl das Robert-Koch-Institut ziemlich gut vorhergesagt hat, was in so einem Fall passieren würde.
Ich habe im letzten Jahr viele Bücher über Viren und Mikroorganismen gelesen. Die meisten davon sind vor der Corona-Pandemie erschienen. Aber überall dort, wo über die Zukunft spekuliert worden ist, waren die Vorhersagen erschreckend richtig. Die Wissenschaft war sich im wesentlichen einig, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis wieder eine Pandemie stattfindet. Sie war sich ebenfalls ziemlich sicher, dass der Erreger ein neuartiges Coronavirus sein könnte und das der Ursprung vermutlich in China liegen wird.
Der Bericht des Robert-Koch-Instituts will aber nicht nur eine reine Vorhersage des Ereignisses an sich treffen. Es ging um eine Risikoanalyse; man wollte also durch die Simulation einer Pandemie herausfinden, mit was für Auswirkungen zu rechnen ist. Sowohl aus medizinischer Sicht, als auch in Bezug auf Wirtschaft, Öffentlichkeit, Bildung, und so weiter. Vor allem wollte man zeigen, wo, wie und wann auf welche Weise reagiert werden kann und wo die Probleme liegen:
“Die Anordnung der Maßnahmen geschieht in den Regionen zuerst, in denen sich Fälle ereignen;die Bevölkerung setzt die Maßnahmen je nach subjektivem Empfinden unterschiedlich um. Infolge dieser Maßnahmen nehmen die Neuerkrankungen ab, was zum Nachlassen der individuellen Schutzmaßnahmen führt (aufgrund einer geringeren subjektiven Risikowahrnehmung), wodurch wiederum die Zahl der Neuerkrankungen zunimmt.
Es ist von einer vielstimmigen Bewertung des Ereignisses auszugehen, die nichtwiderspruchsfrei ist. Dementsprechend ist mit Verunsicherung der Bevölkerung zu rechnen. Zusätzlich ist ein (mehr oder minder qualifizierter) Austausch über neue Medien (z.B. Facebook, Twitter) zu erwarten.
Es ist anzunehmen, dass die Krisenkommunikation nicht durchgängig angemessen gut gelingt. So können beispielsweise widersprüchliche Aussagen von verschiedenen Behörden/Autoritäten die Vertrauensbildung und Umsetzung der erforderlichen Maßnahmen erschweren. Nur wenn die Bevölkerung von der Sinnhaftigkeit von Maßnahmen (z.B. Quarantäne)überzeugt ist, werden sich diese umsetzen lassen.”
Die Realität zeigt uns nun, wie zutreffend die Vorhersagen der Wissenschaft waren. Sie zeigt uns aber auch, wie sehr diese Vorhersagen von der Politik ignoriert worden sind. Über ein Jahr nach Ausbruch der Pandemie hat man in Deutschland (ebenso wie in Österreich und vielen anderen Ländern) immer noch den Eindruck, dass weitestgehend ohne großen Plan gehandelt wird. Obwohl man seit spätestens 2012 wissen hätte können, worauf man sich vorbereiten muss.
Es ist natürlich schwer, sich auf ein Ereignis vorzubereiten, von dem man nicht weiß, wann es eintreten wird. Auch das hat der Bericht des RKI schon beschrieben: “Das Auftreten von neuen Erkrankungen ist ein natürliches Ereignis, das immer wieder vorkommen wird. Es ist aber in der Praxis nicht vorhersehbar, welche neuen Infektionskrankheiten auftreten, wo sie vorkommenwerden und wann dies geschehen wird.” Aber eben WEIL man nicht weiß, wann es passieren wird, muss man sich darauf vorbereiten. Vor allem dann, wenn einem die Wissenschaft genau sagt, dass es sich um ein einschneidendes Ereignis handeln wird. Es wird langsam ein wenig langweilig, immer wieder auf das Präventionsparadox hinzuweisen. Aber das ist leider zentral bei dieser Thematik: Man muss sich vorbereiten, BEVOR etwas passiert. Tut man das, dann kann die Vorbereitung aber unnötig erscheinen (es ist ja noch nichts passiert). Ohne Vorbereitung landet man aber genau da, wo wir jetzt sind: In einer Situation, in der auf die Ereignisse immer nur reagiert werden kann. Das ist in einer Pandemie schon schlimm genug; während wir noch diskutieren, was man denn jetzt tun, nicht tun, sperren oder öffnen kann, verbreitet sich das Virus fröhlich weiter. Es gibt aber auch Katastrophen, die ohne Vorbereitung noch viel dramatischere Folgen haben.
Von 26. bis 30. April 2021 fand in Wien (virtuell) die 7. Planetary Defense Conference 2021 statt. Dort treffen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus aller Welt und allen Disziplinen, um über die Gefahr für die Erde durch Asteroiden und Kometen zu sprechen. Seit 2013 wird im Rahmen dieser Konferenz auch immer eine Art “Planspiel” organisiert. Den Forscherinnen und Forschern wird ein fiktives Szenario präsentiert, bei dem ein Asteroid/Komet die Erde mit einem bevorstehenden Einschlag bedroht. Im Laufe mehrerer Tage wird möglichst realistisch simuliert, wie sich so eine Situation entwickeln könnte. Welche Daten hat man zur Verfügung und wie schnell kann man bestätigen, dass tatsächlich ein Einschlag stattfinden wird? Wie schnell findet man heraus, wann und wo genau das Ding einschlagen wird? Welche Maßnahmen kann man ergreifen; wie kommuniziert man mit der Öffentlichkeit und der Politik?
Anlässlich der Simulation die bei der Konferenz im Jahr 2015 durchgeführt wurde, habe ich mit meinem Kollegen Siegfried Eggl gesprochen. Er hat daran teilgenommen und genau erklärt, wie das so abläuft (die Tonqualität habe ich damals vor 6 Jahren noch nicht so ganz optimal hinbekommen):
In diesem Jahr begann die Simulation mit der “Entdeckung” des (fiktiven) Asteroids 2021 PDC. Die ersten Daten zeigten eine mögliche Kollision am 20. Oktober 2021, also in nur sechs Monaten. Über die Größe des Objekts war nicht viel bekannt; zwischen 700 und 35 Metern war alles möglich. Das potentielle Einschlagsgebiet konnte vorerst nur auf mehr als die Hälfte der Erdoberfläche eingegrenzt werden. In den folgenden Tagen wurden der Simulation immer mehr konkrete Daten hinzugefügt (wer möchte, kann das alles hier nachvollziehen). Neue Beobachtungsdaten zeigten, dass der Asteroid erstens SICHER einschlagen wird und das zweitens irgendwo in Mitteleuropa tun wird. Eine Abwehr des Asteroiden durch eine Weltraummission war in der kurzen Zeit nicht möglich. Aber eine schnell gestartete Raumsonde könnte eventuell die Größe des Asteroiden exakt bestimmen und so zumindest die Unsicherheiten reduzieren, die bei der Einschätzung der Folgen des Einschlags existieren.
Am ersten Tag lag die Zahl der durch den Impakt betroffenen Menschen noch bei bis zu 86 Millionen. Am dritten Tag des Planspiels war durch neue Beobachtungsdaten von Weltraumteleskopen klar, dass der Asteroid nicht die maximal angenommene Größe hatte. Und dass er vermutlich irgendwo zwischen Prag, München und Wien einschlagen wird. Am letzten Tag der Konfernenz – in der simulierten Welt 6 Tage vor dem Einschlag – konnte man die Größe des Objekts auf knapp 105 Meter festlegen. Und das Einschlagsgebiet auf die Grenzregion im Dreiländereck Deutschland/Österreich/Tschechien (mit einer Genauigkeit von 23 Kilometern). Also glücklicherweise nicht über einer der bevölkerungsreichen Städte; auch wenn das betroffene Gebiet sich bis zu 260 Kilometer um den Einschlagspunkt herum erstreckt. In der simulierten Welt wäre es vermutlich noch möglich gewesen, die unmittelbare Umgebung des Impaktgebietes zu evakuieren und sich in den weiter entfernten Regionen auf die Schäden vorzubereiten. Kein Weltuntergang, aber immer noch eine dramatische Katastrophe.
Auch bei der Planetary Defense Conference lag der Fokus nicht nur auf der Vorhersage, dass irgendwann in Zukunft ein Asteroid auf der Erde einschlagen wird. Das wissen wir schon lange. Es ging darum, die Abläufe zu testen und zu sehen, wo man auf Probleme stößt. In diesem Fall war das die kurz Vorwarnzeit. Man wusste erst ein paar Monate vor dem Einschlag Bescheid und die Daten waren nicht gut genug, um den Einschlagsort und die Größe des Asteroids (und damit die potenziellen Folgen) abzuschätzen. Das hätte nicht so sein müssen: Hätte man schon 2014 – als der fiktive Asteroid in einer günstigen Beobachtungsposition war – ein entsprechend großes Teleskop oder engagiertes Suchprogramm gehabt, dann hätte man den Asteroid schon damals entdeckt. Und damit sieben Jahre lang Zeit, um sich darauf vorzubereiten; inklusive Weltraummission zur Abwehr des Einschlags.
Womit wir wieder beim Präventionsparadox wären: Würden wir uns auf einen Asteroideneinschlag entsprechend vorbereiten, dann könnten wir ihn verhindern. Aber solange wir uns vorbereiten, wird es schwierig sein, die Zeit und die Kosten dafür zu rechtfertigen. Denn es ist ja noch nichts passiert. WENN der Asteroid dann aber kommt, könnte es zu spät sein. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Konferenz haben durchaus auch Parallelen zur Corona-Pandemie gezogen. Shirish Ravan, vom United Nations Office for Outer Space Affairs, hat dazu etwa angemerkt: “[So ein Einschlag] kommt alle 100 Jahre; eine Pandemie kommt alle 100 Jahre, aber wir sind jetzt damit konfrontiert. Jetzt wäre eine gute Zeit, [der Politik] zu sagen, dass manche Katastrophen nur einmal in 100 Jahren kommen, wir aber die Weitsicht haben müssen, uns darauf vorzubereiten und sie abzuwenden.”
Über diesen Satz sollte man nachdenken. Der Einschlag eines vergleichsweise kleinen Asteroiden mit um die 100 Meter Durchmesser findet rein statistisch gesehen tatsächlich circa alle 100 Jahre statt. Ein Einschlag dieser Größenordung ist kein Weltuntergang. Wenn er in einer unbesiedelten Gegend oder über dem Meer stattfindet, kann er komplett ohne Todesopfer ablaufen. Er kann aber auch eine größere Katastrophe auslösen, die eine ganze Stadt zerstört. “Alle 100 Jahre” heißt nicht, dass pünktlich alle 100 Jahre ein Asteroid auf die Erde fällt. Es kann auch ein längerer Zeitraum dazwischen liegen. Oder ein kürzerer. Genau so wie bei einer Pandemie. An Corona sind derzeit mehr als 3 Millionen Menschen gestorben. Sehr viel mehr als beim Einschlag des fiktiven Asteroids 2021 PDC im dünn besiedelten Dreiländereck gestorben wären. Wir (das heißt “die Wissenschaft”) haben gewusst, dass Pandemien stattfinden können und das mit dem Auftreten von neuen Pandemien zu rechnen ist. Trotzdem haben wir (das heißt “die Öffentlichkeit” und “die Politik”) nicht wirklich daran geglaubt, dass es auch tatsächlich passiert.
Wissenschaft ist ein wunderbares Instrument um die Welt zu verstehen. Wenn wir die Welt verstehen, können wir auch Vorhersagen über das machen, was in der Welt passieren wird. Diese Prognosen können uns aber nur dann helfen, wenn wir auch entsprechend darauf reagieren. Die Wissenschaft gibt uns die Möglichkeit, uns auf bestimmte Katastrophen vorzubereiten. Es liegt in der Natur der Sache, dass solche Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden müssen, bevor etwas passiert. Was die Vorbereitung aber nicht weniger wichtig macht. Ganz im Gegenteil! Gerade dann, wenn noch nichts passiert ist, haben wir den Luxus von Zeit und Ressourcen, um uns vernünftig vorbereiten zu können. Wenn die Vorhersage erst einmal eingetreten ist, bleibt uns nur noch die Reaktion. Und dann ist es vielleicht zu spät.
Epilog: Die Wissenschaft hat Asteroideneinschläge vorhergesagt und Pandemien. Wovor sie uns seit Jahrzehnten ebenfalls eindringlich warnt, sind die Folgen des menschengemachten Klimawandels. Die sind mittlerweile alle eingetreten und wir stecken mitten in der Klimakrise. Immer noch sagt uns die Wissenschaft, was passieren wird, wenn wir so weitermachen wie bisher. Sie sagt uns auch, was wir tun können, damit es nicht so schlimm wird, wie es werden könnte. Aber es scheint so, dass wir auch jetzt nicht darauf hören wollen. Die Klimakrise ist aber nichts, auf das wir noch reagieren können, wenn sie uns erst einmal mit voller Wucht getroffen hat. Entweder wir tun jetzt etwas. Oder wir werden erneut und auf sehr dramatische Weise feststellen müssen, was passiert wenn man die Wissenschaft ignoriert.
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