Das ist die Transkription einer Folge meines Sternengeschichten-Podcasts. Die Folge gibt es auch als MP3-Download und YouTube-Video.
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In der Serie über Stephen Hawkings Arbeit gab es bisher schon Artikel zu Singularitäten, schwarzen Löchern, Hawking-Strahlung und dem Informationsparadoxon.
Sternengeschichten Folge 278: Stephen Hawking, der Anfang des Universums und die imaginäre Zeit vor dem Urknall
Die Frage nach dem ultimativen Anfang hat die Menschen vermutlich immer schon beschäftigt. Zuerst haben sie sich Geschichten und religiöse Mythen ausgedacht um zu erklären, wie alles entstanden ist. Später, als man dank der Naturwissenschaft schon wesentlich mehr über das Universum wusste, blieb die Frage allerdings weiterhin bestehen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ging man davon aus, dass es so einen Anfang gar nicht gab. Das Universum war immer schon da und sollte auch in Zukunft immer da sein. Dann aber kamen die großen Entdeckungen von Edwin Hubble, Albert Einstein und ihren Kollegen. Man fand heraus, dass sich das Universum beständig ausdehnt und daher in der Vergangenheit kleiner gewesen sein muss als heute. Und wenn man weit genug in die Vergangenheit zurück geht, dann landet man irgendwann bei einem Punkt, an dem es kein Universum gab. Es muss also einen Anfang in der Zeit gehabt haben; es muss einen “Urknall” gegeben haben, aus dem sich der heutige Kosmos entwickelt hat. Die Beobachtung des sich ausdehnenden Weltalls wurde theoretisch von Albert Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie bestätigt. Mit ihr ließ sich die Entwicklung des Kosmos beschreiben und auch hier zeigte sich, dass alles auf einen Anfang hinaus lief. Das Universum musste irgendwann in der Vergangenheit einen Zustand gehabt haben, in dem es unendlich dicht war, die Temperatur unendlich hoch und seine Ausdehnung unendlich klein.
Dass so ein Zustand – der “Singularität” genannt wird – keine reine mathematische Kuriosität ist, die man ignorieren kann, sondern eine direkte Folge aus der Tatsache, dass die Gravitation eine anziehende Kraft ist, hat Stephen Hawking Ende der 1960er Jahre mathematisch bewiesen. Bis dahin hofften die Wissenschaftler noch, den Singularitäten irgendwie entkommen zu können – aber Hawkings Forschung zeigt, dass man sich damit auseinder setzen musste. Sie zeigte vor allem, dass die Relativitätstheorie hier nicht mehr ausreichend ist. Wenn die Theorie solche Zustände mit unendlichen Größen vorhersagt, die in der Realität nicht vorkommen können, dann muss irgendwo etwas schief gelaufen sein. Dann braucht man eine Theorie, die über Einsteins Theorie hinaus geht. Man braucht einen neuen Weg, um die Entwicklung des Universums zu beschreiben und genau so einen Weg versuchte Stephen Hawking gegen Ende des 20. Jahrhunderts zu finden.
Mit den wissenschaftlichen Theorien die wir derzeit besitzen, können wir die Entwicklung des Universums sehr gut beschreiben. Wir können damit weit zurück in die Vergangenheit blicken; 13,8 Milliarden zurück – bis fast zu dem Moment, an dem die Singularität, also der “Urknall” auftritt. Wenn wir dort halt machen und berechnen, wie sich das Universum von seinem anfänglichen Zustand aus entwickelt hat, dann stimmen die Vorhersagen unserer Theorien sehr gut mit dem überein, was man auch tatsächlich beobachtet. Aber wir wollen natürlich nicht kurz vor dem Urknall halt machen. Wir wollen noch weiter zurück blicken – vielleicht sogar über den Urknall hinaus.
Nur: Das ist in dem Fall eben ganz fundamental schwierig. Denn da ist ja diese fiese Singularität. Eine Lösung erhofft man sich durch die Berücksichtigung der Quantenmechanik. Wenn man es irgendwie schafft, die Relativitätstheorie mit der Quantenmechanik zu kombinieren, dann sorgen die Quanteneffekte vielleicht dafür, dass die Singularität verschwindet. Denn das Universum ist ja dann selbst auch so winzig, dass es eigentlich auch den Gesetzen der Quantenmechanik unterworfen sein müsste. Wenn das so wäre, dann wäre die Singularität vielleicht keine Singularität, sondern quasi “verschmiert”. Es gäbe keinen einzelnen Punkt mehr mit unendlich großer Dichte. Sondern etwas anderes – nur das niemand so wirklich weiß, was das sein soll, weil es eine entsprechende Theorie der Quanten-Relativitätstheorie noch nicht gibt.
Stephen Hawking jedenfalls war nicht der Meinung, dass man das Problem so lösen könnte. Gemeinsam mit dem amerikanischen Physiker James Hartle griff er aber auf eine Idee zurück, die ebenfalls aus der Quantenmechanik stammt. Damit konnten sie die Singularität zwar nicht direkt abschaffen. Aber zumindest dafür sorgen, dass sie nicht mehr so problematisch ist. Die Idee anschaulich zu erklären ist allerdings knifflig. Dazu braucht man eigentlich jede Menge Mathematik. Und imaginäre Zeit.
“Imaginäre Zeit” klingt wie etwas, das man sich einfach ausgedacht hat. Das “imaginär” hat aber nichts damit zu tun, dass es sich hier um etwas irreales oder erfundenes handelt. Sondern bezieht sich auf die “imaginären Zahlen” die es in der Mathematik schon sehr lange gibt. Das sind Zahlen, die genau so funktionieren wie alle anderen Zahlen auch. Nur dass sie eben keine direkte Entsprechung mehr in unserem Alltag haben. “Vier” kann man sich gut vorstellen, wenn man einfach an vier Objekte denkt. Vier Äpfel in einem Korb zum Beispiel. Wenn jeder dieser Äpfel einen Euro kostet, ich aber nur drei Euro dabei habe und nach dem Kauf einen Euro Schulden beim Verkäufer, kann man sich auch eine negative Zahl wie “-1” gut vorstellen. Bei imaginären Zahlen geht das nicht mehr so einfach. Sie sind definiert über die imaginäre Einheit i und das ist einfach “nur” die Wurzel aus der Zahl -1. Die Zahl i ist also die Zahl, die mit sich selbst multipliziert -1 ergibt. Wir lernen zwar in der Schule, dass jede Zahl, egal ob positiv oder negativ, bei der Multiplikation mit sich selbst immer positiv sein muss (“Minus mal minus ergibt plus”). Aber es hindert uns prinzipiell nichts daran, eine Zahl wie i zu definieren. Und dann kann ich damit auch ganz normal rechnen, und Ausdrücke wie 4*i oder 5+i oder 7 geteilt durch 3i und so weiter zu bilden. Wie gesagt: Rechnen geht einfach; vorstellen leider nicht mehr so gut.
Jedenfalls kann man auch die Zeit mit i multiplizieren. Wenn man die Zeit vorher durch eine ganz normale Zahl beschrieben hat, dann wird sie nun durch eine imaginäre Zahl beschrieben und das Resultat nennt man “imaginäre Zeit”. Das klingt seltsam, ist aber ganz normal. In vielen Bereichen der Naturwissenschaft rechnet man mit imaginären Zahlen. Sie haben sich als äußerst praktisch bei der Beschreibung jeder Menge realer Phänomene herausgestellt.
Betrachten wir jetzt die Raumzeit. Also die drei Dimensionen des Raums (und wer darüber mehr Bescheid wissen will, kann sich noch einmal Folge 268 der Sternengeschichten anhören) und die eine Dimension der Zeit, die Albert Einstein zur vierdimensionalen Raumzeit zusammengefasst hat. Wenn man nun – und das haben Hawking und Hartle getan – statt der Zeit die imaginäre Zeit verwendet, bekommt man etwas, das sich “euklidische Raumzeit” nennt. Sehr, sehr vereinfacht gesagt, sorgt die Multiplikation mit der imaginären Einheit dafür, dass sich die Zeit nicht mehr wie Zeit verhält, sondern eher wie eine Richtung im Raum.
Und die Raumzeit, die man nun bekommt, ist keine mehr, die irgendwo in der Vergangenheit eine Singularität enthält. Es gibt keinen Zeitpunkt mehr, an dem alles zusammenbricht. Stattdessen beschreibt die imaginäre Raumzeit etwas, das man mit der Oberfläche der Erde vergleichen kann. Die ist nicht unendlich groß. Es gibt aber trotzdem keinen Punkt, wo sie zu Ende ist. Selbst Nord- oder Südpol sind nur ganz normale Punkte auf der Oberfläche der Erde. Das Universum, in der Beschreibung von Hawking und Hartle, ist genau so. Es ist nicht unendlich groß, hat aber keine Grenzen. Passenderweise nannten sie das dann auch die “Keine-Grenzen-Hypothese”.
Das Universum ist dann quasi komplett in sich selbst eingebettet. Es wird komplett durch sich selbst bestimmt; es gibt kein “außerhalb” oder “davor”; es braucht nichts was “vor” dem Urknall passiert ist, um alles zu starten, weil es ein “vor” dem Urknall nicht gibt. Wieder sehr, sehr vereinfacht gesagt: Das Universum war einfach, ohne Zeit wie wir sie kennen; in der “imaginären Zeit”, wo es keine Singularität gibt. Bei Betrachtung in der realen Zeit gab es aber einen Anfang, eben das, was wir als “Urknall” kennen und was mit unseren momentanen Theorien wie eine Singularität aussieht. Diese “Singularität” war aber eben kein besonderer Punkt; genau so wie der Nordpol der Erde einfach nur ein Punkt ist, aber keine Singularität an der seltsame Dinge passieren.
Hawking und Hartle haben sich also ein zeitloses Universum ausgedacht, das trotz allem einen Anfang hat. Wenn wir weit genug zurück in die Vergangenheit blicken und immer näher an den Moment des Urknalls herankommen, dann gibt es einen Punkt, an dem die Zeit – vereinfacht gesagt – verschwindet und zu Raum wird. In dieser imaginären Raumzeit hat das Universum keine Grenzen und es gibt keine Zeit. Der Anfang unserer realen Zeit war vor 13,8 Milliarden Jahren und es war auch der Anfang von dem was wir seitdem beobachten. Der Anfang des expandierenden Universums, das immer größer und größer wird und sich so verhält, wie wir es beobachten und verstehen.
Man darf sich von solchen Veranschaulichungen aber nicht zu sehr vereinnahmen lassen. Wirklich verstehen kann man die Arbeit von Hawking und Hartle nur mathematisch und nicht anschaulich. Die Idee mit der imaginären Zeit ist vor allem ein “Rechentrick” und nicht die Beschreibung eines konkreten physikalischen Prozesses. Das Universum ist früher nicht wirklich mit imaginärer Zeit gelaufen. Hawking und Hartle haben eine mathematische Methode entwickelt, mit der man ein paar der Probleme anderer theoretischer Beschreibungen umgehen kann; aber dafür auf andere Probleme stößt, die ebenfalls noch gelöst werden müssten, wenn das ganze von vager Mathematik zu echter Kosmologie werden soll.
Ob die Hypothese von Hawking und Hartle korrekt ist, wissen wir nicht. Wir wissen auch nicht, warum sich die Dinge so verhalten haben sollen, wie Hawking und Hartle es beschreiben. Wieso soll es zuerst nur Raum bzw. Raum mit imaginärer Zeit geben und dann auf einmal reale Zeit? Was bringt das Universum dazu, sich so zu verhalten? Das kann niemand mit Sicherheit beantworten. Dazu müssen wir erst die Verbindung zwischen Relativitätstheorie, Gravitation und Quantenmechanik besser verstehen. Vielleicht war alles ganz anders. Es gibt jede Menge andere Hypothesen darüber, wie das Universum angefangen haben könnte und was “vor” dem Urknall war. Vielleicht war der “Urknall” aber wirklich der Moment, als in einem zeitlosen, unbegrenzten Universum ein Stück Raum plötzlich zu echter Zeit wurde…
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