Ein zweiter Teil des Problems ist die prekäre Situation der rechtsmedizinischen Institute in Deutschland, wie schon einmal erwähnt.
Um Kosten zu sparen, wurden bereits rechtsmedizinische Institute geschlossen, wie z.B. 2000 in Aachen und andere müssen ständig um ihren Fortbestand kämpfen. Menschen, die in Aachen oder generell außerhalb des Einzugsbereichs eines rechtsmedizinischen Instituts versterben, müssen dann, bezeichnet mit dem unschönen Wort „Leichentourismus”, weite Strecken in andere Institute gefahren werden, was die Kosten einer solchen „outgesourcten” Obduktion im Vergleich zur Obduktion vor Ort vervielfacht, oder, das düsterere Szenario, die Schwelle, ab der die Ermittlungsbehörden die Mühen einer Obduktion in der Ferne in Kauf nehmen, heraufsetzt – zusammen mit der Dunkelziffer unerkannter Tötungsdelikte. Es ist ohnehin eine Fehlannahme, daß die Abschaffung der Rechtsmedizin Geld spare, denn wenn wegen des Fehlens rechtsmedizinischer Gutachten im Nachhinein Fälle wieder aufgerollt werden müssen, werden Unsummen verschlungen, gegen die die Kosten einer routinemäßigen Obduktion verschwindend sind. Aber auch anderes wird schlechter, wenn durch fehlende rechtsmedizinische Versorgung Aufgaben für Justiz, Polizei, Kliniken, öffentliches Gesundheitswesen oder Hilfeersuchen von Angehörigen nicht mehr erfüllt werden können, da mögliche außeruniversitäre Anbieter nur ihre notwendig kommerziellen Interessen verfolgen. Man darf sich fragen, ob der Zynismus, dessen es bedarf, um an die Rechtssicherheit, die von die Leistungen eines rechtsmedizinischen Instituts sehr abhängig ist, ein Preisschild zu heften, zu dulden ist.
Die Verteidigung der Rechtsmedizin fällt, trotz der Schützenhilfe durch Polizei, Justiz und Kriminalistenverbände, indes zu schwach und zu leise aus, denn für ihre Patienten, die Toten, die mißhandelten Kinder aus sozial schwachen Familien, die vergewaltigten Frauen, die aus Angst vor den Tätern in Frauenhäuser geflohen sind, die verwahrlosten alten Menschen, die in Altenheimen vor sich hin vegetieren, die Menschen am Rand der Gesellschaft, Drogensüchtige, Obdachlose oder Prostituierte ohne Aufenthaltsrecht, kurz die Allerschwächsten, kämpft niemand. Sie haben keine Lobby, die gegen eine immer stärkere Beschneidung des Fachs und seiner Einrichtungen protestieren könnte, so wie es der Fall wäre, wenn Institute bedroht wären, die sich mit der Behandlung häufiger Erkrankungen befassen, deren Betroffene sich zu starken Interessensverbänden zusammenschließen können. Und gerade um diesen Menschen und dem, was sie erleiden und erlitten haben, gerecht zu werden, bedarf es einer guten, rechtsmedizinischen Ausbildung, durch die erst ein Arzt imstande ist, unter vielem anderen auch schwache oder verborgene Mißhandlungsspuren zu erkennen und eben nicht zu übersehen, Abwehrverletzungen oder Spuren von Folter und Gewalt von Unfall- oder selbst beigebrachten Verletzungen zu unterscheiden, Anzeichen von Vergiftung festzustellen, brauchbare Spuren für die forensische Genetik zu sichern oder die Handlungsfähigkeit von Betrunkenen oder Opfern, denen gegen ihren Willen Drogen verabreicht wurden, einzuschätzen.
All das ist bekannt und dennoch bleibt die Rechtsmedizin bedroht und unter Legitimationsdruck. Wenn ihre Gegner Erfolg haben, verschwindet mit den rechtsmedizinischen Instituten aber auch die Lehre und Forschung dieses Fachs. Studenten werden unzureichend ausgebildet, denn es wird an Angebotsumfang, Praxisnähe, Intensität und Qualität der Wissensvermittlung mangeln, aber auch die Weiterbildungsmöglichkeiten z.B. zum Facharzt für Rechtsmedizin werden entfallen, wodurch der Nachwuchs an Rechtsmedizinern systematisch ausgedünnt wird. Ohne Rechtsmediziner in Reichweite fehlen zudem konsiliarische Ansprechpartner für Klinik- und Praxisärzte (s.u.). Schließlich werden Orte, an denen ohne vornehmlich kommerzielles Interesse forensisch-wissenschaftlich gearbeitet und geforscht werden kann, fast ganz verschwinden.
Ich schließe diesen Beitrag mit einem Blick auf ein aktuelles und besonders finsteres Geschehen von der dunklen Seite des Alltags hier, das sich so nur zutragen konnte, weil die Rechtsmedizin zu spät involviert wurde und bei früherer Konsultierung eines Rechtsmediziners hätte verhindert werden können:
Ein Kind wird wieder und wieder von seinen Eltern ins Krankenhaus gebracht. Es hat zahlreiche Hämatome, auch im Ohr, Kratzer an Stellen, die es selber nicht erreichen kann, später auch Brandwunden und Verbrühungen sowie Vergiftungserscheinungen wegen angeblich versehentlich verwechselter Medikamente. Entweder, es schöpft niemand Verdacht oder es wird ihm nicht nachgegangen.
Erst als das Kind per Hubschrauber in eine neurochirurgische Ambulanz gebracht werden mußte, nachdem es einen Kreislaufstillstand erlitten hatte und schließlich dennoch verstirbt, begegnen Rechtsmediziner dem geschundenen Kind. Sie finden massive Verletzungen im Kopf, Hirnblutungen, -scherverletzungen und Netzhautblutungen, die auf ein schweres Schütteltrauma hinweisen, zahlreiche Knochenbrüche, die niemandem aufgefallen waren und dem Kind entsetzliche Schmerzen bereitet haben müssen und, als wären die Befunde nicht grausam genug, stellen sie klar, daß bei einer rechtzeitigen rechtsmedizinischen Untersuchung schon viel früher der nun offensichtliche, massive und letztlich tödliche Kindesmißbrauch, den die Klinikärzte nicht sahen oder wahrhaben wollten, erkannt worden wäre.
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