Reißerischer Titel? Nicht, wenn man festhalten muß, daß in Deutschland ungefähr jedes zweite Tötungsdelikt unbemerkt bleibt:
Nach einer rechtsmedizinischen Studie [1] ereignen sich jedes Jahr in Deutschland zwischen 11.000 und 22.000 nicht-natürliche Todesfälle, die bei der vom nächstbesten Arzt vorzunehmenden Leichenschau aber fälschlicherweise als “natürlich” klassifiziert und damit sofort zur Bestattung “freigegeben” werden. Unter diesen falsch beurteilten Fällen finden sich zwischen 1200 und 2400 Tötungsdelikte – Mord und Totschlag also – die niemals untersucht werden. Und das sind in etwa soviele, wie in Deutschland jedes Jahr offiziell gemeldet werden. Man hat also als Mörder schon von vorneherein, eine 50%-Chance, unentdeckt zu bleiben. Wenn man sich dann auch noch clever anstellt… paradiesisch oder? q.e.d.
Aber wie kann es sein, daß in einer angeblich hochentwickelten Industrienation wie Deutschland, die sich zudem viel auf ihre Justiz einbildet, solche bananenrepublikanische Zustände herrschen?
Ein Teil des Problems ist nicht die Frage wie, sondern ob ermittelt wird. Wenn ermittelt wird, ist die Erfolgsquote für das Überführen der Täter sogar recht hoch, nur kommt es tatsächlich viel zu selten dazu: wie angedeutet, ist die größte Schwachstelle dabei die äußere Leichenschau, die an jeder verstorbenen Person per Gesetz durchzuführen ist. Eine korrekte und vorschriftsmäßige äußere Leichenschau ist aber eine umfangreiche und sehr genaue Untersuchung, bei der es viele Details zu beachten und viele mögliche Fehler, z.B. die Leiche nicht vollständig zu entkleiden, zu begehen gibt.
Katastrophale Beispiele von solchen Fehlern fallen bisweilen bei der Kremationsleichenschau auf: Diese zweite Leichenschau wird, zufolge einer zur Abwechslung mal sinnvollen Regelung in diesem an unsinnigen Regelungen nicht armen Land, grundsätzlich vor der Einäscherung einer Leiche und zwar von „Profis”, also Amtsärzten oder Rechtsmedizinern durchgeführt. Da nach einer Einäscherung jede Möglichkeit einer postmortalen Beweissicherung ausgeschlossen ist, soll dadurch sichergestellt werden, daß nichts übersehen worden ist. Sollte bei der Kremationsleichenschau etwas auffälliges oder verdächtiges bemerkt werden, so wird die Leiche „angehalten” und die Ermittlungsbehörden informiert. Und hier zeigen sich dann auch die Qualitätsunterschiede der Leichenschauen, denn die Rechtsmediziner schauen sich wirklich alles genau an, untersuchen u.a. die Kopfhaut auf Einstiche, prüfen Gelenke auf falsche Beweglichkeit, nehmen Behaarungsmuster, Narben und feinste Unterblutungen in Augenschein und beziehen die medizinische Vorgeschichte des Verstorbenen mit ein. Manchmal aber müssen sie nicht allzu genau hinschauen, um die grobe Fehlleistung des ersten Leichenschauers zu bemerken: es kam vor, daß sich der Arzt, der die erste Leichenschau durchgeführt hatte, nicht einmal die Mühe gemacht hatte, die hochgeschlossen angezogene Leiche zu entkleiden. Er hatte ihr dennoch bedenkenlos einen natürlichen Tod bescheinigt. So fielen erst bei der Kremationsleichenschau die deutlich sichtbaren Würgemale (!) am Hals auf und erst danach wurden Ermittlungen in Gang gesetzt, die letztlich einen Mord aufdeckten. Das erschreckende ist: hätte die verstorbene Person nicht ihre Kremierung verfügt, wäre sie erst gar von Rechtsmedizinern untersucht und unbesehen im Erdgrab bestattet und ihr Mörder nicht nur nie gefasst, sondern ihre Ermordung nie erkannt worden. Der Leser mag selbst spekulieren, wieviele Mordopfer, denen durch eine solchermaßen unzureichende Leichenschau und völlig vermeidbar ein natürlicher Tod bescheinigt wurde, still in deutscher Erde ruhen und wieviele Mörder sich daraufhin eines Lebens in Freiheit erfreuen.
Dennoch darf und muß nach wie vor die äußere Leichenschau in Deutschland von jedem beliebigen approbierten Arzt durchgeführt werden, wenn dieser zuerst zum Leichenfundort gerufen wird oder zufällig in der Nähe ist, selbst wenn er seit 20 Jahren keine Leiche mehr gesehen und noch nie eine untersucht hat. Das ist, wie wenn man ins AKW, in dem eine Kernschmelze droht, einen Astrophysiker ruft, der im fünften Semester mal eine Vorlesung über Nuklearphysik gehört hat. Es wäre dringend geboten, wie es in anderen Ländern auch selbstverständlich der Fall ist, gesetzlich vorzusehen, daß nur speziell ausgebildete Ärzte, eben vor allem Rechtsmediziner, eine Leichenschau lege artis durchführen dürfen. Dies würde nicht nur die Qualität der Leichenschau (s.o.) sicherstellen, sondern auch die Unparteilichkeit und Vorurteilsfreiheit des leichenschauenden Arztes ermöglichen. Auch dies ist häufig nämlich nicht gegeben, z.B. wenn der Hausarzt, der zur Leichschau bei einem seiner verstorbenen Patienten gerufen und seitens der Familie auf Erkennung einer „natürlichen Todesursache” gedrängt wird, damit am Verstorbenen keine Obduktion durchgeführt werden muß. Oft kommt es in solchen Fällen dazu, daß sich der Arzt überreden oder einschüchtern lässt oder daß er meint, die Todesursache habe notwendig mit dem Leiden, weswegen der Patient bei ihm in Behandlung war zu tun, woraufhin er „natürliche Todesursache” ankreuzt, selbst wenn er Bedenken hat oder die Todesart aufgrund der von ihm vorgenommenen Leichenschau gar nicht sicher erkennen konnte.
Aber selbst wenn nach der Leichenschau auf dem Totenschein “nicht-natürliche” oder “unklare” Todesart angekreuzt wurde, bedeutet auch dies nicht automatisch, daß die Leiche tatsächlich von Rechtsmedizinern obduziert wird. Es wird lediglich die Staatsanwaltschaft eingeschaltet und mit Ermittlungen betraut, die sich jedoch oft genug und teils trotz einer haarsträubenden Sachlage entscheidet, den Fall eben nicht als solchen anzusehen und zu den Akten und die Leiche zur ewigen Ruhe zu legen.
Dies alles führt dazu, daß in Deutschland gerade einmal 2% der Leichen rechtsmedizinisch autopsiert werden und eine erschreckende Dunkelziffer nie entdeckter Tötungsdelikte besteht. In Schweden, wo viel häufiger obduziert wird, wurde eine deutlich höhere Rate von Tötungsdelikten festgestellt, die auf die Ausmaße des Dunkelfeldes hinweist (und nicht, wie jetzt vielleicht jemand annehmen mag, daß in Schweden mehr gemordet wird).
Ein zweiter Teil des Problems ist die prekäre Situation der rechtsmedizinischen Institute in Deutschland, wie schon einmal erwähnt.
Um Kosten zu sparen, wurden bereits rechtsmedizinische Institute geschlossen, wie z.B. 2000 in Aachen und andere müssen ständig um ihren Fortbestand kämpfen. Menschen, die in Aachen oder generell außerhalb des Einzugsbereichs eines rechtsmedizinischen Instituts versterben, müssen dann, bezeichnet mit dem unschönen Wort „Leichentourismus”, weite Strecken in andere Institute gefahren werden, was die Kosten einer solchen „outgesourcten” Obduktion im Vergleich zur Obduktion vor Ort vervielfacht, oder, das düsterere Szenario, die Schwelle, ab der die Ermittlungsbehörden die Mühen einer Obduktion in der Ferne in Kauf nehmen, heraufsetzt – zusammen mit der Dunkelziffer unerkannter Tötungsdelikte. Es ist ohnehin eine Fehlannahme, daß die Abschaffung der Rechtsmedizin Geld spare, denn wenn wegen des Fehlens rechtsmedizinischer Gutachten im Nachhinein Fälle wieder aufgerollt werden müssen, werden Unsummen verschlungen, gegen die die Kosten einer routinemäßigen Obduktion verschwindend sind. Aber auch anderes wird schlechter, wenn durch fehlende rechtsmedizinische Versorgung Aufgaben für Justiz, Polizei, Kliniken, öffentliches Gesundheitswesen oder Hilfeersuchen von Angehörigen nicht mehr erfüllt werden können, da mögliche außeruniversitäre Anbieter nur ihre notwendig kommerziellen Interessen verfolgen. Man darf sich fragen, ob der Zynismus, dessen es bedarf, um an die Rechtssicherheit, die von die Leistungen eines rechtsmedizinischen Instituts sehr abhängig ist, ein Preisschild zu heften, zu dulden ist.
Die Verteidigung der Rechtsmedizin fällt, trotz der Schützenhilfe durch Polizei, Justiz und Kriminalistenverbände, indes zu schwach und zu leise aus, denn für ihre Patienten, die Toten, die mißhandelten Kinder aus sozial schwachen Familien, die vergewaltigten Frauen, die aus Angst vor den Tätern in Frauenhäuser geflohen sind, die verwahrlosten alten Menschen, die in Altenheimen vor sich hin vegetieren, die Menschen am Rand der Gesellschaft, Drogensüchtige, Obdachlose oder Prostituierte ohne Aufenthaltsrecht, kurz die Allerschwächsten, kämpft niemand. Sie haben keine Lobby, die gegen eine immer stärkere Beschneidung des Fachs und seiner Einrichtungen protestieren könnte, so wie es der Fall wäre, wenn Institute bedroht wären, die sich mit der Behandlung häufiger Erkrankungen befassen, deren Betroffene sich zu starken Interessensverbänden zusammenschließen können. Und gerade um diesen Menschen und dem, was sie erleiden und erlitten haben, gerecht zu werden, bedarf es einer guten, rechtsmedizinischen Ausbildung, durch die erst ein Arzt imstande ist, unter vielem anderen auch schwache oder verborgene Mißhandlungsspuren zu erkennen und eben nicht zu übersehen, Abwehrverletzungen oder Spuren von Folter und Gewalt von Unfall- oder selbst beigebrachten Verletzungen zu unterscheiden, Anzeichen von Vergiftung festzustellen, brauchbare Spuren für die forensische Genetik zu sichern oder die Handlungsfähigkeit von Betrunkenen oder Opfern, denen gegen ihren Willen Drogen verabreicht wurden, einzuschätzen.
All das ist bekannt und dennoch bleibt die Rechtsmedizin bedroht und unter Legitimationsdruck. Wenn ihre Gegner Erfolg haben, verschwindet mit den rechtsmedizinischen Instituten aber auch die Lehre und Forschung dieses Fachs. Studenten werden unzureichend ausgebildet, denn es wird an Angebotsumfang, Praxisnähe, Intensität und Qualität der Wissensvermittlung mangeln, aber auch die Weiterbildungsmöglichkeiten z.B. zum Facharzt für Rechtsmedizin werden entfallen, wodurch der Nachwuchs an Rechtsmedizinern systematisch ausgedünnt wird. Ohne Rechtsmediziner in Reichweite fehlen zudem konsiliarische Ansprechpartner für Klinik- und Praxisärzte (s.u.). Schließlich werden Orte, an denen ohne vornehmlich kommerzielles Interesse forensisch-wissenschaftlich gearbeitet und geforscht werden kann, fast ganz verschwinden.
Ich schließe diesen Beitrag mit einem Blick auf ein aktuelles und besonders finsteres Geschehen von der dunklen Seite des Alltags hier, das sich so nur zutragen konnte, weil die Rechtsmedizin zu spät involviert wurde und bei früherer Konsultierung eines Rechtsmediziners hätte verhindert werden können:
Ein Kind wird wieder und wieder von seinen Eltern ins Krankenhaus gebracht. Es hat zahlreiche Hämatome, auch im Ohr, Kratzer an Stellen, die es selber nicht erreichen kann, später auch Brandwunden und Verbrühungen sowie Vergiftungserscheinungen wegen angeblich versehentlich verwechselter Medikamente. Entweder, es schöpft niemand Verdacht oder es wird ihm nicht nachgegangen.
Erst als das Kind per Hubschrauber in eine neurochirurgische Ambulanz gebracht werden mußte, nachdem es einen Kreislaufstillstand erlitten hatte und schließlich dennoch verstirbt, begegnen Rechtsmediziner dem geschundenen Kind. Sie finden massive Verletzungen im Kopf, Hirnblutungen, -scherverletzungen und Netzhautblutungen, die auf ein schweres Schütteltrauma hinweisen, zahlreiche Knochenbrüche, die niemandem aufgefallen waren und dem Kind entsetzliche Schmerzen bereitet haben müssen und, als wären die Befunde nicht grausam genug, stellen sie klar, daß bei einer rechtzeitigen rechtsmedizinischen Untersuchung schon viel früher der nun offensichtliche, massive und letztlich tödliche Kindesmißbrauch, den die Klinikärzte nicht sahen oder wahrhaben wollten, erkannt worden wäre.
Wie es also in einem Land aussehen wird, in dem es kaum noch rechtsmedizinische Institute gibt, mag sich jeder selber ausmalen. Oder besser nicht.
_____
Referenzen:
[1] Brinkmann, B., S. Banaschak, H. Bratzke, U. Cremer, G. Drese, Ch. Erfurt, W. Griebe, C. Lang, E. Lange, O. Peschel,
H.P. Philipp, K. Püschel, M. Risse, E. Tutsch-Bauer, R. Vock, A. Du Chesne:
Fehlleistungen bei der Leichenschau in der Bundesrepublik Deutschland.
Ergebnisse einer multizentrischen Studie (I und II) Arch.f.Krim, 199, 1-12 (1997)
Literatur:
- „Tote haben keine Lobby. Die Dunkelziffer der vertuschten Morde” von Sabine Rückert
- Das Kapitel „Rechtsmedizin in der Krise?” aus „Von den Maden zum Mörder” von Burkhard Madea
Kommentare (34)