“Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines andern zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht aus Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen.”
Das hat Kant 1784 gesagt. Damals ging es um die Aufklärung. Ich habe den Eindruck, eine neue Aufklärung wäre auch heute wieder angezeigt. Es ist ein stärker werdender Trend zu zahlreichen “New Age”-, esoterischen oder “schamanistischen” Annäherungsweisen an die Wirklichkeit festzustellen und immer weniger Zweifel, Skepsis und Neigung zur Überprüfung von Behauptungen. Wie wäre sonst der enorme Erfolg von Astrologie, Wahrsagerei, Kreationismus, Impfverweigerung, Homöopathie, Akkupunktur, Chiropraktik, Bach-Blüten, Osteopathie und sonstigem Jahrmarkts-Klimbim und Kurpfuschertum zu erklären? Ungläubig liest man, daß “die Wiener Lokalbahnen den “BE- (bioenergetischen) Fuelsaver” in 50 ihrer Busse eingebaut haben”! Und wie kann es möglich sein, daß sich unser höchstes Gericht damit zu befassen hatte, ob es eine Klage gegen die Inbetriebnahme einer experimentellen Apparatur der Teilchenphysik, den Large Hadron Collider, zulassen soll, weil diese den Weltuntergang hervorrufen könne oder daß allen Ernstes eine teure Expedition nach der Arche Noah sucht? Welch ein Wahnsinn ist allein der Gedanke daran, die Todesstrafe für HIV-positive Homosexuelle zu verhängen? Ist es zu fassen, daß ein Minister in Indonesien allen Ernstes behauptet, die jüngsten Naturkatastrophen in seinem Land seien der Immoralität der Menschen zuzuschreiben, ohne sofort wegen erwiesener Unzurechnungsfähigkeit aus dem Amt entlassen zu werden?
Ein katastrophales Beispiel dafür, was passieren kann, wenn ideologische, statt kritisch-evidenzbasierte Wissenschaft politisch gefördert oder sogar verordnet wird, findet sich im russischen Pseudo-Wissenschaftler Lyssenko. Dessen Zeit ist zwar schon lange vorbei, sein Exempel aber belegt, wie verheerend die Verquickung von mangelnder Skepsis gegenüber einer politisch angeordneten Ideologie und von linientreuer, also “ideologieunterworfener” Wissenschaft, die nicht mehr nur im Dienste der Evidenz steht, sein kann: durch die Anwendung von Lyssenkos völlig unwissenschaftlichen und falschen aber mit dem Marxismus verinbaren Theorien in der praktischen Landwirtschaft, kam es zu furchtbaren Hungersnöten in Russland (und auch China, das diesen Unsinn übernahm) und die russische Genetik wurde – eine katastrophale Ausdörrung geistigen Potentials – um Jahrzehnte zurückgeworfen und hat sich bis heute nicht davon erholt.
Ob so etwas heute noch passieren könnte, darf vermutlich bezweifelt werden, dennoch wäre der Boden des allgegenwärtigen Aberglaubens hierzulande kein gänzlich ungeeigneter, um solche Früchte zu tragen. All das ist aber nur möglich, so glaube ich, undank einer profunden und, wie ich finde, fatalen allgemeinen naturwissenschaftlichen Illiteralität, die die Bevölkerung in zunehmendem Maße außerstande setzt, die Naturwissenschaft und die durch sie geformte, begrenzte, erklärte und ermöglichte moderne Welt zu verstehen. In einer Zeit, in der fast kein Bereich des täglichen Lebens unberührt von naturwissenschaftlichen Errungenschaften ist und in der fast täglich über ethische Herausforderungen durch wissenschaftliche Errungenschaften diskutiert wird, ist diese Unbildung wahrhaft eine Form der Unmündigkeit. Wie soll man sich eine Meinung bilden und dieser z.B. in Form einer Wählerstimme Ausdruck verleihen, wie über Atomkraft, Embryonen- und Stammzellforschung, grüne Gentechnik, den Large Hadron Collider und schwarze Löcher, Fusionsenergie, Gendiagnostik oder Dioxin-Grenzwerte im Essen urteilen, wenn das alles nur bedeutungslose Worthülsen sind? Läuft man nicht Gefahr, den Schlagzeilen-Ausscheidern der Blätter mit den großen Buchstaben nach dem Munde zu reden? Es ist natürlich einfach und dem grassierenden Denk- und Abwägungsphlegma zuträglich, ein so kompliziertes, potentialreiches und wichtiges Thema wie z.B. genetisch modifizierte Nahrungsmittel mit “Wir wollen keine Gene im Essen!” abtun zu können, aber wer sich in die Materie einarbeitet, populärwissenschaftliche und auch für Laien verständliche Aufsätze liest und tatsächlich erst einmal, vielleicht sogar kritisch darüber nachdenkt, wird sich vermutlich bald einer differenzierteren und womöglich gar begründeten Meinung erfreuen.
Eine solche, jedoch, scheint heute gar nicht unbedingt als erstrebenswert zu gelten und viele scheinen sie von sich selbst gar nicht mehr als Grundlage für gewichtige Entscheidungen zu verlangen. Das führt dazu, daß man anfällig für Suggestionen der Art wird: “Wenn Du Meinung A vertrittst, mußt Du Dich für X entscheiden!” In Kombination mit der Tatsache, daß “Meinung A” häufig genug durch Meinungsmache implantiert, statt durch selbstständiges, kritisches Denken generiert wird, ergibt sich ein bedenklich hohes Maß an Steuerbarkeit. Unwissen aus Mangel an Bildung macht also manipulierbar. Keine ganz neue Erkenntnis, schon klar. Doch haben wir es hier tatsächlich, um einmal eine paranoide Idee zu prüfen, mit politisch gewollter Unbildung zu tun? Gibt es womöglich Bemühungen, die Bevölkerung gezielt dumm zu halten? Oder sind solche Bemühungen vielleicht gar nicht mehr nötig, weil dieser Prozess sich schon längst selbst katalysiert? Gibt es also einen Trend zur gewollten Unwissenheit? Und woher käme die für einen solchen Trend notwendige Wissenschaftsskepsis, die ja überhaupt erst als durchaus gangbare Alternive erscheinen lassen kann, sich jeder Bemühung, sich wissenschaftliche Bildung anzueignen, zu enthalten? Wie kommt es zu einer solchen Entfremdung?
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