Es wird Zeit, meinen diversen Ankündigungen zu genügen und über meinen „Liebling” zu sprechen, also meinen Forschungsgegenstand. Die Vorarbeit ist insofern geleistet, als ich Basics-Beiträge über DNA und Genexpression geschrieben habe, deren Lektüre ich für die Erleichterung des Verständnisses des folgenden Beitrags sehr empfehlen möchte.
In diesem Beitrag stelle ich (endlich) die Micro-RNA vor. Später einmal erzähle ich dann von der Anwendbarkeit der Micro-RNA-Analytik in der forensischen Genetik.
Micro-RNA (miRNA) besteht aus Ribonukleinsäure, ist also eine RNA, übt aber in der Zelle ganz andere Funktionen aus, als die drei „berühmten” RNA-Klassen, die viele noch aus der Schule kennen werden: die messenger-RNA (mRNA, s. Genexpression), die transfer-RNA (tRNA), die die Aminosäuren, die in ein naszierendes Protein eingebaut werden, zum Ribosom transportieren und die ribosomale RNA (rRNA), die, zusammen mit bestimmten Proteinen, die Bausubstanz für die Ribsomen bildet.
Im Gegensatz zur DNA ist die Entdeckung der miRNA noch recht jung. Erst 1993 fanden Lee et al. (s.u.) die erste miRNA im Fadenwurm C.elegans, wo sie eine Rolle in dessen Entwicklung spielt und hielten sie zunächst für eine wurmspezifische Schrulle. Erst als in immer mehr Organismen kleine, nicht codierende (= die Information für die Herstellung eines Genprodukts tragende) RNAs mit regulativer Funktion entdeckt wurden, ahnte man, daß es sich dabei wohl um ein umfassenderes Phänomen handelte und es dauerte noch bis 2001, daß sich die Bezeichnung „micro-RNA” durchsetzte, die von der sehr geringen Größe dieser Moleküle herrührt, die sich meist gerade einmal zwischen 18 und 24 Nukleotiden Länge bewegt (eine „normale” mRNA kann viele Tausend Nukleotide lang sein).
Vergleichsweise schnell allerdings, nämlich bereits 2006, wurde die Entdeckung der Funktionsweise der micro-RNA, die „RNA interference” (RNAi), aus dem Jahr 1998 durch Fire & Mello, verdientermaßen mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.
Aber was tut nun diese miRNA bzw. was ist so interessant daran?
Diese kleinen Moleküle spielen in allen Pflanzen- und Tierzellen, aber auch bei vielen Viren, eine bedeutende regulative Rolle bei allen wichtigen biologischen Prozessen. Wie zentral die Funktion der miRNAs ist, läßt sich daran ablesen, daß die miRNA-vermittelte Regulation universell in Tier- und Pflanzenzreich ist und daß die meisten miRNAs evolutiv hochgradig konserviert sind, d.h., ihre Sequenz, ihre Basenabfolge unterscheidet sich selbst bei nur sehr entfernt miteinander verwandten Spezies nicht oder kaum. Dennoch ist ihre Länge viel zu gering, um, wie es die mRNA tut, viel Information zu enthalten. Das braucht die miRNA für ihre regulativen Aufgaben aber auch nicht. Das Ziel einer miRNA ist immer eine mRNA: miRNAs sind in ihrer Basensequenz vollständig oder zu einem Teil komplementär zu einer mRNA und können sich an eine solche mRNA anlagern (wie das funktioniert, erkläre ich noch). Viele miRNAs können sich sogar an mehrere verschiedene mRNAs anlagern und, um es richtig kompliziert zu machen, an einer mRNA können sich wiederum meist gleich mehrere miRNAs anlagern. Diese molekulare Promiskuität führt dazu, daß z.B. beim Menschen, bei dem bislang über 900 verschiedene miRNAs entdeckt worden sind, die Expression von ca. 30-50% aller Gene durch miRNA mitreguliert wird!
Zur Herstellung/Biosynthese:
Die Biosynthese der miRNAs ist ziemlich kompliziert und es sind inzwischen sehr viele Details darüber bekannt. Ich begnüge mich hier mit einer vereinfachten Darstellung, die die wichtigsten Punkte des Prozesses zeigt (s. dazu die Abbildung):
miRNAs werden, wie alle RNAs, zunächst von der DNA transkribiert. Zuerst liegen mehrere primäre miRNAs (pri-miRNAs) in einem großen Transkript vor. Aus diesem werden noch im Kern von einem Enzymkomplex (Drosha) die einzelnen Vorläufer-miRNAs (pre-miRNAs) herausgeschnitten. Pre-miRNAs können dann vermittels des Transportproteins „Exportin” aus dem Kern ins Zytoplasma befördert werden. Dort werden sie von einem weiteren, anderen Enzym getrimmt (Dicer), wodurch die reife, noch doppelsträngige miRNA entsteht (miRNA duplex). Einer dieser beiden miRNA-Stränge wird nun in den „RISC” (RNA-induced silencing complex) genannten Enzym-Komplex eingesetzt. Dieser so mit einer miRNA geladene RISC kann an eine zur mitgeführten miRNA (teil)komplementäre mRNA binden und schließlich einen von zwei möglichen Effekten hervorbringen (s.u.).
Zur Funktion:
miRNAs regulieren die Genexpression, d.h. sie steuern, wieviel eines bestimmten Genproduktes, z.B. eines Enzyms oder Hormons, gebildet und in der Zelle wirksam wird. Sie beeinflussen zu diesem Zweck jedoch nicht die Transkription oder das Splicing (s. hier), sondern sie wirken posttranskriptional, also nach der Herstellung der Zwischenprodukte der Genexpression, den mRNAs, indem sie verhindern, daß reife mRNAs, die schon aus dem Zellkern ins Cytoplasma transportiert worden sind, an den Ribosomen als Vorlage für die Herstellung von Proteinen (Translation) und anderen Genprodukten dienen (in der Abbildung oben symbolisiert durch ” —-| “).
Dies erfolgt entweder durch die Spaltung, also die Zerstörung der zur ins RISC geladenen miRNA komplementären mRNA oder durch die Verhinderung bzw. Hemmung des Vorgangs der Proteinherstellung von der mRNA-Vorlage (die nicht zerstört wird) am Ribosom, die zu der ins RISC geladenen miRNA komplementär ist (am genauen Mechanismus hierfür wird noch aktiv geforscht). Welcher der beiden Effekte eintritt, hängt vom Ausmaß der Komplementarität zwischen miRNA und mRNA ab: bei vollständiger Komplementarität kommt es zur Spaltung der mRNA, bei partieller Komplementarität tritt lediglich die Translationshemmung ein.
Wenn wir bei der im Beitrag zur Genexpression eingeführten Restaurantanalogie für die Genexpression bleiben, müsste ich diese nun um spezielle Mitarbeiter für Rezeptverwaltung (miRNAs) erweitern. Diese Mitarbeiter arbeiten in der Küche (Zytoplasma), nicht in der Bibliothek (Zellkern), fahren dort auf Segways (RISC) herum und kontrollieren nach einem sehr komplizierten System (manchmal müssen zwei oder mehr dieser Mitarbeiter zusammenkommen und sich einig werden), welche und wieviele Kopien bestimmter Rezepte in Umlauf sind und ziehen ggf. einige oder alle davon ein und zerreissen sie oder überzeugen irgendwie die Köche, bestimmte Rezepte nicht umzusetzen, damit in der Küche immer genau die richtige Anzahl von Gerichten (Genprodukte) gekocht (translatiert) wird.
Man darf sich die Funktion der miRNAs also nicht wie einen stupiden 0/1-Schalter vorstellen, der nur die Zustände “Genprodukt X wird hergestellt” (1) und “Genprodukt X wird überhaupt nicht hergestellt”(0) zulässt. MiRNAs funktionieren eher wie ein fast stufenloser Schiebewiderstand, wie ein Dimmer: sie ermöglichen wahrhaftig ein exaktes Feintuning der Proteindosis.
Die Abbildung zeigt grobschematisch ein Beispiel für eine Abhängigkeit der “Dosis” also der Menge eines Proteins von der Menge der für die Expressionsregulation dieses Proteins “verantwortlichen” miRNA. Man sieht, daß, solange sich die Menge M der miRNA im Bereich x < M < y bewegt, eine für die Zelle optimale Proteindosis gewährleistet ist. Und man kann auch nachvollziehen, daß eine Falschregulation dieser miRNA (denn natürlich werden auch miRNAs reguliert) eine Fehldosierung (zu viel oder zu wenig) des von ihr gesteuerten Proteins zur Folge hätte. Das Vorkommen solcher miRNA-Falschregulationen hat man inzwischen auch schon bei diversen Krankheiten, z.B. Krebs, nachgewiesen und einige miRNAs stehen offenbar sogar direkt mit der Entstehung bestimmter Krebsarten in Zusammenhang. Die zellulären Einrichtungen der RNAi lassen sich aber auch zum Guten, nämlich für therapeutische Zwecke nutzen, denn man kann kleine, sogenannte siRNAs, die ganz ähnlich aussehen und funktionieren wie miRNAs, künstlich herstellen und von außen in Zellen einschleusen, wo sie dann, ganz analog zur Funktionsweise der miRNAs, einen erwünschten Effekt, z.B. die Herunterregulation eines schädlichen Proteins, bewirken können.
MiRNAs präsentieren sich uns also als eine relativ neu entdeckte Klasse subtiler Steuerungsmoleküle, die in fast allen Lebewesen eine wichtige Rolle spielen und
der ohnehin schon spannenden und schwer zu durchschauenden Regulation der Genexpression eine neue Dimension mit zuvor ungeahnter zusätzlicher Plastizität und Variabilität hinzufügen.
Man muß sie einfach liebhaben 🙂
Nachtrag:
Wer sich einen Überblick über die bereits entdeckten miRNAs und, sofern bekannt, deren Funktion machen möchte, kann das hier tun.
Nachtrag am 5.2.16:
Katharina Petsche hat im Rahmen ihrer Diplomarbeit eine 3D-Animation der miRNA-Entstehung und -Funktion hergestellt, die mir ganz gut gefallen hat. Hier ist sie:
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Literatur
- R.C.Lee, R.L.Feinbaum, and V.Ambros, The C. elegans heterochronic gene lin-4 encodes small RNAs with antisense complementarity to lin-14. Cell 75 (1993) 843-854.
- A.Fire, S.Xu, M.K.Montgomery, S.A.Kostas, S.E.Driver, and C.C.Mello, Potent and specific genetic interference by double-stranded RNA in Caenorhabditis elegans. Nature 391 (1998) 806-811.
- S.Griffiths-Jones, The microRNA Registry. Nucleic Acids Res. 32 (2004) D109-D111.
- D.P.Bartel and C.Z.Chen, Micromanagers of gene expression: the potentially widespread influence of metazoan microRNAs. Nat.Rev.Genet. 5 (2004) 396-400.
- H.Guo, N.T.Ingolia, J.S.Weissman, and D.P.Bartel, Mammalian microRNAs predominantly act to decrease target mRNA levels. Nature 466 (2010) 835-840.
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